Kapitel 3
Der Abend kam, das Bier nach Feierabend ging. Nils lag im Bett und kam nicht zur Ruhe. Sein Schlafzimmerfenster lag zum Hinterhof. Irgendein verdammter Idiot im Haus gegenüber, zwei Stockwerke höher, ließ die halbe Nacht über die Lampen brennen. Wie ein rechteckiger Mond warf das Fenster grellgelbes Licht in Nils' Wohnung und hielt ihn wach. Irgendwann würde er doch noch mal das Portemonnaie mit dem großen Loch aufmachen und sich so etwas wie Rollos leisten. Bis dahin, dachte er, könnte er genauso gut aufstehen und rüberbrüllen,
dass wer-auch-immer-dort-wohnte endlich mal das scheiß Dreckslicht ausschalten sollte. Aber wahrscheinlich würde am Ende Nils selbst noch eine Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung bekommen. Hier im Haus war man mitunter ja so drauf.
Nils starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke. Über ihm hing der Traumfänger, den ihm seine letzte Freundin irgendwann einmal geschenkt hatte. Gott, wie lange lag diese Beziehung jetzt schon zurück? War es überhaupt dasselbe Leben gewesen? Hatte es all das überhaupt gegeben? Wer sagte, dass Dinge wirklich passiert waren, wenn hinterher nichts von ihnen
übrig blieb, als spärliche Erinnerungen?
Die Gedanken kreisten durch die Nacht, sausten wie gebannte Gespenster durchs Zimmer, die nicht mehr durch die Wände entfliehen konnten. Was, wenn tatsächlich jemand gekommen war, wenn sie wirklich jemand geholt hatte? Einfach so, und sie dann wieder zurückgebracht? Locke hatte drüber gelacht, und normalerweise hätte auch Nils darüber schmunzeln sollen. Denn eigentlich war das alles zum Heulen, und wenn man nicht heulen wollte, dann musste man lachen, wenn auch nur im Stillen. Was sonst blieb auch übrig? Es half einem, nicht bekloppt zu werden. Sich zusammenzureißen. Der
wichtigtuerische Personalfuzzie des Hospiz hätte das ganz nobel Professionalität genannt. Professionalität ... In einem Haus, in dem man schon froh war, wenn die alten Leute sich auf ihrem letzten Weg nicht die Eingeweide aus dem Leib schissen, war Professionalität wohl ein Begriff, der so fehl am Platz war wie kaum ein anderer.
Ein neuer Gedanke in Nils' Kopf machte laut klopfend auf sich aufmerksam. Da war der alte Lehmann, der nach seinem Schachbrett gesucht hatte. Irgendwo hier, dachte Nils, lag doch noch ein Damebrett herum. Das war doch dasselbe wie ein Schachbrett, oder? Er könnte es ihm mitbringen, doch
wahrscheinlich würde der Alte das Ding nur mürrisch anschauen und sich nicht mal mehr daran erinnern, dass er noch am Vortag nach genau so etwas gesucht hatte. Ach scheiß drauf, dachte Nils. Er würde dem alten Lehmann das olle Ding einfach mitbringen. Als würde er sich hier jemals wieder mit irgendwem hinsetzen und Dame spielen. Und vielleicht hatte ihm ja wirklich jemand sein Schachbrett gestohlen. Einer dieser biestig dreinblickenden Ärzte vielleicht, oder eine übereifrige Schwester, die glaubte, der alte Kerl würde sich mit dem Brett nur irgendwie verletzen. Oder man hatte es ihm zum Spaß weggenommen. Einfach so, weil
derjenige, der das getan hatte, es konnte. So wie ein Kind, das mit der Lupe Ameisen verbrannte.
Genau wie ... nein. Nils erwischte sich dabei, wie er in seinem Bett liegend tatsächlich den Kopf schüttelte. Um Himmels willen, niemand würde eine neunzigjährige Frau vergewaltigen. Das müsste irgendwer doch mitbekommen. Die Nachtschicht, die nach dem Rechten sah. Eine Reinigungskraft, ein Arzt ... egal, einfach irgendwer. Und man würde es hinterher doch sehen. Alte Leute waren so zerbrechlich wie Glas. Einer so alten Frau würde man eine Vergewaltigung ansehen. Man würde Blutergüsse finden, Druckstellen, fast
wie fauliges Obst. Oder etwa nicht?
Nils rief sich ein Bild der herzigen Frau ins Bewusstsein. Wie sie in ihrem Bett gelegen und bedauert hatte, keinen Kuchen gebacken zu haben. Sie hatte keine Spuren von Gewalteinwirkung am Körper gehabt. Doch natürlich begann Nils' Verstand nun, dem Bild von Elsa Emmerling diverse blaue Flecken und Wundmale aufzukleben. Ehe er sich versah, war die alte Frau in seiner Vorstellung grün und blau geschlagen. Nein, verdammt noch mal, da war nichts gewesen. So etwas wäre ihm doch aufgefallen!
Im Haus gegenüber ging das Licht aus. Endlich, dachte Nils. Und
tatsächlich begann der Schlaf, ihn zu übermannen. Wie eine weitere Decke legte er sich über sein Bewusstsein. Eine Decke, die man über einen alten und nun toten Menschen legte. Nils schob den Gedanken beiseite und schlief ein.
Nein, keine blauen Flecken.
Fortsetzung folgt ...