Als ich heute von meiner Berufsausbildung komme, begrĂĽĂźt mich mein Kater Finn schon vor dem Haus. Miauend streicht er um meine Beine.
  „Na du? Auch so früh daheim?“, sage ich lachend, schließe die Tür zu meiner Wohnung auf der hinteren Seite des Hauses auf. Es ist kurz nach fünf, normalerweise komme ich erst halb sieben heim. Aber heute hat mein Chef eher Schluss gemacht.
Ich stelle meine Tasche in dem geräumigen Flur ab, lächle im
Vorbeilaufen dem Foto meiner Eltern zu und gehe in die Küche. In dem oberen Regal steht Finns Futter und ich suche zusätzlich noch die Fischreste von gestern Abend aus dem Kühlschrank und stelle alles dem Stubentiger neben seine Wasserschale. Hungrig beginnt er zu fressen.
Ich seufze und öffne den kleinen Speiseschrank um zu sehen, ob ich noch etwas zum Abendbrot dahabe. Wenn nicht, muss ich noch einkaufen gehen.
Ich habe noch Nudeln, die ich in Salzwasser schmeiĂźe, auf den Herd stelle und mich dann vor den Fernseher setzte.
Es kommt eine Krimiserie, die ich zur Hälfte anschaue und dann meine Nudeln aus dem Wasser hole. Dann schiebe ich „Herr der Ringe“, Teil 1, in den DVD-Player und setzte mich wieder vor die Mattscheibe.
Es war kurz nach halb neun, als ich den leeren Nudelteller in die Küche bringe und den zweiten Teil der Trilogie einlege. Während der Vorspannt die besten Filme anpreist, gehe ich ins Bad und tausche meine Klamotten gegen einen dunkelblauen Jogginganzug. Dann gehe ich zurück ins Wohnzimmer, doch bevor ich den Film starten kann, klingelt
mein Telefon. Ich schaue auf das Display – es ist meine Betreuerin vom Jugendamt.
  „Ja?!“, melde ich mich.
  „Hey Mike, hier ist Lola Valpence!“, kommt die dunkle Frauenstimme aus der Leitung. Ich bin mal wieder etwas verwundert, die Stimme von Lola ist fast so tief wie meine eigene.
  „Hey Lola, was gibt es denn?“, frage ich neutral.
  „Ja, es … ach, entschuldige erstmal, dass ich noch so spät anrufe, aber ich
muss dich fragen, ob du dir das mit der neuen Wohnung nochmal überlegt hast. Ich meine es könnte schwierig werden, aber theoretisch ist es zu machen und …“
  „Ja Lola, ich habe es mir nochmal überlegt!“, unterbreche ich die Anfang-dreißig-Jährige, bevor ich mir wieder ein ihrer berühmte Reden anhören muss. „Ich werde diese Wohnung behalten. Sie brauchen Sich keine Sorgen machen!
  „Ach Mike, das ist wunderbar!“, sie klingt deutlich erleichtert und scheint gedanklich einen Haken an die Sache zu machen. „Dann wünsche ich dir noch
einen schön Abend und dann ein schönes freies Wochenende!“
Ich nicke. „Dankeschön, das werde ich haben!“ Meine Güte, was die Frau alles weiß …
  „Ja … Tschüss!“ Sie legt auf. Ich seufze und lege das Telefon weg. Dann starte ich den Film – auf Spanisch.
Als ich aufschrecke, läuft gerade der Abspann. Finn liegt zu meinen Füßen, die Fernbedienung ist runtergefallen. Aber davon bin ich nicht aufgewacht.
Es klingelt … mein heimlicher Wecker. Ich stehe auf und schlurfe zur Tür. Die Wanduhr im Flur sagt mir, dass es kurz vor Mitternacht ist. Wer will so spät noch etwas von mir?
Ich schaue durch den TĂĽrspion, kann aber auĂźer einer schwarzen Silhouette in dem defusen AuĂźenlicht vor meiner TĂĽr nichts erkennen.
Ich öffne die Tür, draußen schüttet es aus vollen Kübeln und auf einmal bin ich froh für das kleine Vordach vor der Wohnungstür.
Vor mir steht eine Person, vielleicht fünfzehn Zentimeter kleiner als ich, mit gesenktem Kopf und völlig durchnässter, dunkler Kleidung. Das Haar hängt in triefenden Strähnen vom Kopf und der Körperbau macht deutlich, dass es sich bei der Person um ein Mädchen handelt.
  „Wer bist du?“, frage ich und runzele die Stirn. Das Mädchen hebt langsam den Kopf.
Ich mache vor Schreck zwei Schritte zurĂĽck. Ich kenne sie.
  Ich hasse sie. Ich verfluche sie, seitdem ich sie gesehen habe.
Das Mädchen schaut mich an und hebt langsam die Hand. Darin liegt eine Schusswaffe. Sie hebt die Hand bis auf Brusthöhe und schaut mich weiterhin nur an.
Das Gesicht, dass ich nie vergessen werde. Die Person, die ich nie vergessen werde.
Der Mörder meiner Eltern.
Nach ein paar Momenten habe ich mich von meinem Schreck erholt, trete noch
einen Schritt zurück und will die Tür einfach zuknallen. Doch ihr dunkler, seltsamer Blick lässt mich erstarren.
Da steht sie, im Regen. Die Person, die ich fĂĽr immer verfluchen werde.
Vor mir, still. DemĂĽtig.
Das Gesicht … es ist das, was ich nie vergessen werde.
Es ist tot, es ist der Tod. Der Tod meiner Eltern.
Ich schaue ihr in die Augen. Diese Augen.
Warm und kalt zugleich. Und unendlich ehrlich. Trotz der Waffe, die locker in ihrer halb erhobenen Hand liegt.
Und dann senkt sie wieder denn Blick. Sie atmet tief ein. Sie öffnet die Hand und die Pistole fällt vor meinen Füßen auf den Marmor. Dann dreht sie sich um, will gehen.
  „Hey!“, höre ich meine eigene Stimme. „Du holst dir noch den Tod …!“ Welch Ironie. „Komm rein!“
Der Blick, mit dem sie mich jetzt anschaut, drĂĽckt vollkommene Verwirrung aus. Ich habe keine Ahnung, was ihre wirklichen Absichten sind, aber das, was ich da gerade gesagt habe, passt eindeutig nicht in ihr Konzept.
  „Das willst du nicht …“, flüstert sie mit dumpfer, krächzender Stimme. Wer weiß, wie lange sie schon vor meiner Tür stand, ehe sie sich getraut hat, zu klingeln.
  „Doch, will ich!“, ich bin selbst erstaunt von der Festigkeit meiner Stimme und trete einen Schritt zur Seite, sodass sie problemlos in die Wohnung
kommen könnte.
Sie schüttelt den Kopf, bleibt aber stehen. Ich sehe an ihrer Mimik, wie gerne sie ins Trockene will – es aber einfach nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren kann.
Sie dreht sich wieder zu mir und erst jetzt fallen mir ihre nackten FĂĽĂźe auf. Und das Ende Oktober.
  „Wieso hast du keine Schuhe an?“, frage ich leise und werfe einen kurzen Blick auf meine eigenen unbedeckten Füße.
 „Weil ich keine habe“, sie legt den Kopf schief und fasst sich mit der einen Hand an die Hüfte. „Ich habe sie dir gegeben!“
Stimmt, sagt mein Unterbewusstsein und schiebt die Bilder von jenem Abend, die ich eigentlich vergessen wollte, vor mein inneres Auge. Das Mädchen, wie sie dasteht, mit erhobener Waffe. Vollständig in schwarz gekleidet schaut sie mich an, an mir herunter, sieht meine nackten Füße, zieht seine Schuhe aus, kickt sie in meine Richtung und rennt aus dem Hotelzimmer.
  „Komm rein!“, sage ich nochmal und
atmete tief durch. Nach ein paar Sekunden des Zögerns setzt sich das Mädchen wirklich in Bewegung und betritt meine kleine Wohnung. Sie schaut sich um, sieht das Bild meiner Eltern und blickt zu Boden. Ich mache die Tür hinter ihr zu.
Wie blöd bist du denn, Mike?, kläfft meine Vernunft. Sie hat dir deine Familie genommen – und du lässt sie in deine Wohung?
Ich schĂĽttele den Kopf und gehe vorsichtig an ihr vorbei. Die Pistole liegt immer noch vor der HaustĂĽr. Ich gehe ins Bad und ziehe ein Handtuch aus
dem Schrank, welches ich ihr hinhalte. Sie nimmt es schweigend, aber dankbar, entgegen.
  „Warum bist du hier?“, frage ich vorsichtig. Sie zuckte mit den Schultern, immer noch auf den Boden schauend.
  „Ich weiß es nicht …“, sie sagte es so, als wolle sie sich gleich noch erklären, aber das tat sie nicht. Ich räusperte mich. „Willst du dich nicht setzen?“ Ich deute auf die Couch im Wohnzimmer. Das Mädchen schaut mich an und zuckt wieder mit den Schultern. Eingewickelt in ein großes blaues Handtuch folgt sie mir dann wirklich
zum Sofa und setzt sich vorsichtig auf die Kante der breiten Sitzfläche.
  „Danke …“, haucht sie und wischt sich etwas aus dem Gesicht, was trotz der allgemeinen Nässe verdächtigt nach Tränen aussah.
  „Kein Problem …“, meine ich leise und lehne mich an die Wand. „Ich bin übrigens Mike …“
Sie nickt. „Ich weiß“
Eine Weile ist es still und ich ĂĽberlege fieberhaft, was ich jetzt mache.
 „Wie heißt du?“, frage ich irgendwann gepresst, weil ich kurz davor stehe, in Tränen auszubrechen.
  „Sira“, flüstert das Mädchen und schließt die Augen. Ihre Miene ist komisch verzerrt und mir fällt auf, wie sich das Handtuch an der Stelle ihrer linken Hüfte rot färbt.
  „Du blutest!“, rufe ich und Sira schaut mich entsetzt an. „Hast du dich verletzt?“ Ich schaue sie ebenfalls erschrocken an und mache einen Schritt auf sie zu. Sie schreckt zurück, springt auf, lässt das Handtuch fallen und bringt sie in der Ecke des Raumes in
Sicherheit.
 Ich will auf sie zu treten, fühle mich plötzlich stark und nicht mehr ängstlich, da fängt sie an zu wimmern und sackt zu Boden. Ich bleibe stehen und überlege.
  „Ich rufe einen Krankenwagen!“