wIEDERSEHEN IN bERLIN
Wenn die Liebe nicht wär ...
Als er abends im Bett liegt, vor dem Einschlafen, da wandern seine Gedanken wieder ein Mal zurück in jenes verrückte Jahr, als alles begann. Tränen der Rührung steigen ihm in die Augen, ein zärtliches Lächeln stiehlt sich um seinen Mund. Dann sieht er sie wieder vor sich: eine junge Frau, zierlich und klein, hübsch, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Zuerst nur verstohlene Blicke, ein freundliches Nicken zum Gruß. Doch bald begegnen sie sich öfter im großen Kurpark: beim
täglichen Kurkonzert, bei Spaziergängen oder im Cafe. Eines Tages, es regnet plötzlich wie aus Gießkannen, nimmt sie ihn beim Spaziergang unter ihren Schirm. Dann sitzen sie in dem gemütlichen Cafe und kommen ins Gespräch. Er erzählt ihr von seiner Familie, dass er die älteste Tochter schon begraben musste. Sie starb an Tbc, deshalb ist er nun hier. Der Sohn macht ihm viel Freude, das Nesthäkchen leidet noch sehr unter dem Verlust der großen Schwester. Ob seine Frau mit der Krankenpflege überfordert war? Er weiß es einfach nicht. Es wurde auch nie darüber gesprochen. Die junge Frau berichtet nur, dass sie Beamtin ist und
mit einer Freundin in Berlin eine große Wohnung teilt.
Dann sehen sie sich plötzlich in die Augen, ihre Hände suchen einander, Halt suchend der eine, tröstend die andere. Dann verschlingen sich ihre Finger in einander, Sehnsüchte weckend, Zärtlichkeit versprechend, Geborgenheit und Harmonie verheißend …
Es wird eine heiße Sommernacht … Sie treffen sich noch einige Male, unternehmen gemeinsam etwas und beim Abschied versprechen sie sich, in engem Kontakt zu bleiben, wenigstens brieflich.
Schmerzliche Züge graben sich jetzt in das Gesicht des alten Mannes, als er an
die Jahre der Trennung von seinem geliebten Wesen denkt. Er weiß, er hat seine Familie, seine Frau hintergangen. Er hat sie mehr als zwanzig Jahre betrogen. Ob sie etwas geahnt oder gewusst hat? Ganz offen hat er Briefe an seine Geliebte geschrieben, an eine Familie im fernen Berlin, die er angeblich bei der Kur kennen gelernt hat. Ob ihn dieser Betrug reut? Er weiß es nicht mehr. Die Zeit hat allzu bereitwillig den Mantel des Vergessens darüber ausgebreitet. Als die Mutter seiner Kinder stirbt, ist er gerade Großvater geworden. Das Kriegsende steht kurz bevor. Dann wird Berlin geteilt. Das Schicksal meint es gut mit
ihm und seiner Geliebten. Sie lebt jetzt im Westen der großen Stadt.
In der Erinnerung rinnen ihm fast Freudentränen über die Wangen. Dankbar gedenkt er der vielen Liebesbriefe, die hin und her gingen, voll Zärtlichkeit und Innigkeit. Und der regelmäßigen Besuche in Berlin, die nun ohne schlechtes Gewissen möglich waren. Oder der gemeinsam verbrachten Zeiten in Bayern.
Dann leuchten seine Augen förmlich wieder auf. Die Wiedersehensfreude steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er hat alles richtig gemacht: er ist bei seiner Ehefrau geblieben bis zu ihrem Tod, er hat seine Tochter unterstützt, als
sie mit ihrem Kind allein da stand, während ihr Mann in russischer Kriegsgefangenschaft weilte, und er hat seine Geliebte niemals aus seinem Herzen vertrieben. Große Zärtlichkeit breitet sich nun in seinem Körper aus, erfasst auch noch die letzte Zelle und mit einem glücklichen Seufzen auf den Lippen schaut er hinüber zu der alten Uhr.
Er ist nun 79 Jahre alt und lebt bei seiner jüngsten Tochter mit Mann und Enkelin. Die Kleine ist ihm ans Herz gewachsen, das ist wahr. Aber was hilft es schon. Den Jungen ist er im Weg. Er spürt es genau. Die Wohnung – 48 Quadratmeter klein – und ein Zimmer für
ihn allein. Der Plan ist schon alt, lange gereift. Aber jetzt, jetzt ist es soweit. Endlich schläft er mit einem glücklichen Lächeln ein.
Am Morgen, in der Küchentür stehend, sagt er zu seiner Tochter: „ Ich heirate wieder und ziehe nach Berlin!“