VERLIEBEN
Die letzten Lichter der Stadt dort vor dem Fenster sind fast erloschen, immer spärlicher werden die Häuser, deren Anwesenheit man nur erahnen kann. Manche sind noch erhellt von Straßenlaternen, die ihr orangefarbenes Licht energisch der Dunkelheit entgegenstrecken. Sie sehen traurig aus, lassen die Köpfe hängen, als würde die Last der Nacht auf ihnen liegen und sie zu Boden biegen. Das was sie aus der Schwärze reißen, leuchtet nicht mehr von selbst, kaum noch ein Fenster ist erhellt, nur sehr selten kann man erahnen, das dort noch jemand wach ist,
lebt und der Nacht trotzt. Friedlich verschwimmen die Konturen ineinander, je schneller der Zug fährt. Lichter wechseln sich mit undurchdringlicher Dunkelheit, immer unregelmäßiger, immer schwächer, bis sie ganz erlöschen, bis es nichts mehr gibt, was es zu erhellen lohnt.
Eine Vierer-Sitzgruppe wird im Abteil von einem Pärchen beherrscht. Sie nehmen Platz ein, doppelt so viel wie ihnen eigentlich zusteht, und wenn es ginge, hätten sie am liebsten wohl diesen Teil des Zuges für sich allein. Vor ihnen liegt noch ein langer Weg, ein ganzes Dutzend Haltestellen müssen
sie an sich vorüber ziehen lasen, bevor sie ihren Zielbahnhof erreicht haben. Er, ein schlaksiger, etwas unaufgeräumter Strubbelkopf, die knielangen Hosen leicht verschlissen, den Bart vernachlässigt, ob aus purer Absicht, oder einfach, weil es nicht wichtig ist. Sie, elegant gekleidet mit einem luftigen, sonnengelben Sommerkleid, aber im Inneren nicht weniger unaufgeräumt wie der Mann, an dem sie sich nun im Schlafe fest klammert, auf dessen Brust ihr Kopf ruht.
Auch für die beiden war es ein langer Tag, der Gestrige. Begonnen hat er mit einem ausgedehntem Frühstück auf der
kleinen Sitzbank ihres Balkons. Noch etwas Kühle hing in der Luft, die Sonne wachte selbst schon lang nicht mehr so zeitig auf wie noch vor ein paar Wochen, und hatte immer mehr Mühe, aus dem angebrochene Tag einen sommerlichen zu kreieren. Nat King Cole erfüllte die Morgenluft aus dem Inneren der kleinen Wohnung heraus mit Magie, indem er unvergessliche Momente besang, und diesen gleich mit einreihte, ihn ebenso unvergesslich machte. Wie gesagt, es war noch kühl, um ihre Schulter hatte die junge Frau daher seinen Pullover gelegt, oder besser, er hatte sie damit bedeckt, saß leicht fröstelnd neben ihr und freute sich
über seine heroische Tat, ohne es sich anmerken zu lassen. Ihr erster, gemeinsamer Urlaubstag ihres ersten, gemeinsamen Urlaubs. Das bedurfte einfach eines Balkon-Frühstücks, ohne Frage.
Später konnte man sie durch die Stadt laufen sehen, fest aneinander geklammert, als ob nichts sie trennen könnte. Sie redeten, schwelgten in Träumen, malten bunte Bilder in den Wind, voll von Zukunftsphantasien. Ein Spätsommertag nur für sie, die Stadt ihr Spielplatz, kein Plan, kein Ziel. Sie durchstreiften Gassen, blieben an Schaufenstern stehen, fielen hungrig bei
einem kleinen Italiener ein, der unverschämt gute Teigwaren mit unglaublich viel Belag kredenzte, und verkrochen sich zum Mittagsschlaf im Park. Der schattenspendende Baum, der ihr Dach für die nächsten Stunden sein sollte, zeigte schon die ersten Anzeichen von Verfärbung, hier und da konnte man ein gelbes Blatt sehen, oder eines, das sich gerade im Sterben befand. Als der Park sich immer mehr zu füllen begann, brachen sie wieder auf, getrieben von einer unsichtbaren Kraft, ausgeschlafen und unendlich nah.
Würde man sie jetzt, hier in dem Abteil fragen, wohin sie ihr Weg in der zweiten
Tageshälfte führte, welche Straßen sie passierten, wo sie zu Abend aßen, sie würden uns nur stirnrunzelnd anschauen. Zumindest gelangten sie, wie von Geisterhand geführt, irgendwann wieder zum Bahnhof zurück, nur wenige Minuten bevor der letzte Zug des Tages seine eigene Reise beginnen sollte. Erst hier brach die Erschöpfung über sie herein. Wie eine riesige Hand, die sie zu Boden drückte.
Sie waren meilenweit gelaufen, ohne es zu merken, nun fiel alle Restenergie von ihnen ab, sobald sie in die Sitze gesunken waren. Er, der Schlaksige, dessen leuchtend grünes Shirt
hiroglyphenartige Verzierungen darbot, immer noch der Held vom Vortag, immer noch bis über beide Ohren verliebt in die junge, schlafende Frau, deren Haar er nun sanft streichelte, während er selbst immer tiefer in den Schlaf sank. Er kannte sie nun schon ein halbes Jahrzehnt, verlor sie immer wieder aus den Augen, aber wie verbunden durch ein riesiges, unsichtbares Gummiband, fanden sie früher oder später immer wieder zusammen. Nur dass es dieses Mal anders war, neu und unbeschreiblich.
Nun liegt sie schlafend auf seiner Brust, er spürt wie sie langsam und ruhig ein-
und ausatmet, wie mit jedem Luftholen die Welt um sie herum mehr verschwimmt und die Zeit ihre eigenen Regeln zu schreiben beginnt. Wie so vieles in diesen Tagen spielt auch das keine Rolle, ihr Ziel ist auch das Ziel dieses Zuges, die Endstation. Weiter wird es für das Stahlross nicht gehen, dort hören die Schienen und die Möglichkeiten auf, von dort an geht es nur wieder zurück. Das Pärchen hingegen hat das Wort "zurück" aus ihrem Wortschatz vorübergehend verbannt, sie hatten an dem Tage tausende Wege begangen, und noch Abertausende liegen vor ihnen, viele davon Sackgassen, Einbahnstraßen.
Einige aber, die es zu finden gilt, reichen über den Horizont hinaus.