Stillschweigen herrscht im Raum. Die Ereignisse, die erst kürzlich geschehen sind, liegen noch immer spürbar in der Luft. Jedenfalls für mich, Aurora Anzu. Wie erstarrt sitze ich auf einem Bürostuhl - oder werde eher mit Fesseln gezwungen, dort zu sitzen - und starre auf den kalten, schwarzen Boden. Und dass nicht ohne einen triftigen Grund. Vor genau zwölf Stunden sind meine Eltern betäubt worden, damit ich ohne Schwierigkeiten entführt werden konnte. Es hat mir so einen Schrecken eingejagt
meine Eltern so hilflos auf dem Boden liegen zu sehen, dass sich meine Muskeln anfühlen als wären sie aus Stein. Schon seit mehr als einer Stunde halte ich mich jetzt schon in diesem spärlich eingerichteten Raum auf. Dabei wäre mir im Moment nichts lieber, als im Erdboden zu versinken und für immer dort zu bleiben. So gross ist der Schock, der mir noch immer tief in den Knochen sitzt. Während ich Löcher in die Luft starre, erinnere ich mich gegen meinen Willen wieder an die letzten Stunden, in denen ich mit meinen Eltern zusammen gewesen
bin: Am Morgen war alles so gewesen wie immer. Ich war nach einer langen durchzechten Nacht, in der meine beste Freundin ihren 19. Geburtstag gefeiert hatte, mit einem furchtbaren Kater aufgewacht. Jeder kann sich vorstellen, dass wir ziemlich viel Alkohol getrunken hatten, vor allem, weil meine beste Freundin auch noch andere gute Freunde eingeladen hatte, die ebenfalls gerne feierten. Mein Kopf pochte vor Schmerz, als ich zum Esszimmer ging und von meinen Eltern ziemlichen Ärger bekam. Mein Vater meinte gleichgültig, jedoch
mit Verärgerung: „Wo warst du gestern? Und wann bist du überhaupt nach Hause gekommen? Du weisst ganz genau, dass ich es hasse, wenn du auf Partys gehst und dich betrinkst!“ Leise versicherte ich ihm, dass ich schon volljährig war und dass ich machen konnte, was ich wollte. Genervt fügte ich hinzu: „Und übrigens. Es ist ja nicht so, als ob ich mich jedes Wochenende betrinke. Man wird nur einmal 19. Das habe ich dir schon einmal gesagt.“ Wie erwartet, hatte er mir eine lange Standpauke gehalten, in der er mir erläuterte, dass ich immer noch im
Elternhaus wohnte und mich immer noch an ihre Regeln halten musste. Dann verpasste er mir auch noch zwei Wochen Hausarrest. „Na toll!“, murrte ich. Wütend verschwand ich schliesslich mit einem lauten Türknallen in meinem Zimmer. Unglücklicherweise stellte mein Vater mir klar, der plötzlich vor meiner Tür stand, dass mein Fechttraining trotzdem stattfinden würde. Nur um das kurz zu erwähnen. Er trainierte mich schon, seit ich 14 Jahre alt war, denn er selbst war ein ausgezeichneter Fechtlehrer, nur manchmal etwas zu streng. Mit einem unterdrückten Stöhnen zog ich mir die Bettdecke über den Kopf und
machte Anstalten wieder einzuschlafen. Nur knapp eine Minute später schlug mein Vater geräuschvoll meine Tür auf. Augenblicklich entzog er mir die Decke und warf mir den Trainingsanzug entgegen. Typisch für ihn. Wenn er einmal schlechte Laune hatte, nahm er keine Rücksicht mehr auf andere. Trotz dieser Rücksichtlosigkeit und seiner groben Art, Leute aus dem Bett zu holen, war er immer fürsorglich und, wenn er gut gelaunt war, der netteste Mensch, den ich je getroffen habe. Wiederwillig erhob ich mich aus dem Bett und zog mich so schnell wie möglich an, um seinen Zorn nicht noch weiter
herauszufordern. Mein Vater war währenddessen schon nach draussen gegangen. Und, wie sollte es auch anders sein, hatte schon alles für das Training vorbereitet, als ich ebenfalls nach draussen kam. Auf elegante Art und Weise warf er mir einen Degen entgegen. Leider nur ein gewöhnlicher Degen. Gelegentlich benutzten wir auch traditionelle Schwerter oder Dolche –mein Vater besitzt selbstverständlich einen Waffenschein-, welche ihm zum Teil vererbt worden waren. Ebenso elegant fing ich den Degen auf und stellte mich kampfbereit hin. Darauf begann das Training. Immer
wieder brachten wir uns gegenseitig aus dem Gleichgewicht. Obwohl mir mein Vater schon alles beigebracht hatte, was er wusste, war ich ihm noch nicht ganz ebenbürtig. Ich achtete noch immer viel zu wenig auf meine Deckung. Doch, wenn ich angriff, war ich beinahe stärker als er; aber nur beinahe, doch ich hatte mir fest vorgenommen, das so bald wie möglich zu ändern. Wir kämpften bis in den späten Nachmittag hinein. Mit Schweiss durchnässten Kleidern schlenderten wir lachend – mein Vater reisst die besten Witze der Welt – ins Haus zurück. „Du bist die beste Tochter, die man sich nur wünschen kann“, lachte er herzlich
und legte mir einen Arm um die Schultern. Lächelnd teilte ich ihm mit, er sei für mich in gleicher Weise der beste Vater auf der Welt. Seltsamerweise schenkte er mir bei diesen Worten ein trauriges Lächeln. Diese Geste konnte ich in diesem Moment nicht einordnen, aber dieses Lächeln geht mir auch jetzt nicht mehr aus dem Kopf. In dem Augenblick, als wir durch die Tür hinein schritten, kam uns ein leckerer Duft nach gebratenem Fisch und nach gekochtem Gemüse entgegen. Mir lief sofort das Wasser im Mund zusammen. Der Tisch war für drei Personen gedeckt, aber die Unmenge an
Essen, die serviert worden war, hätte vermuten lassen, dass noch weitere Gäste kamen, was dann aber doch nicht der Fall war. Mit fragendem Blick zu meiner Mutter, die sich gerade ihre braunen Haare zusammenband, setzte ich mich an den Tisch und wollte wissen: „Was ist der Anlass zu diesem reichlich gedeckten Tisch?“ Meine Mutter, die sich zwischenzeitlich hingesetzt hatte, lächelte mich, genau wie mein Vater, traurig an und antwortete: „Heisst es nicht immer, dass man jeden Tag so geniessen soll, als wäre es der Letzter, meine liebe Aura.“ Sie nannte mich immer bei meinem
Spitznamen. Seit ich denken konnte. Und schon wieder so ein seltsam trauriges Lächeln und eine genauso seltsame Antwort. Langsam aber sicher machte ich mir Gedanken darüber, was passiert sein könnte, dass sich meine Eltern so merkwürdig verhielten. Hatten sie etwa Angst, dass ich sie bald verlassen würde, wenn ich in der Universität Zürich studieren gehen werde? Wenn sie sich wirklich über das Sorgen machten, wäre dies völlig unbegründet. Ich würde trotzdem noch bei ihnen hier in St. Gallen, eine unscheinbare Stadt im Nordosten der Schweiz, leben. Ohne Probleme könnte ich zwischen Zürich und St. Gallen
pendeln. Trotzdem beliess ich es bei einem fragenden Blick, verschwand kurz im Badezimmer, um zu duschen, und setzte mich sieben Minuten später an den Esstisch. Hungrig nach dem kräftezerrenden Training schöpfte ich mir grosszügig den Teller bis an den Rand voll. Ohne einen Moment zu zögern viel ich über mein Essen her, versuchte es jedoch so anständig wie möglich in der Gegenwart meiner Eltern zu verschlingen. Jeder Bissen war ein Genuss. Noch nie zuvor hatte meine Mutter so köstlich gekocht, was ich bewundernswert fand; denn ich hatte immer gedacht, sie könne
ihre Kochkünste nicht noch weiter steigern, weil sie schon so gut kochte. Da hatte ich mich wohl geirrt. Urplötzlich fiel mir doch ein Grund ein. Ich war heute 19 Jahre alt geworden. Wie hatte ich das nur vergessen können? Während ich mich in Gedanken über meine Vergesslichkeit aufregte, lehnte ich mich satt auf dem Stuhl zurück und dankte meiner Mutter für dieses köstliche Essen. Zufrieden stand sie auf und fing an, den Tisch abzuräumen. Natürlich half ich ihr dabei, ganz in meinen Gedanken versunken. Haben meine Eltern etwa meinen Geburtstag auch vergessen? Ich hoffe nicht, denn man wird doch nur einmal im
Leben 19 Jahre alt. Bei diesem Gedanken musste ich grinsen. Das scheint wohl mein Lieblingsspruch zu sein. Als ich ein wenig enttäuscht den Geschirrspüler einräumte, wurde ich überraschend von meinen Eltern überrumpelt, indem sie mich beide gleichzeitig umarmten und mir herzlich zu meinem Geburtstag gratulierten. Wusste ich’s doch! Sie haben ihn nicht vergessen. Aber sie verhalten sich heute sehr merkwürdig. So als würde bald etwas Schlimmes passieren. Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf. Bisher verspürte ich dieses Gefühl erst einmal, und das war, als mich ein Mann
versucht hatte zu vergewaltigen. Glücklicherweise war es auch nur bei einem Versuch geblieben; ich hatte ihm nämlich eine ordentliche Dosis Pfefferspray in die Augen gesprüht und war weggerannt. Ganz langsam löste ich mich aus der Umarmung meiner Eltern und schaute den Beiden tief in die Augen. „Ich bin so froh, euch als Eltern zu haben.“ Eine Träne lief mir über die rechte Wange. Was war heute nur los mit mir? Ich war doch sonst nie so sentimental. „Gute Nacht, Mum. Gute Nacht, Dad.“ Mit diesen letzten Worten ging ich in mein Zimmer und kuschelte mich unter die Decke auf meinem Bett. Ich konnte
jedoch nicht sofort einschlafen; daher schaltete ich meinen Laptop, der immer neben meinem Bett auf dem Boden lag, an und surfte im Internet ohne irgendein gewisses Ziel: eines meiner Hobbies mit dem ich in meiner Freizeit Stunden verbringen könnte. Nach einer Weile hörte ich vom Wohnzimmer her ein dumpfes Krachen und dann noch eins. Sofort legte ich meinen Laptop beiseite. Dieses Geräusch konnte nichts Gutes bedeuten. Auf leisen Sohlen verliess ich mein Zimmer und schlich vorsichtig zum Wohnzimmer. Was ich dort vorfand, liess mir einen kalten Schauer über den Rücken jagen. Meine Eltern lagen wie tot auf dem Boden, nur an ihrem Atmen
konnte man erkennen, dass sie noch lebten. Ein paar Schritte von mir entfernt standen zwei ganz in schwarz gekleidete Männer; nur die Farben ihrer Augen unterschieden sich voneinander. Der Eine hatte braune, der Andere blaue Augen. Nun starrten beide in meine Richtung. Nach meinem anfänglichen Zögern öffnete ich neben mir die Schublade des Beistelltischchens, aus der ich einen Dolch herausholte (ja, es gibt selbstverständlich nicht in jeder Schublade unseres eine Waffe, aber in dieser schon). Ich zog ihn aus der Schutzhülle und hielt ihn drohend gegen diese zwei grossen Männer. „Was habt ihr mit meinen Eltern
angestellt?“, fragte ich mit zittriger Stimme. Ich war nicht wirklich geschaffen für solche Situationen. Die fast Vergewaltigung vor 4 Jahren hatte mich geprägt. Der Mann mit den braunen Augen näherte sich mir einen Schritt und sofort hielt ich meinen Dolch noch fester in meiner rechten Hand. „Antwortet und kommt mir nicht näher!“, fuhr ich sie an. Das Zittern in meiner Stimme war verschwunden. Meine Angst verwandelte sich in Zorn. Und dieser Zorn durchdrang mich mit solcher Stärke, wie ich es noch nie gespürt hatte. Von einer Woge von Gefühlen
durchströmt, bemerkte ich, dass der eine Mann aufgehört hatte zu grinsen und an Ort und Stelle stehen blieb. Wie konnte ich diese Männer nur überwältigen? Sie waren zu zweit, und ich war allein; aber irgendetwas stimmt nicht mit ihnen. Ihr Zögern verwirrte mich. Was führten sie bloss im Schilde? All diese Fragen lösten sich in Luft auf, als sich die beiden grossgewachsenen Männer kurz zunickten. Da wusste ich, dass sie mich angreifen würden. Überraschenderweise entwich mir ein selbstsicheres Lächeln und eine unbekannte Kampfeslust erwachte in mir. Durch das Fechttraining meines Vaters gelang es mir anfangs die Dolchhiebe
–die beiden Männer hatten ebenfalls ihre Waffen gezogen- zu parieren, aber ich merkte bald, dass ich ihnen eindeutig unterlegen war; daher versuchte ich lediglich die beiden zur Haustüre zu locken, um diese dann öffnen zu können und um Hilfe zu schreien. Mein Plan scheiterte jedoch fast augenblicklich. Denn der Mann mit den braunen Augen schlug mir den Dolch aus meiner Rechten. Sogleich brachte er mich zu Fall, indem er mich aus dem Gleichgewicht brachte, und band mir auf dem Boden meine Handgelenke zusammen. „Lass mich sofort los!“, zischte ich und wand mich unter seinem festen Griff. Im
selben Moment brannten für kurze Zeit meine Augen. Ein rotes Flackern erschien kurz in meinem Blickfeld. Aber nur kurz, bis meine Augen aufhörten zu brennen. „Sie ist es!“, sagte der Andere auf Englisch, der mir von oben herab ins Gesicht geschaut hatte. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er ein selbstgefälliges Grinsen auf seinem Gesicht hatte. Bei diesem Anblick fing ich an zu knurren. Schliesslich gab ich meinen Wiederstand auf und liess mich von den Beiden auf die Beine zwingen. Jetzt gebe ich nach, aber nicht auf! Damit ich nicht anfing zu schreien, als
wir das Haus verliessen, hielt mir einer der Männer eine Pistole in den Rücken. Stillschweigend führten sie mich an der verschneiten Strasse entlang zu einer schwarzen Limousine. Bevor der Mann mit den braunen Augen die Hintertür zustiess, zeigte ich ihm fauchend meine langen Eckzähne, auf die ich sehr stolz war. Im Gegensatz zu den anderen Leuten, die ich kannte, hatte ich besonders ausgeprägte Eckzähne. Die Fahrt war lang. Für meinen Geschmack zu lang. Trotzdem hielt ich meinen Mund. Wohin sie mich auch immer entführten, es lag nicht in der
Schweiz. Nach einer Ewigkeit befanden wir uns dann auch noch auf einem Schiff. Das konnte also nur eines bedeuten. Ich war nach England entführt worden! Mein Bauchgefühl bestätigte mir diese Vermutung. Irgendwann überwältigte mich die Müdigkeit, und da ich sowieso nichts gegen meine Entführung tun konnte, schlief ich ein. Wo zum Teufel brachten sie mich bloss hin?
© by Aquilifer
(Bitte seid nachsichtig mit mir, wenn ihr irgendwelche Flüchtigkeitsfehler entdeckt :) )