Kapitel 1
Harland & Wolff Werft, Belfast 15.Oktober 1902
Ungemütlich blies der scharfe Wind über das Werftgelände und trug die Tropfen des Regens beinah waagerecht vor sich her. Trotz des miesen Wetters dröhnte der Lärm von Maschinen und Werkzeugen, die in irgendeiner weise den Stahl für künftige neue Schiffe bearbeiteten. Auf allem, ob das nun herumliegende Stahlträger, oder auch das Verwaltungsgebäude aus roten Ziegelsteinen war, lag eine schwarze,
schmierige Patina des Rauchs, der hier Tag täglich in die Luft geblasen wurde und sich unweigerlich auf allem was nicht überdacht war ablagerte.
Fünf Bedienstete in schwarzen Anzügen, Sekretäre oder persönliche Assistenten, hatten große schwarze Regenschirme aufgespannt um die Häupter ihrer Vorgesetzten und hochkarätigen Gäste trocken zu halten, was aber bei diesem scharfen Wind nur mäßig gelang. Nicht genug, dass der schmutzige Regen unter den Schirmen hinweg die dunklen Mäntel und die grauen Hosen der Herrschaften besudelte. Auch ihre glänzenden, schwarzen Zylinder auf den Köpfen drohten ihnen eins ums andere mal von
den Häuptern zu fliegen.
Am Fuße eines großen Trockendocks hielt eine der Persönlichkeiten inne und schaute sich um. Wenn nun jemand dachte er würde sich das Trockendock genauer anschauen, in dem gerade ein kleinerer Dampfer für den Schüttguttransport kurz vor dem Stapellauf stand, der irrte. Vielmehr überschaute er die riesige Freifläche, die sich diesem Dock anschloss und ebenfalls am Wasser lag. Im Moment diente dieser riesige Platz als überdimensionierter Lagerplatz für gewaltige Stahlplatten, dicke Stahlträger oder einfach nur kleineren Stählen in Form von Stäben oder kleineren Barren. Einiges davon wurde später
eingeschmolzen und zum vernieten der unzähligen Stahlplatten an einem solchen Schiffskörper verwendet.
„Sie meinen also der Platz hier würde für unsere Zwecke reichen, Lord Pirrie?“
Pirrie drehte sich um. „Sie belieben zu scherzen Mister Ismay!“ Lord William James Pirrie lächelte, ein wenig amüsiert über so wenig technischem Sachverstand seines potentiellen Auftragsgebers. „Sehen Sie diese Fläche umfasst insgesamt über fünfzig Hektar, eine Fläche mit einer Seitenlänge von 350 Meter mal 1450 Meter. Die Schiffe, die wir zu bauen gedenken sind wohl, wenn ich die Zahlen recht in Erinnerung habe, vom Bug bis zum Flaggenmast am Heck
269 Meter lang. Vertrauen Sie mir, wir bauen Ihnen ein Trockendock, so groß, dass wir glatt zwei dieser Schiffe zeitgleich bauen könnten.“
Pirrie ließ den Arm über das weitläufige Gebiet schweifen. „Sehen Sie nur, Wir haben hier soviel Platz, dass wir sogar in der Lage sind einiges des benötigten Materials zu bevorraten. Das stellt eine wichtige strategische Bedeutung dar. Da geben Sie mir doch recht Mister Andrews! Oder?”
Thomas Andrews, der jüngste in der Reihe von edlen Herren, begann zustimmend zu nicken. „Ich kann Lord Pirries Worten nur beipflichten. Das wichtigste bei einem Bauvorhaben, wie diese absolut
neuartigen Schiffe, ist ein reibungsloser kontinuierlicher Ablauf der Arbeiten. Wenn irgendwann die Arbeit nicht weiter geht, weil nicht genug Material da ist, können ganz schnell die Kosten für einen solchen Schiffsbau explodieren!“
„Besser hätte ich es nicht erklären können!“, übernahm wieder Lord Pirrie das Wort. „Danke Mister Andrews! Allein was wir schon an Kosten sparen, weil das Gelände von Natur aus direkt am Wasser liegt und ein leichtes Gefälle aufweist, ist enorm! Wir brauchen nur ein Minimum an Landmasse bewegen. Das spart einige tausend Pfund und sehr viel wertvolle Zeit.“
„Mir gefällt die Sache immer besser!“,
rief Joseph Bruce Ismay freudig. „Dann lassen Sie uns drinnen noch einmal einen Blick auf die Pläne werfen. Wie Sie andeuteten Mister Carlisle, sollen diese Schiffe wahre Wunderwerke der modernen Technik werden. Die wesentlichsten Details sollten Sie mir unbedingt noch einmal erklären!“
„Aber sicher doch!“, antwortete der letzte im Bunde, ein Mann in den mittigen Vierzigern, mit einem buschigen, dunklen Oberlippenbart, der an seinen Enden gekonnt gezwirbelt war. „Jedoch die meisten innovativen Neuerungen in dieser Baureihe entstammen dem schöpferischen Geist und der Feder von meinem sehr verehrten Freund und Kollegen Mister
Andrews!“
„Ach das ist jetzt aber zu viel des Lobes Mister Carlisle“, tat Thomas Andrews etwas verlegen. „Aber ich bin gerne bereit, die Pläne für unsere Gäste noch einmal zu präsentieren!“
„Ja dann meine Herren!“, entschied schließlich Lord Pirrie, der Firmenchef der Werft. „Lassen Sie uns in mein Büro zurück gehen. Da ist es bei weitem gemütlicher. Und bei einer Zigarre und vielleicht einem Brandy kann uns Mister Andrews alles noch einmal erklären!“
Die Abordnung machte kehrt und eilte dem Verwaltungsgebäude entgegen. Die Bediensteten, unter ihnen der persönliche Sekretär von Joseph Bruce Ismay, hatten
ihre liebe Mühe Schritt zu halten und die Herrschaften so halbwegs vor dem noch immer peitschenden Regen zu schützen.
Im warmen Büro von Lord Pirrie, welches mehr schon einem Salon eines edlen Hotels ähnelte, saßen in schwarzen ledernen Sesseln die Herren von eben und rauchten genüsslich ihre dicken Zigarren. Dabei nippten sie hin und wieder an einem Glas Brandy, während Thomas Andrews vor einer Art Staffelei stand, an der übersichtlich die Pläne für die neuen Schiffe angebracht waren.
„Meine Herren! So soll Sie einmal aussehen, die neue Olympic-Klasse. Olympic-Klasse deswegen, weil das erste
Schiff dieser Reihe einmal Olympic heißen wird. Mit diesen Schiffen schlagen wir wahrlich ein neues Kapitel in der zivilen Passagierschifffahrt auf. Noch nie wurden Schiffe in dieser Größe, mit dieser Sicherheit, mit diesem höchstmöglichen Komfort und einem Höchstmaß an Reisegeschwindigkeit entwickelt. Gleichwohl diese Schiffe noch immer sehr schnell sein werden, wird sich doch mit diesen Schiffen eine gänzlich neue Philosophie der zivilen Passagierschifffahrt entwickeln. War man doch bisher bestrebt, die Passage von und nach Amerika so schnell wie möglich zu bewältigen, werden künftig die Gäste die Dauer der Reise dazu benutzen sich zu
erholen, die Reise zu einer immer währenden positiven Erinnerung werden zu lassen, über die man noch in vielen Jahren in den höchsten Tönen schwärmen wird. Es gab da einen chinesischen Philosophen, namens Konfuzius, der prägte den Spruch –Der Weg ist das Ziel! Lassen Sie uns fortan diesen Spruch auf unsere Fahnen schreiben.
Was ist nun so revolutionär an der Olympic - Klasse? Zuerst fällt einem natürlich ihre gewaltige Größe auf. Alles zusammen wird sie 269 Meter lang und 28 Meter breit sein. Ihre Maschine wird von 53 Kesseln angetrieben, die in sechs Blocks betrieben werden. Dabei erreicht Sie eine beachtliche Leistung 51000 PS.
Die drei angetriebenen Wellen vermögen das Schiff auf 21 Knoten zu beschleunigen. Die Olympic - Klasse wird einmal so sicher sein, dass man fast sagen kann, sie ist unsinkbar.“
„Unsinkbar!?“, warf Ismay fast außer sich vor Freude dazwischen.
„Sie ist wirklich sehr sicher. Sehen Sie, wir werden den Bugbereich der ja den kritischsten Punkt bei einer Kollision darstellt durch extra dicken und extra vergüteten Stahl, der dreifach vernietet ist, verstärken. Zusätzlich haben wir in dem Schiff, und das ist die absolute Neuheit, vom Kiel bis hinauf über die Wasserlinie, über die gesamte Länge des Schiffes verteilt, 15 wasserdichte
stählerne Schottwände vorgesehen, ohne den höchst möglichen Komfort zu vernachlässigen. Einzig über Schottore, die im Notfall automatisch in kürzester Zeit wasserdicht verschlossen werden können, sind die einzelnen Bereiche des Schiffes zu erreichen.
Selbst wenn das Schiff durch eine Kollision angeschlagen wird, laufen vielleicht ein oder zwei Bereiche des Schiffes voll Wasser, was unser Schiff aber noch lange nicht veranlasst unterzugehen. Selbst in dieser misslichen Situation, vermag es sich noch aus eigener Kraft, aufgrund seiner 51000PS, in den nächsten rettenden Hafen zu schleppen. Sollte der unwahrscheinliche
Fall eintreten, dass wir das Schiff dennoch evakuieren müssen, wird das Schiff mit sechzehn Hochleistungsdavids ausgestattet sein, die in der Lage sein werden, in kürzester Zeit jeweils 4 Rettungssboote mit Platz für jeweils 65 Personen abzufieren. Sollte das noch nicht genügen, stünden vier zusätzliche kleinere faltbare Rettungsboote zur Verfügung, die noch einmal Platz für weitere 180 Personen bieten würden. Rein theoretisch könnte man auf einem solchen Schiff innerhalb einer Stunde 4340 Personen evakuieren. Was natürlich nur rein mathematisch zu sehen ist. Immerhin ist das ein Passagierschiff für maximal 2300 Passagiere und etwa 900 Mann
Besatzung und kein Truppentransporter der Navy!“
Mit einem eigenartigen Blick schauten sich Mister Ismay und Lord Pirrie an.
„Was natürlich an diesen Schiffen bestechend sein wird ist Ihr Komfort, der ohne Probleme mit dem luxuriösen Standard eines erstklassigen Grandhotel mithalten kann. Unseren Passagieren wird es an nichts mangeln. Selbstverständlich gibt es auch Bereiche der zweiten und der dritten Klasse, die auch nicht das erforderliche Maß an Diskretion missen lassen. Ich glaube Mister Ismay, dass wir Ihnen die neuen Kronjuwelen Ihrer White Star Line bauen werden.“
„Mister Andrews! Haben Sie schon so
ungefähr einen Überblick auf wie viele englische Pfund sich die Baukosten belaufen würden?“
„Wir haben es grob überschlagen. Für eine genaue Berechnung spielen zu viele unbekannte Faktoren eine Rolle. Wie ist die weltpolitische und weltwirtschaftliche Lage in etwa drei Jahren? Wie entwickeln sich die Stahl- und Kohlepreise? Wir haben die entsprechenden Kurse und Trends analysiert und, basierend auf diesen Zahlen, eine wahrscheinliche Prognose erstellt. Darauf gestützt, haben wir kalkuliert. Am Ende würden sich die Baukosten auf etwa 1,5 Mio. englische Pfund je Schiff
belaufen.“
Einen Moment herrschte Schweigen und Joseph Bruce Ismay schien zu grübeln. Gespannt wartete der Vorstand der Harland & Wolff Werft auf die Entscheidung des Reedereichefs der White Star Line. Man hätte in diesem Moment eine fallende Stecknadel hören können.
„Meine Herren!“, begann Mister Ismay. „Das ist ein stolzer Preis für ein stolzes Schiff!“
„Wir haben wirklich am untersten Limit kalkuliert!“, beteuerte Lord Pirrie sogleich.
„Das glaube ich Ihnen gern Lord Pirrie! Ich persönlich bin auch schwer beeindruckt. Aber geben Sie mir noch
diese Nacht Bedenkzeit, bevor ich eine Entscheidung treffe. Morgen früh rufe ich Sie an Lord Pirrie!“
New York, gegen Mittag auf dem Anwesen des J.P. Morgan
Der alte John Pierpont Morgan, der sich selbst lieber nur J.P.Morgan nannte, saß an seinem langen Chippendale zu Tisch und ließ sich den nächsten Gang servieren. Ihm gegenüber am anderen Ende dieses langen Tisches saß seine Frau. Hätte er seiner Frau etwas sagen wollen, würde er es rufen müssen, so weit
saßen sie auseinander. Aber gerade das war ja auch der Sinn eines Chippendale, beim Essen die nötige Distance zu wahren. Und es hatte einfach Stil! Tcha! Und J.P. Morgan mochte ein stilvolles Leben! Ein Leben mit Stil und Prinzipien. Diese einfache wie geniale Lebensphilosophie hatte das aus ihm gemacht was er heute war, einer der reichsten Männer der Welt und einer der mächtigsten Männer der vereinigten Staaten von Amerika. Hatte er es doch in den Jahren seines Schaffens erreicht, so ziemlich den kompletten Finanzsektor der vereinigten Staaten und die mächtige Stahlindustrie unter seine Kontrolle zu bringen. Defakto hatte er inzwischen die
USA in seiner Gewalt. Würde J.P.Morgan den Geldhahn zudrehen, wäre die USA innerhalb kürzester Zeit zahlungsunfähig. Lebe mit Stil und bleibe Deinen Prinzipien unbedingt treu. Diese beiden Punkte haben ihn an die Spitze der Macht gebracht.
Ein Bediensteter im schwarzen Frack und mit weißen Handschuhen, den man brauchte um an einem Chippendale essen zu können,betrat den großen Saal. Er lief zügig auf J.P.Morgan zu. In seiner Hand hielt er ein silbernes Tablett, auf dem ein Couvert lag.
„Es tut mir leid Sir, wenn ich Sie beim Essen störe. Aber soeben ist hier ein Telegramm aus Belfast
eingetroffen.“
„Ja! Ja! James! Schon gut! Geben Sie es mir!“ Ohne abzuwarten nahm J.P.Morgan das kleine Couvert vom Tablett und riss den Papierumschlag auf. Interessiert las er den kleinen Zettel darin
Olympic – Klasse+++ stopp+++ bis zu 3400 Passagiere+++ stopp+++ sehr gutes Schiff+++ stopp+++ 1,5Mio.Pfund+++ stopp+++ erbitte Entscheidung+++ stopp +++ Ismay+++stopp
Nach dem Essen rief J.P. Morgan den Präsidenten der vereinigten Staaten an und unterrichtete ihn von dem erfolgreichen Coup, der seinem IMMC
gelungen war, jenes Konsortium, dass J.P.Morgan auf Wunsch des Präsidenten mit dem deutschen Hapag Loyd und anderen ausländischen Investoren gegründet hatte. Die USA hatten es endlich geschafft, und dem britischen Monopol auf den Weltmeeren endgültig Einhalt geboten. Vorbei waren nun die Zeiten, wo das britische Empire mit Ihrer Royal Navy die Geschicke auf den Weltmeeren allein lenkte!
Am nächsten Morgen bekam die Harland & Wolff Werft in Belfast den Zuschlag, die Olympic – Klasse bauen zu dürfen.