Kapitel 2
Während seiner Mittagspause saß Nils im Hof auf einer Bank und aß das zweite Salamibrot. Er warf einen Blick in seine Tupper-Dose und verzog das Gesicht. Einige Butterreste klebten noch darin, sonst war das grüne Ding leer. Verdammt, hätte er doch bloß noch was anderes eingepackt. Gerade heute hatte er ziemlichen Kohldampf. Neben ihm saß Mario, den hier - warum auch immer - jeder nur Locke nannte. Er war um die zehn Jahre älter als Nils, und würde die Rente, die ihm zustand, nicht so mickrig ausfallen, wäre es für ihn wohl allmählich Zeit, in den Ruhestand zu
gehen. Locke war eine echte Institution: Er hatte hier wahrscheinlich schon gearbeitet, als die Dinosaurier noch über das Angesicht des Planeten stampften. Seinerzeit hatte er Nils eingewiesen, und überhaupt war er der einzige Kollege, mit dem er sich wirklich verstand und vor allem, mit dem er sich in den Pausen auch mal richtig unterhalten konnte. Die meisten anderen Typen hier waren derart maulfaul, dass Nils hätte meinen können, sie besaßen ihren Mund nur zum Schmollen, oder sie waren aggressiv wie schlecht erzogene Hunde. Alles Eigenschaften, die die Arbeit hier irgendwann vielleicht einfach mit sich brachte. Aber die wiederum machten es
hier noch weniger angenehm. Ziemlich dämliche Sache.
»Willst du das da eigentlich noch essen?«, fragte Nils und deutete auf das in Alufolie eingewickelte Brot, das neben Locke auf der Bank lag.
»Nee, nimm du nur«, entgegnete dieser und biss von einem sauber geschälten Stück Gurke ab. »Packste nächstes Mal besser 'ne Butterstulle mehr ein, was?«
»Besser wär's wohl«, stimmte Nils grinsend zu.
Während des Essens sprachen sie, wenn sie gemeinsam Schicht hatten, meistens nicht sehr viel. Es gab Momente der Ruhe, die wollte man
einfach nur genießen und nicht mit Worten zerstören. Dies war so einer. Während sie kauten, beobachteten sie die Gestalten, die hier ein und aus gingen. Das waren nicht viele. Einige Hilfsschwestern, hin und wieder betrat ein Arzt oder eben irgendwer, der meinte, einen Kittel tragen zu müssen, das Hospiz und verließ es auch bald schon wieder. Ob die das hier freiwillig machten, fragte Nils sich manchmal. So wie sie aus der Wäsche schauten, bestimmt nicht wirklich. Wenn sie bemerkten, dass Locke und Nils sie musterten, warfen sie ihnen geringschätzige Blicke zu, grüßten nur selten aber nie freundlich und folgten
weiter ihren festen Schienen.
Vielleicht waren es diese mürrischen und misstrauischen Gesichter der vorbeistreifenden Menschen, die Nils auf seinen kleinen Ausflug in Elsa Emmerlings Zimmer zurückbrachten, vielleicht war der Gedanke aber auch einfach von selbst wieder in sein Bewusstsein geklettert, so wie ein Gehirnschluckauf. »Die alte Emmerling meint, jemand würde sie vergewaltigen«, murmelte Nils durch den vollen Mund, in dem er die letzten Stücke von Lockes Käsebrot zu Brei zerkaute.
»Ach echt?«, kommentierte Locke ohne Anteilnahme. Nichts besonderes, dachte Nils. Da draußen, nur ein paar
Meter weiter, würde so was einen riesigen Skandal auslösen. Ruckzuck stünden Zeitungen und Fernsehen Schlange für die Skandalmeldung schlechthin. Aber hier ... hier war die Welt eine andere. Hier interessierte niemanden, was die alten Gespenster redeten, die sowieso nur aufs Ende warteten. Spinnen sich doch eh nur was zusammen, das dachte jeder, und es stimmte ja auch meistens.
»Drüben in meinem Revier gab's mal so eine alte Schachtel, die brüllte jedes Mal, wenn abends einer an ihrem Zimmer vorbeiging, so was wie: Hilfe, die kommen mich holen!«, sagte Locke mit schriller Stimme und stopfte sich das
letzte Stück Gurke in den Mund.
»Und?«, fragte Nils.
»Und? Und was?«
»Na kam sie einer holen?«
Locke zuckte mit den Schultern. »Was weiß denn ich? Hat sie jeden Abend gebrüllt. Also wird sie wohl keiner geholt haben, sonst hätte sie ja nicht brüllen können, oder was meinste?«
»Schon, ja«, sagte Nils und nickte.
»Und irgendwann hat sie halt der alte Schnitter geholt«, fügte Locke hinzu und gluckste, was wohl ein verschlucktes Lachen sein sollte. »Wenn man's so sieht, hat sie also doch einer geholt.«
»Hmm«, machte
Nils.
»Was'n los? Hat die Käsestulle nicht geschmeckt? Falls nicht, sag's nicht Peggy. Sonst kann ich mir demnächst meine Brote alleine schmieren.« Peggy war Lockes Frau, die ab und zu mit dem Auto vorm Hospiz aufkreuzte, um ihren Mann zum Feierabend abzuholen. Ziemlicher Drachen, soweit Nils das einschätzen konnte. Ob er das wirklich konnte, wusste er allerdings selbst nicht.
»Was ist, wenn da wirklich einer kam?«, fragte Nils plötzlich in die Verdauungsstille hinein.
»Wie meinst'n das jetzt?«, gab Locke mit fragendem Gesichtsausdruck
zurück.
»Na ja, wenn wirklich einer vorbeikam und die alte Frau nachts belästigte. Stell dir doch mal vor, so was passiert dir. Dann schreist du, dass dir bald die Eier platzen, rufst um Hilfe, aber keiner glaubt dir hinterher, weil jeder denkt, du hast einen an der Waffel.«
»Hast du was geraucht oder so?«, fragte Locke und setzte zu einem Lachen an, das so recht nicht hervorbrechen wollte.
»Na nee, aber überleg mal: Da tut dir einer weh, vielleicht, weil er Spaß dran hat und weil du bettlägerig bist, und kein Schwein glaubt dir hinterher,
weil du alt und morsch im Oberstübchen bist. Ist doch schon irgendwie ganz schön gruselig, oder?«
»Eklige Vorstellung, stimmt schon«, gab Locke schließlich zu. »Aber jetzt mach hier nicht so 'ne Stimmung, Alter. Ist schon trist genug hier, auch ohne dass du dir irgendwelche Horrorfilme zusammenspinnst, meinste nicht?«
»Ja, wahrscheinlich schon«, stimmte Nils zu, doch seine Stimme klang eher nach dem Gegenteil.
»Na los, knapp zwei Stunden noch, dann hau'n wir in'n Sack.« Locke schlug Nils mit der Hand auf die Schulter, dass dieser beinahe nach vorn von der Bank
gekippt wäre. »Also, keine Müdigkeit vorschützen.«
Nils erhob sich träge und begann schließlich mit der zweiten Hälfte seiner Schicht. Bisher war alles gut gelaufen. Niemand gestorben, kein Gezetere, und die Betten waren auch noch sauber. Wenn es so weiterging, würde heute einer der ruhigsten Tage seit Langem sein. Einer von denen, die das Malochen hier so gut machten wie jede andere mies bezahlte Arbeit auf dieser Welt.
Fortsetzung folgt ...