Kapitel 4
Eine weitere Frühschicht stand bevor. Beim Betreten des Eingangsbereichs empfingen Nils die üblichen Düfte aus Chemikalien und dem, was Locke menschliche Fäule nannte. Er streifte die Regenjacke aus düsteren Gedanken ab und legte stattdessen sein dickes Fell an. Ja, es war Routine, es war wirklich eine Art Professionalität, wenn man so wollte. Locke hatte bereits mit seiner Schicht begonnen, als Nils seinen Putzwagen aus dem kleinen, verkramten Abstellraum holte. Wahrscheinlich hatte ihn seine Alte aus dem Haus getrieben, dachte er. Locke war wahrscheinlich
froh, wenn er das Haus verlassen und die Tür hinter sich zuschmeißen konnte. Nils verstand es nicht. Wenn man so etwas sah, fragte man sich unweigerlich, weshalb die Leute überhaupt heirateten. Schwachsinn, das alles.
Als er beim Saubermachen an Herrn Lehmanns Zimmer vorbeikam, fiel ihm ein, dass er trotz aller morgendlicher Müdigkeit ja tatsächlich das Damebrett eingepackt hatte. Er würde es dem alten Knacker geben, wenn niemand in der Nähe war. Vielleicht würde es diesem egal sein, aber eventuell freute er sich ja wirklich. Jemandem eine kleine Freude zu machen, so etwas konnte die eklige Arbeit hier ein gutes Stück erträglicher
machen. Zumindest dann, wenn man es richtig anstellte, und nicht so wie der wunderliche Günter, der nach seiner Gebisswaschaktion die Beißerchen still und leise wieder verteilt hatte, als hätte er ein Wichteln mit den Kauleisten organisiert.
Vorsichtig öffnete Nils die Zimmertür. Das Anklopfen konnte man hier vergessen. Wenn der alte Lehmann einem nicht gerade seine Aufmerksamkeit schenkte, war er taub wie ein Türpfosten. Das war nichts Ungewöhnliches. Die meisten alten Leute waren so schwerhörig, dass sie nicht reagierten, wenn Nils anklopfte. Wollte er sich nicht die Beine in den Bauch
stehen, musste er eben einfach reinkommen. Und wenn einer von den Alten doch mal auf vorherige Ankündigung bestand, dann merkte Nils sich denjenigen und klopfte eben beim nächsten Mal so laut, als würde er die Tür einschlagen wollen. War ja auch verständlich: Ein bisschen Privatsphäre sollte jedem hier vergönnt sein, was auch im Eigeninteresse des Personals war. Denn schlimmer als der Anblick eines Hundertjährigen, der ins Bett gemacht hatte, war nur der Anblick eines Hundertjährigen, der sich einen von der Palme wedelte oder Ähnliches. Zugegeben, das war Nils bisher nicht untergekommen, aber man hörte ja so
Einiges.
Das Zimmer war leer und aufgeräumt. Was Nils zuerst auffiel, war, dass auf der Ablage unterm Spiegel keine Waschsachen mehr lagen.
»Hier brauchen Sie nicht zu wischen. Da ist die Nachtschicht schon durch«, sagte jemand mit sanfter Stimme vom Flur her. Nils drehte sich um und sah eine Schwester, die einen kleinen Wagen mit Tabletten und sonstiger Medizin vor sich herschob.
»Ist er ...?«, fragte Nils vorsichtig.
Die Schwester nickte. »Heute Nacht gegen drei Uhr. Ganz still ist er dahingegangen.«
Nils nickte und fragte nicht weiter
nach. Drei Uhr. Ob die Kerze wohl noch brannte, die man für den verstorbenen Lehmann angezündet hatte? Die Schwester ging weiter und ließ Nils allein in dem leeren Zimmer zurück, in dem erst vor wenigen Stunden die Lebenslichter einen alten, ausgemergelten Körper verlassen hatten. Ein Anflug von Trauer wollte sich in Nils' Kopf schleichen. So leise wie möglich begann er zu pfeifen. Er warf einen Blick auf das mitgebrachte Spielbrett. Na ja, würde er es eben wieder in den Schrank legen. Vielleicht lernte er ja doch noch mal eine Frau kennen, die gern Dame spielte? Oder Mühle, schließlich hatte das Brett zwei
Seiten. Auf jeder war eine Spielvariante abgebildet. Ein kaum sichtbares Schmunzeln huschte über Nils' Gesicht. Er verließ das Zimmer und schloss die Tür so leise, als hätte er Angst, versehentlich jemanden zu wecken. Und wer weiß, vielleicht stimmte das ja auch.
Elsa Emmerling hatte die Nacht dagegen wunderbar überstanden. Sie lag in Ihrem Bett und lächelte selig, als Nils ihr Zimmer betrat. Irgendwann würde er oder ein Kollege hier hereinkommen und auch feststellen, dass das Bett leer war.
»Schönen guten Morgen, Frau Emmerling«, sagte Nils betont freundlich. Die alte Dame strahlte, als wäre für sie gerade eben die Sonne
aufgegangen.
»Na sieh mal einer an«, trällerte sie fröhlich. »Ein neues Gesicht in meinem bescheidenen Zimmer.«
Nils seufzte. »Aber Frau Emmerling, ich war doch gestern erst hier«, sagte er routiniert. Irgendwann würde er den Satz auf Band sprechen und dieses dann einfach nur abspulen, wenn sie ihn wieder mal für den »Neuen« hielt. Auf Band ... Die Kamera ... »Wie geht's uns denn heute?«, fragte Nils möglichst unauffällig und begann, das Waschbecken zu schrubben.
»Och ja, kann nicht klagen«, sagte die alte Dame. »War wohl auch schon mal besser. Aber wissen Sie
was?«
»Nein, was denn?«
»Wenn Sie mir einen Kaffee bringen würden, dann sähe die Welt doch gleich ganz anders aus.«
»Frau Emmerling, Sie sollen doch keinen Kaffee trinken«, sagte Nils. Er hatte keine Ahnung, ob das so war, aber vermutlich stimmte es. Eigentlich bekam hier niemand einen Kaffee, außer die Angestellten. Aber das Zeug, das sie hier brühten, war so mies, dass zumindest Nils gut und gerne darauf verzichten konnte. Für die Gäste dagegen gab es Tee, allerdings schmeckte der auch nicht besser.
»Ist das so?«, murmelte die alte
Frau und klang dabei viel zu melancholisch für Nils' Geschmack.
»Aber ja doch. Mir können Sie's ruhig glauben«, antwortete Nils.
»Na, wenn Sie das sagen? Wussten Sie eigentlich, dass ich hier schon wieder vergewaltigt wurde?«
Und da war es wieder. Aus heiterem Himmel! Nils spürte, wie sein Magen sich zusammenkrampfte. Am mangelnden Frühstück lag es gewiss nicht. »So, Frau Emmerling?«, sagte er, um einen ruhigen Klang in seiner Stimme bemüht, der ihm jedoch nicht gelingen wollte.
»Ganz genau, wie ich es sage«, bestätigte die alte Frau. »Und dann, Sie werden's nicht glauben, haben die so ein
Ding, mit dem die das ... äh ... wie heißt das denn? Aufnehmen, genau. Auf so Dinger ... na, wie Kassetten.«
»Video«, half Nils wieder einmal nach.
»Aber ja, ganz genau!«, bestätige die Alte und strahlte wieder. Dieser plötzliche Anflug von Freude war fast schon das Schaurigste an ihrer kleinen Gruselgeschichte. Was aber, wenn es nun wirklich keine Geschichte war?
»Sagen Sie, Frau Emmerling«, begann Nils und räusperte sich. »Ich müsste noch schnell unter Ihre Decke schauen. Wäre das für Sie in Ordnung? Es ist nur ... wenn wir da auch was saubermachen müssen, dann sollte ich
das natürlich wissen.«
Die alte Dame grinste, als wäre mit einem Mal die Jugend in ihr Gesicht zurückgekehrt. Als sie jung war, dachte Nils missmutig, musste sie eine wahnsinnig hübsche Frau gewesen sein. »Na Sie sind mir ja ein Schlingel. Also gut. Aber nur, weil Sie so ein schöner junger Mann sind. Ich erzähl's auch keinem, versprochen.« Wieder gab sie dieses Märchenhexenkichern von sich.
Nils zog behutsam die Decke vom dürren Körper der alten Frau zurück. Ein muffiger Geruch, in den sich vermutlich auch der eine oder andere freche Wind gemischt hatte, stieg auf und kroch erbarmungslos in seine Nase.
Er verkniff sich das angewiderte Gesicht und suchte hastig ihre Arme und Beine nach Spuren ab.
Nichts. Nur alte Haut an einem alten Körper. Sein Herzschlag beruhigte sich, und erst jetzt bemerkte Nils, dass sein Herz überhaupt schneller geschlagen haben musste. So ein Unsinn aber auch ... Vielleicht sollte er sich wirklich endlich eine Freundin suchen, die ihm das Hirn rausvögelte und ihn auf andere Gedanken brachte. Locke meinte das zu jeder passenden Gelegenheit, was Nils zu der Vermutung veranlasste, dass Locke am Ende einfach nur hoffte, auch Nils würde an einen Drachen geraten. Geteiltes Leid war eben immer noch
halbes Leid.
»Und, gefunden, was Sie suchen?«, fragte die Elsa Emmerling mit ihrem verschmitzten Großmütterchenlächeln.
»Leider nicht. Ich hatte ja gehofft, Sie hätten vielleicht ein Stück Kuchen unter der Decke versteckt, Frau Emmerling«, witzelte Nils. Tatsächlich war ihm jetzt viel eher zum Lachen zumute. Wie hatte er nur annehmen können, irgendwer käme nachts in dieses Zimmer geschlichen, um sich an einer uralten Frau zu vergehen, die kurz vor der Bahre stand, und das alles auch noch zu filmen? Die Welt war zweifellos ein Ort voller Widerwärtigkeiten, so widerwärtig wie die Zimmerböden hier
manchmal und noch eine Schippe oben drauf, doch das ging eindeutig zu weit.
»Eines Tages backe ich Ihnen mal einen großen Schokoladenkuchen, Sie Hübscher, Sie«, schmachtete die alte Dame Nils an. »Früher war ich für meine Backkünste im ganzen Ort bekannt. Und darüber hinaus. Geburtstagskuchen, Hochzeitstorten, und und und. Habe ich alles verkauft. Mein Kuchen wird Ihnen ordentlich munden. Werden Sie schon sehen.«
»Irgendwann bestimmt, Frau Emmerling. Ich freu mich schon drauf.«
»Na und ich erst!«, flötete die Alte und grinste über beide Ohren.
Ja, irgendwann. Im nächsten Leben
vielleicht, dachte Nils. Er glaubte nicht an Blödsinn wie Reinkarnation, und falls er jemals an etwas wie einen Gott geglaubt hatte, so war ihm der ganze Quatsch spätestens in diesem Job gehörig vergangen. Doch alten Menschen wie dieser freundlichen alten Dame, die hier lag und vor sich hin vegetierte, obwohl sie ein gemütliches Zuhause mit einer sie umsorgenden Familie verdient hätte, wünschte Nils tatsächlich ein nächstes Leben.
Fortsetzung folgt ...