Als er eines Abends mit den Tageszeitungen der ganzen Woche unter dem Arm völlig erschöpft nach Hause kam, im Kopf spukte ihm noch immer ein Satz herum, den jemand, neben ihm am Pissoir stehend, gedankenverloren vor sich hin genuschelt hatte, "Immer schön den Hahn aufdrehen...", sagte der Fremde, woraufhin unser Protagonist, Held möchten wir ihn hier an dieser Stelle nicht nennen, den Raum schnellstmöglichst verlassen hatte, war er froh, dass endlich Wochenende war, und er sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Sammeln von skurrilen Zeitungsmeldungen, widmen konnte. Er hatte sich zu diesem Zweck Ordner angelegt, die er niemals jemandem zeigte, und die er nach und nach, grob nach Kategorien geordnet, mit ausgeschnittenen Meldungen füllte. Mittlerweile hatte er eine recht umfangreiche Sammlung; es wäre angemessen zu sagen, sie war die größte ihrer Art in Deutschland, oder zumindest die größte in dieser Stadt, was auch daran liegen mag,
dass wohl kaum jemand sonst eine solche Sammlung pflegte. Sie beinhaltete unfreiwillig komische Todesanzeigen, kuriose Verbrechensmeldungen, diverse Stilblüten und Verschreiber - ein ganzes Arsenal an oftmals surrealen Texterzeugnissen, die er im Laufe vieler Jahre, unter Aufbringung eines geradezu manischem Ehrgeizes, dessen Ausmaß und Anfang hier besser unerwähnt bleiben sollte, angehäuft hatte. Wäre sein heutiges Erlebnis am Pissoir eine Zeitungsmeldung gewesen, können wir uns sicher sein, dass auch dies seinen Weg in seinen Ordner gefunden hätte. Nachdem er es sich gemütlich gemacht hatte, schlug er die erste Tageszeitung auf, und arbeitete sie routiniert von vorne bis hinten durch. Ein paar Meldungen stachen ihm ins Auge, doch nur eine davon befand er für würdig, Teil seiner Sammlung zu werden; sie handelte von einem Raubvogel, der unerklärlicherweise im Tiefflug gegen den Kühlergrill eines fahrenden
Autos prallte und dort stecken blieb, was sowohl den Vogel wie auch den namenlosen Fahrer des Fahrzeugs, wir sehen hier darüber hinweg, dass es dem Vogel gegenüber ungerecht erscheint, den Fahrer namenlos zu nennen, wohingegen dem Vogel erst gar nicht das Recht zugestanden wird, überhaupt einen Namen zu besitzen, nachhaltig beeindruckt haben dürfte. Die Sonne ging bereits unter als er bei der letzten Zeitung, der heutigen Ausgabe, angekommen war und gerade die Todesanzeigen studierte. Er stand auf und schaltete das Licht ein, wobei das schattenverzierte düstere Zimmer natürlich hervorragend zu den aufgeschlagenen Seiten, aber eben nicht zu seinem Sehvermögen, passte. Als er gerade bei der letzten Todesanzeige ankam, hielt er plötzlich inne, rieb sich die Augen und starrte verwundert auf das Papier; der Nachname stimmte, der Vorname stimmte - auch das Geburtsdatum war eindeutig korrekt und die Beerdigung war schon für den nächsten Tag
angesetzt. Nach 'In stiller Trauer' folgten fünf Namen, die unserem Protagonisten allesamt sehr wohl bekannt sein dürften, waren zwei davon doch sogar die Namen seiner Eltern, was ihm, wie wir sicher verstehen können, in diesem Moment einen gehörigen Schrecken einjagte. An diesem Punkt begannen die Ereignisse eine dramatische Wendung zu nehmen und obwohl unserem Protagonisten, vielleicht wäre es nun an der Zeit, ihm einen Namen zu geben, da wir aber seine Anonymität wahren wollen, aus Gründen, die hier unerwähnt bleiben sollten, werden wir ihn ab sofort Heinz nennen, obwohl also Heinz die Tragweite der Situation noch nicht bewusst war, spürte er doch, dass er die Sache sofort aufklären musste, da er nicht einsehen konnte, weshalb er tot sein sollte. Heinz ging zum Telefon und wählte die Nummer seiner Eltern. "Hallo Mama, ich bin's", begann er, woraufhin eine kurzer Moment der Stille folgte, den seine Mutter schließlich mit der Feststellung "Aber du
bist doch tot" beendete, wobei das letzte Wort in einem Schluchzen mündete. "Mama, ich bin nicht tot, darum rufe ich ja an. Warum sollte ich denn tot sein?", "Ach, mein Junge... spiel deiner alten Mutter nicht solche Streiche, es ist schon schwer genug. Auch dein Vater ist seit deinem Tod wie verwandelt, er spricht kaum ein Wort", "Mama, hör mir doch zu, ich bin am Leben, wie sonst könnte ich dich anrufen? Es ist nicht gerade ermunternd, seine eigene Todesanzeige zu lesen, das habe ich heute festgestellt", "Was sollten wir tun, wir mussten sie aufgeben, wir liebten dich doch. Du warst immer so ein netter Sohn, hast uns nie Schwierigkeiten bereitet, selbst damals..."; an dieser Stelle versank die Stimme der Mutter wieder in ein Schluchzen, so wahr und herzergreifend, dass Heinz es nicht ertragen konnte, seine Mutter in dieser Verfassung zu erleben. Da das Gespräch zu nichts führte, außer zu der Gewissheit, dass die Welt für Heinz aus den
Fugen geraten war, ersparen wir uns das Nacherzählen des restlichen Telefonats und möchten nur anmerken, dass die Mutter nicht davon zu überzeugen war, dass ihr Sohn gar nicht tot war. Heinz verbrachte den Rest des Abends mit weiteren Telefonaten, mit Bekannten und Familienangehörigen, welche alle auf ähnliche Weise verliefen, sodass er, endgültig entmutigt und verwirrt, sehr früh zu Bett ging und lange brauchte, um endlich einzuschlafen. In dieser Wartezeit auf den erhofften Schlaf, der ihn gnädig in seine Arme nehmen würde und ihn von der gegenwärtig unverständlichen Realität erlöste, erlebte er den gesamten Tag nochmals in Gedanken; doch so sehr er auch jedes kleinste Detail untersuchte, so sehr er sich bemühte, sich einen Reim auf das Erlebte zu machen, kam er doch zu keinem logischen Schluss. Als er am nächsten Morgen aus merkwürdigen Träumen erwachte, in einem davon, an den er sich noch erinnern konnte, stand er alleine auf einem
Fußballfeld als Hüter im Tor, bereit einen Ball zu halten, der niemals kommen würde, fühlte er sich nur mäßig erholt. Sofort war ihm die Realität in der er sich befand wieder bewusst; all die unerklärlichen Ereignisse des vorigen Tages waren präsent, sein eigener vermeintlicher Tod, und auch seine Ratlosigkeit. Lustlos stand er auf, duschte und zog sich an. Das trübe Morgenlicht passte zu seiner Stimmung, wie es so lethargisch durch die Fenster hereinschlurfte, als wäre es darauf bedacht, nicht allzu strahlend zu erscheinen. Heinz wusste es noch nicht, doch er hatte einen Entschluss gefasst, oder besser gesagt, sein Unterbewusstsein hatte es getan während er noch versuchte wach zu werden; er würde zur Beerdigung gehen. Es muss doch spannend sein, seiner eigenen Beisetzung beizuwohnen, sei es auch nur, um zu sehen, ob die Hinterbliebenen auch angemessen genug um einen trauern. Falls eine Person einen diesbezüglich enttäuschen
sollte, einem ihre Trauer zu gespielt vorkam, oder, schlimmer noch, nicht einmal vorgetäuscht wurde, könnte man sie sofort zu Rede stellen, "Hallo", könnte man sagen, "gib dir doch wenigstens ein bisschen Mühe", woraufhin sich die Person hoffentlich ertappt fühlen und sich ihres Fauxpas bewusst werden würde. Heinz erkannte den Entschluss den sein Unterbewusstsein für ihn gefasst hatte erst nachdem er sich bereits die Schuhe anzog, seine Jacke nahm und sich bereit machte, das Haus zu verlassen; an der Tür hielt er kurz inne, bemerkte was er vorhatte, seufzte und trat auf die Straße. Als er den Friedhof erreichte, war die Beerdigungszeremonie schon im Gange und er war erstaunt darüber, wie viele Leute seinetwegen erschienen sind; die Beerdigungsgesellschaft bestand aus mehr als dreißig Personen, sogar sein Chef war erschienen, ganz in Schwarz gekleidet und mit einer unglücklichen Miene ausgestattet, wie es der gute Ton gebot. Seine Eltern standen
ganz vorne, vor dem ausgehobenen Grab, und er sah, dass seine Mutter wieder weinte, was uns sicher angemessen erscheint in Anbetracht der Umstände, während der Pfarrer reglos herumstand, bereit, die unvermeidliche Abschiedsrede zu halten auf die alle Anwesenden zu warten schienen. Da uns das Privileg zusteht unserem Protagonisten in den Kopf zu schauen, wie wir sicher schon bermerkt haben dürften, können wir nun erkennen, dass Heinz nicht so recht wusste was er tun sollte, war es doch keine alltägliche Situation, bei der man auf Erfahrung hätte zurückgreifen können; auch können wir erkennen, dass Heinz sich, so absurd es auch ist, ausgegrenzt fühlte, oder besser gesagt, als wäre er fehl am Platz - ein Gefühl, das werden wir gleich noch sehen, das nicht ferner von der Wahrheit sein könnte. Er reihte sich ein in den Pulk der Trauernden, darauf bedacht, möglichst wenig Aufsehen zu erregen, wäre es doch unhöflich Menschen in ihrer Trauer zu stören,
und wartete darauf, dass der Pfarrer endlich mit seiner Rede begann. In der Zeit die nun verstrich in der sich niemand rührte, wurde Heinz von Sekunde zu Sekunde unsicherer, wusste er doch nicht, was hier gespielt wurde, weshalb die Zeremonie nicht fortgeführt wurde und, vor allem, weshalb ihn die Umstehenden nach und nach erwartungsvoll anzustarren schienen. Das zunehmende Unbehagen verschwand auch nicht, als jemand den er nur vage vom Sehen kannte, ein Mann von nicht erwähnenswertem Äußerem, bei dem Heinz sich fragte, was er denn hier zu suchen hatte, und ob er wohl eine Art morbider Schaulustiger war, sich neben ihn gesellte und ihn leise ansprach, "Worauf warten Sie?", infolgedessen Heinz, überrumpelt von der Frage, kurz zu ihm aufschaute, den Blick wieder abwandte und schließlich "Darauf, dass die Trauerrede beginnt" erwiderte. Der Mann räusperte sich, fasste Heinz an der Schulter, was diesem unerhört aufdringlich
vorkam, und begann erneut zu sprechen, "Wie kann die Rede denn beginnen?", "Was meinen Sie damit?", "Nun, sie müssen Ihre Rolle schon spielen, ansonsten kann es nicht weiter gehen", "Welche Rolle?", "Das wissen Sie nicht?", "Nein", "Die Rolle des Verstorbenen", "Aber ich bin nicht verstorben", woraufhin sich Heinz' Mutter zu ihnen umdrehte, "Aber mein Junge, mach es uns doch nicht so schwer", und sich die Tränen aus den Augen wischte. Heinz war sich an dieser Stelle weniger denn je sicher, ob dies alles wirklich passierte. Die Realität nahm zwar des Öfteren groteske Formen an, das hatte er bereits festgestellt, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Belege in Form von absurden Zeitungsmeldungen, doch das Ausmaß dessen, was sich ihm hier offenbarte, überstieg alles, was sein Gehirn verarbeiten konnte, ohne zu kapitulieren. Wie in Trance stand er inmitten der Menschen, die um ihn trauerten, die Hand des Mannes lag noch immer auf seiner Schulter, was
er allerdings gar nicht mehr bemerkte, war seine Derealisation doch schon derart ausgeprägt, dass er auch seinen eigenen Körper als fremd empfand, sah von einem Gesicht zum anderen, und hörte sich wie aus der Ferne fragen, "Was erwartet ihr denn von mir?", als eine Person die wir bislang nur als anonymen Teil der Trauergesellschaft wahrgenommen haben, es war sein bester Freund aus der Schulzeit, wir wollen seinen Namen unerwähnt lassen, sagte: "Verhalte dich einfach so, wie es sich für einen Verstorbenen gehört." Die Blicke aller Versammelten ruhten auf Heinz, als er sich langsam in Bewegung setzte, und auch wir verfolgen, natürlich retrospektiv, seinen schweren letzten Gang. Als er am Sarg ankam, können wir sehen, wie sich der Pfarrer zu ihm gesellte, ein gütiges Lächeln auf den Lippen, und ihm versicherte, dass es nicht so schlimm sei, wie er vielleicht denken würde; Heinz sah ihn leblos an, wie es sich für einen Verstorbenen gehörte, und seufzte leise. Der Pfarrer öffnete den Sarg,
der, wie wir vielleicht schon geahnt haben, leer ist, und wies Heinz an, doch bitte seinen ihm zugedachten Platz einzunehmen, was dieser auch ohne den geringsten Widerstand tat, hatte er doch die Kontrolle über sein Schicksal schon vor längerer Zeit verloren. Da es nun an uns liegt der Erzählung einen vernünftigen Abschluss zu geben, wollen wir sagen, dass Dunkelheit ihn umgab, als der Sargdeckel geschlossen wurde, und dass er zu keinem letzten Gedanken mehr fähig war, wie auch wir nun am Ende unserer Worte angekommen sind.