PROLOG
Es ist der letzte Zug in dieser Spätsommernacht. Auch wenn man es von innen nur erahnen kann, riecht die warme Luft dort draußen, durch die sich monoton surrend die Bahn bohrt, nach Herbst. Sicherlich, immer noch vermischt mit milden Düften von Blüten, von saftigen Grün, welches am Tage hungrig die Sonnenstrahlen aufgesogen hat, und nun die Energie dankbar wieder an die Nacht ab gibt. Es riecht nach Leben hinter der Scheibe, und dennoch hängt unverkennbar Melancholie mit darin, das letzte, kräftige Ausatmen des sich neigenden
Sommers, der das Zepter an die kühleren Jahreszeiten bald abgeben wird. Drinnen aber, im gut ausgeleuchteten und klimatisiertem Abteil, ist davon nichts zu spüren. Die Fenster dienen hier nicht zur Belüftung, es gibt keine Griffe, mit denen man sie öffnen, und die Welt dort draußen herein bitten könnte. Hier existiert eine eigene Welt, eine kleine, stille, ein Mikrokosmos, beherrscht von weißem Licht, neutralen Farben und einer Hand voll Menschen.
Wo sich am Tage unentwegt Reisende tummeln, jeder Platz in Windeseile wieder besetzt ist, jedes noch so kleine Fleckchen Leere durch Koffer und
Taschen, Mäntel und Tüten, Rucksäcke und Schulranzen belegt wird, ist nun Stille. Nun, wo die Pendler längst ihrem nächsten Arbeitstag entgegen schlafen, wo Nachtschwärmer noch in ihren Tanzlokalitäten oder Bars verharren, herrscht gespenstische Ruhe im fast unbesetzten Abteil. Nur wenige sind um diese Zeit noch unterwegs, und auch wenn sie es vielleicht nicht wissen, ist dies der letzte Zug in dieser Nacht, die letzte Möglichkeit an ihr Ziel zu kommen, ohne auf den Morgen warten zu müssen.
Draußen zieht haltlos die Welt vorbei. Das Sonnenlicht hat sich schon längst
verabschiedet, um anderen Erdteilen Leben einzuhauchen. Hier herrscht die Nacht, nur durch eine Glasscheibe von der Hand voll Seelen im Inneren getrennt, zum Greifen nah, aber flüchtig und, so lange der Zug unbeirrt die Fahrt fortsetzt, unerreichbar.
Mittlerweile hat er den schützenden Bahnhof hinter sich gebracht. Ein Blick aus dem Fenster offenbart eine schier grenzenlose Wüste aus Licht, als wolle sich die Zivilisation tapfer der allmächtigen Finsternis entgegen werfen, sie mit großem Aufwand in einen immer währenden Tag verwandeln. Jede Straße ist hell erleuchtet, für die
wenigen Autos und ihre Besitzer, die sich hier tummeln, muss es wirken, als würde die große Stadt nur ihnen allein gehören. Ein kleiner Traum von Freiheit, Einsamkeit, unendlich viel Platz, und das mitten in der sonnst so voll gestopften Metropole. Plötzlich sind alle Wege offen, kein Stau, keine Schlangen vor Ampeln mehr! Leider sind Züge da weitaus beschränkter, was die Bewegungsfreiheit an geht, und dem Menschen daher im Grunde nicht unähnlich. So lange sie auf den vorgefertigten Gleisen fahren, den Pfad beschreiten, der ihnen geebnet wurde, so lange sind sie, verhältnismäßig, zuverlässig, schnell und zielstrebig.
Dennoch gibt es Situationen im Leben, selten in dem eines Zuges, oft aber in dem eines Menschen, an denen plötzlich die Gleise verschwunden sind, der Halt weg bricht und die Fahrt vorerst im Schotterbett endet.
Die letzten Fahrgäste dieser Nacht sind still, niemand spricht, nur selten ein Räuspern. Jeder in seiner eigenen, kleinen Welt, so weit es geht voneinander getrennt. Einige von ihnen sind sogar so sehr bemüht, sich dort hin zu flüchten, das sie selbst kaum noch sichtbar sind, wie Schatten wirken.
Der letzte Zug hat Fahrt auf genommen, bohrt sich in die immer dichter werdende Dunkelheit - und wir begleiten ihn.