Eine Reise ins Grauen - S. Wehrlos

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EINE REISE INS GRAUEN - S. WEHRLOS

Thema gestartet
von bujerl
am 11.12.2023 - 22:16 Uhr
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bujerl  S. Wehrlos.
(Eine Brutalrealistische Prosa über einen Genozidkrieg von Heute, die eigentlich in meinen Gedicht- und Prosaband "Bilder im Kopf. ´s ist Krieg. Eine Reise ins Grauen." gehört hätte.
Verlag ProMente Linz, 1999. Wurde jedoch nicht genehmigt, weil sich womöglich gewisse Männer bei dieser Geschichte Einen herunter holen könnten. Eine irre geile Argumentantion.

Frei nach dem Roman "Als gäbe es mich nicht" von Slavenka Drakulic, Aufbau-Verlag.
Originaltitel: "Kao da me nema" - Aus dem Kroatischen übersetzt von Astrid Philippsen)

"Ein Mensch überlebt durch seine Fähigkeit zu vergessen." Warlam Schalamow, Geschichten von der Kolyma.

S. Wehrlos.
(Ein Gedicht- und Prosa-Bastard, frei nach einem Roman, den ein anderer Verlag sich zu veröffentlichen traute.)

Die Serben kommen am Morgen über ein wehrloses, schlafendes Dorf. Soldaten in Tarnanzügen, weiß wie der Schnee, ziehen einen engen Ring um die Häuser. Die Rohre der Panzer, sie blicken bedrohlich. Aus manchem Gewehr verdröhnt ein Schuss. Das Dorf war schon lange zuvor erwacht vom Brummen der Motoren.

Die Erde erbebte, die Mauern zerwackeln, die Fenster verklirren. Und die Menschen? - Die Menschen erzittern, und erst recht die Kinder? - Die Kinder, sie weinen, so leise und still. Dann bersten die Türen unter den Stiefeln. Die Freischärler dringen ins Haus. Die Kalaschnikows zersägen mit ihrem Blei die Böden, die Wände und Decken. Die Seelen verzittern. Bäuche erbrechen, Gedärme verstinken, und Hoden verrinnen. Die Herzen verpulsen, Gedanken verrasen und Augen verglasen an Hämmern und Messern. Ein wogendes Meer der Angst steht wie düsterer Frühlingsmorgennebel über dem vom Bösen befallenen Tal.

Gewehrkolben zersplittern Köpfe. Die Schenkel der Weiber gespreizt. Kindsleiber zerbersten an Schlägern, die sonst einen Baseball weit dreschen. Alle wehrlosen Männer zwischen zwölf und fünfundsechzig, über zweihundertundvierzig an der Zahl, werden zusammen und unter Stößen und Schlägen fort getrieben. Irgendwann dann hört man auf ein Mal Schüsse. Diese wehrlosen Jungen und Männer hat nie wieder ein Jemand gesehen.

Die wehrlosen Frauen und die wehrlosen Kinder werden in einen wehrlosen Bus gepfercht. Die Fahrt geht über eine schmale, kurvige Straße über so wehrlose Berge in Richtung zur Grenze. Als der Bus in einem wehrlosen Waldstück hält, kurz zum Pinkeln, läuft keine dieser Wehrlosen davon, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre. Doch die Furcht sitzt tief in den wehrlosen Beinen, jeder einzelne Schritt wird zur Qual. Gehirne vermalen wehrlos Gedanken, die sich um die erschossenen Männer, die Brüder, die Freunde, die Verwandten, die Bekannten, die Noch-Kinder verquälen.

In einer großen Lagerhalle einer wehrlosen Fabrik jenseits der Grenze werden die wehrlosen Frauen und die wehrlosen Kinder untergebracht. Sie schlafen auf dem nackten Betonboden, in den ersten Tagen ganz ohne Decken. Ende März, Anfang April. Draußen liegt Schnee, es ist bitter kalt. Es wird gestritten um den einzigen tropfenden Wasserhahn, trockenes Brot, etwas Salami. Auf ein Mal geht es Allen nur noch ums eigene Überleben. Eine Erfahrung, die keine der Frauen, die keines der Kinder versteht.

Und dann kommen die ersten wehrlosen Geschichten. Es werden Geschichten erzählt: vom FRAUENRAUM. Furchtbare, so grausame, so Angst machende Geschichten. Und diese Geschichten werden immer mehr und mehr. Und manche der wehrlosen Frauen, und manches der wehrlosen Mädchen ward niemals wieder gesehen.

S. hält Distanz. Nichts hören. Nichts glauben. Nichts sehen. Nichts sagen. Und schon gar nicht was denken. Nur nicht seine Integrität, seine Würde verlieren. Letzte Erinnerungen an eine frühere, menschlichere Welt. S. versucht zu helfen. Sie verbindet die Wunden der wehrlosen Leiber an Händen und Füßen, an Brüsten und Scham der wehrlosen Weiber. Sie legt ihre kühlen und doch so wehrlosen Hände auf durchdrehende wehrlose Köpfe, die wehrlos an ihrer Wehrlosigkeit erkranken.

S. sieht nicht hin, wenn "Soldaten" die wehrlosen Mädchen und die wehrlosen Frauen holen. S. sieht zwar, doch sie will gar Nichts von wissen. Es ist S., als gäbe es S. nicht. S. ist ab nun: S. Wehrlos, ein völlig anderes und so wehrloses Wesen.

S. Wehrlos stellt sich vor, wie sie sich wehren wird, wenn sie an der Reihe ist. Lieber sterben, als......

Doch als dann tatsächlich einer auf S. Wehrlos zeigt, steht S. Wehrlos auf und geht still, schweigend und wehrlos hinterher. Alle Gedanken vergessend. Es heißt: Ab zum Verhör. Man führt sie zum Verwaltungsgebäude. Ihre Knie sind so weich und so matschig, wie draußen der Frühlingsschnee auf den wehrlosen Feldern.

Ein Mausauge, gefährlich blinkend, zieht seinen Gurt aus der Hose. Er lacht hämisch und befiehlt ihr sofort, sich zu entkleiden. Doch ihre Hände zittern so sehr, dass sie die Knöpfe der wehrlosen Bluse nicht findet. Da ziehen auch die anderen die Gürtel aus der Hose und schnalzen damit mannhaft auf einen wehrlosen Tisch. S. Wehrlos versucht sich zu beeilen. Doch kein Gefühl in den Fingern, die Arme sind schwerer als Blei. Es dauert zu lange. Da reißt ihr ein Ganzer Serbenmann die wehrlose Bluse in Fetzen vom Leib. Ein Gürtel verschnalzt schneidend auf ihrem nackten Rücken. Ihr wehrloser Schrei zerhallt an der Wand. Dann eilen die anderen zwei dem Monster Mausauge zu Hilfe. S. Wehrlos liegt in der Luft, wehrlos, während die Jean sich über die Knie, die Füße befreit. Ihr wehrloses Höschen zerreißt schmerzhaft nach oben gezogen durch das empfindliche Gespalt ihrer Beine. Dann fliegt sie von Einem zum Andern. Brutal verkreischen die Brüste an so harten Händen und Fäuste treffen verschwellend im blutigen Blau ein wehrlos Gesicht.

S. Wehrlos steht dann im Raum. Ein wehrloses Wild umstellt von den Jägern. Gierige Blicke vergleiten auf ihren Brüsten, den Hüften, der Scham. Die Blicke kriechen hin über ihren so unheimlich wehrlosen Körper. Sie spürt es. Sie sind feucht, schleimig, heiß, wie glühende Kohlen. Wehrloses Blut schießt verlavernd in ihre noch jungfräulichen, so schönen muslimischen Titten. Die Augen der Tiere verweiden sich am angstvollen Steif der wehrlosen Warzen. Die Augen, diese Augen, sie kann ihnen nicht entkommen. Diese Augen der Jäger hängen noch heute in ihren Träumen so wehrlos und schwer über ihr. Ihr Herz schlägt lauter als laut und übertönt all ihre anderen Gedanken. Zigarettenrauch verbläst sich so brennend in ihren wehrlosen Augen. Erste Tränen verdecken ihr jede Sicht. Und dann fallen die wilden Tiere ganz wild, so wilder als wild über sie her.

S. Wehrlos wird von drei wilden Tieren auf einen Tisch geworfen. Ihre Hände bindet man mit einem Gurt nach hinten lang über den Kopf. Zwei wilde Tiere halten ihre wehrlosen Beine. Das Dritte dringt tief in sie ein. Schmerzen zerfetzen ein Gefühle, ein einziges Nein verschreit einen Wahn. Im Herzen, im Bauch, im Kopf ein Gewühle, ein Seelenvernarren, ein Wahnsinn bricht an, und weit und breit kein Mann in der Nähe, der aufhorcht und hört ihren Schrillschrei um Hilfe, als tief versinkt im wehrlosen Brustfleisch so scharfes Weh von Zahn an Zahn. Danach spürt sie nichts mehr, außer einem Stoßen, von dem sich der Tisch so Ruck um Ruck übers Linoleum verquietschend immer weiter Richtung Fenster schiebt.

Irgendwann betreten weitere wilde Tiere den Raum. Ein endloses Geschiebe. Irgendwann verfällt sie in Apathie. Sie wendet den Kopf wehrlos zur wehrlosen Wand. Dort beobachtet S. Wehrlos eine wehrlose Fliege mit grünem Hinterleib, die nach einem langen Winter noch ganz benommen, fast wehrlos die Wand in einem Sonnenstrahl auf- und abläuft, um Wärme suchend und angetrieben von einem neuen Leben.

Irgendwann sieht S. Wehrlos ihre in die Luft gestreckten wehrlosen Beine, dazwischen einen Männerkopf. Sie sagt sich: "Dies sind meine Beine." Doch S. Wehrlos fühlt sie nicht. S. Wehrlos denkt: "Es ist, als gäbe es mich nicht. Als wäre ich gar nicht vorhanden. Als gäbe es mich nicht mehr. Mein altes Leben ist gestorben. Wilde Tiere haben mein ganzes Gestern ermordet."

Sie spürt nur den harten Tisch unter ihrem Rücken, der sich noch immer zum Fenster hin schiebt und schiebt und schiebt und dabei so schrill und so wehrlos quietscht. Nein, nicht "noch immer". Schon wieder. Die wilden Tiere stellen den Tisch immer und immer wieder ans andere Ende des Zimmers. Und sie schieben und schieben ihn um die Wette und lachen dabei ein Lachen, das zu kommen scheint aus den Tiefen der Menschheit Hölle, einer Menschheit, die dagegen wehrlos ist.

Durch das Fenster kann S. Wehrlos den Hof und die Köpfe mehrerer Wachtposten sehen. Der Tag ist schön und sonnig. Ein schöner Frühlingssonnennachmittag. Die warme Sonne fällt durch das geöffnete Fenster warm über sie her. Doch sie zittert. So kalt. So furchtbar, furchtbar kalt. Und sie fühlt einen Berg von Eis zwischen ihren Beinen. Und das Zimmer ist erfüllt vom Stöhnen. Sie weiß nicht mehr, ob ihres oder das dieser wilden Tiere. Stöhnen, nur Stöhnen, so wehrloses Stöhnen und Qietschen erfüllt ihren Raum. Und Fluchen, ja, sie verfluchen ihre Mutter, ihren Vater. Ihr ganzes wehrloses Volk wird verflucht.

Einer versucht sich ihr auf immer und ewig "einzuprägen". Er dreht brutal ihr Gesicht zu sich hin und brüllt: "Du wirst an mich denken, du Hure." An sein Gesicht kann sie sich aber nicht mehr erinnern, nur dass er stank. Er stank nach Krieg, nach Soldat, nach ungewaschener Uniform, nach Feld, nach Alkohol. Wie halt so ein Serbenmann stinkt, im Krieg.

Den Gestank, diesen urinigen Moder kann sie auch heute noch riechen. Er ist immer und überall. Er kommt im Supermarkt auf sie zu und begrüßt sie. Er schaut ihr im Kino ins Gesicht. Er greift ihr nachts, wenn sie nicht schlafen kann, geil zwischen die Beine. Ja, es ist noch immer so: Als gäbe es sie nicht.

Irgendwann dann wird S. Wehrlos bewusstlos.

Sie liegt auf dem Boden. Ein Stiefel steht schwer auf ihrer Brust. Die Brüste, auf ein Mal, sie fühlt es, die Brüste, sie schmerzen. Erinnerung wallt auf, ja, sie sieht die Glut der Zigaretten, immer und immer wieder, sie verwandeln die Brüste in ein zackiges Feld von stinkender Lava. Irgendwann dann enden die Schmerzen.

"Mund auf!", schreit der Stiefel. Der Stiefel presst schwer ihre Brust. Der Schmerz treibt ihr die Luft aus der Lunge. "Mund auf!", befiehlt erneut dieser Stiefel. Er steht, die Beine gespreizt mit offener Hosentür über ihr. Tritte eines anderen Stiefels prasseln erneut ohne allzu großen Schmerz. Ein Stiefel versinkt tief zwischen ihren Beinen. Auch diesen Schmerz spürt S. Wehrlos nicht sehr. Doch S. Wehrlos öffnet nun wehrlos den Mund. Harn spritzt in langem Strahl. "Trink!", befiehlt der Stiefel. "Ich werde dir Gehorsam beibringen, du muslimische Hur!"

S. Wehrlos versucht zu trinken. Der Urin ist warm und schmeckt salzig. Sie muss erbrechen. S. Wehrlos hustet und erbricht über den Stiefel. Der Stiefel flucht und tritt ihr hart ins Gesicht. Nun trinkt sie gehorsam, wie ein wehrloses Kind. Auch die anderen Stiefel lassen ihr Wasser. S. Wehrlos trinkt und trinkt. Wieder prallen Schläge, Schläge mit der flachen Hand. Die Schläge sind hart. Ihr Kopf pendelt von einer Seite zur anderen, doch es tut gar nicht mehr weh. Ihr ist völlig egal, was sie mit ihr machen. S. Wehrlos ist S. Wehrlos.

S. Wehrlos will überleben, nur überleben. Und dies ist nur möglich, wenn S. Wehrlos sich abspaltet, abspaltet von ihrem wehrlosen Körper. Es ist gut so, so als gäbe es sie nicht. S. Wehrlos wird wieder geschlagen, weil sie sich nicht bewegt. Sie soll sich bewegen, wie eine Hure, sagen die Tiere, nein, sie befehlen es ihr. Dann wird S. Wehrlos wieder bewusstlos.
Schläge prasseln wieder ohne allzu großen Schmerz. Diese wehrlose Welt ist so fern und doch so nah. Und wieder wird S. Wehrlos bewusstlos.

S. Wehrlos wacht auf: im FRAUENRAUM. Viele wehrlose Frauen werden mit ihr dort gefangen gehalten. In jeder wehrlosen Nacht kommen neue "Soldaten". Die Betrunkenen und die Ganzen Männer sind die Allerschlimmsten. Manch Wehrlose kommt nicht mehr zurück. Der wehrlose Körper von S. Wehrlos wird zu einem fremden, wehrlosen Gegenstand. Der wehrlose Körper riecht nach dieser Ganzen Männer Schweiß, nach Sperma, Speichel und Urin. S. Wehrlos wäscht sich ständig mit wehrlosem Wasser und wehrloser Seife. Doch ein so fremder, wehrloser Körper stinkt und stinkt.

Eines Tages beginnt S. Wehrlos sich zu schminken. Annehmen einer neuen, falschen Identität. Tausch - Wehrlosigkeit gegen Wehrlosigkeit. Wer verführt, wird nicht vergewaltigt. Neue Logik ihres Selbstbetrugs. Eine Logik der Wehrlosigkeit, die sogar funktioniert.

S. Wehrlos ist die einzige Universitätsabsolventin im Frauenraum. Der Lagerkommandant braucht eine wehrlose Geliebte. Sie reden, sie essen, sie schmusen. Er schläft mit S. Wehrlos. Mit der Zeit übernachtet S. Wehrlos in seinem Bett. Normalität kehrt ein. Sie schauen gemeinsam fern, sind wie eine kleine Familie. Sie reden nicht über seine "Arbeit". Sie philosophieren über die Welt. Doch der Krieg bleibt dabei draußen. Es ist, als gäbe es ihn nicht.

S. Wehrlos könnte ihn nachts, wenn er schläft, in seiner Wehrlosigkeit, erschießen. Die Pistole hängt in einem Halfter über dem Bett. Aber S. Wehrlos tut es nicht, denn dies würde ihren Tod bedeuten. Wohin könnte sie schon fliehen? Und: Sind sie nicht ein wehrloses Liebespaar eines Kriegs? Wehrlos ausgeliefert an eine wehrlose Welt? Doch vor allem wohl: S. Wehrlos ist gar nicht wehrlos. Denn S. Wehrlos ist ein MENSCH.

Der wehrlose Sommer vergeht, der Herbst zieht wehrlos ins Land und dann kommt ein eiskalter Winter so wehrlos daher. Weihnacht steht auf einmal ganz wehrlos vor der Tür. Bei einem Gefangenenaustausch wird auch S. Wehrlos "ausgetauscht", so als gäbe es sie nicht. In einem Auffanglager hinter der bosnischen Grenze fällt sie am zweiten Tag wehrlos in Ohnmacht. Ihr war schon den ganzen Tag so schlecht. Im Lazarett sagt ihr eine Ärztin: "Sie sind schwanger! Im fünften Monat." S. Wehrlos meint wehrlos: "Das gäbe es nicht!" Sie hat es nicht gewusst. Nein, im fünften Monat! Nein. Nein. Nein. Das kann nicht sein. S. Wehrlos weint und denkt wehrlos: Alles ist, als gäbe es mich nicht.

Und der Rest der Welt, dieser so wehrlos weg blickende Rest der Welt, dreht sich einfach weiter, ganz so, als gäbe es S. Wehrlos tatsächlich nicht. Der Rest der Welt ist gar nicht wehrlos. Der Rest der Welt weiß, was er will: Nur Nichts wissen von diesen S. Wehrlos und deren so wehrloser Welt.

© Copyright by Lothar Krist (August 1999)
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