Harland &Wolff Werft, Belfast am 5.Oktober 1911 Wie das weit aufgerissene Maul eines Riesenmonsters, klaffte den vier Herren das schrecklich große Loch in der Schiffshaut der „Olympic“ entgegen. Die leitenden Ingenieuren der Werft Carlisle und Andrews, sowie der Werfteigner Lord Pirrie und White Star Manager Ismay waren erschüttert vom Ausmaß der Zerstörung. Die Wucht der Kollision hatte zahlreiche Nieten bersten lassen, die zuvor die einzelnen Stahlplatten
zusammen hielten. Obwohl jeder einzelne Niet wenigstens einen Kinderarm dick war, hatten die Kräfte diese Stahlverbindungen einfach weg sprengen lassen. Nach allen Seiten des dreieckig wirkenden Loches fuhren diese Risse, Blitzen gleich, durch den Stahl. Mit den Händen in den Taschen starrte Lord William James Pirrie sprachlos auf das Loch und umriss mit seinen Augen die zum Teil gefalteten, gerissenen oder einfach nur nach innen gebogenen Kanten. In Gedanken versuchte er sich aus zu mahlen wie man dieses Ausmaß der Zerstörung beheben wollte. „Mister Andrews! Sie haben sich den Schaden auch schon von innen betrachtet.
Wie schlimm ist es und inwieweit können wir die Olympic wieder flott bekommen.“ Thomas Andrews, der noch zerknirschter drein schaute als all die anderen Anwesenden, wiegte unsicher den Kopf hin und her, als suche er nach den richtigen Worten. „Ich möchte es so beschreiben. Wir bekommen sie wieder flott. Aber die Olympic wird nie wieder die Alte sein. Die Kollision hat neben den sichtbaren Schäden, die schon schlimm genug sind, auch die strukturelle Integrität des gesamten Schiffskörpers in Mitleidenschaft gezogen. Zudem ist die Antriebswelle der Steuerbordseite beschädigt worden und muss erneuert werden. Die Olympic wird nie wieder voll
belastet werden können.“ „Mit einfachen Worten“, mischte sich jetzt Joseph Bruce Ismay mit einem erstaunlich sachlichen Tonfall ein. „Die Olympic ist nur noch ein Wrack.“ Pirrie war erstaunt. Er hatte jetzt mit einem Tobsuchtsanfall von Ismay gerechnet, weil das „Baby“ der White Star Line einen technischen und wirtschaftlichen Totalschaden erlitten hat. „Wie gesagt, man bekommt sie wieder repariert. Aber man sollte sich realistisch fragen ob ein solcher Aufwand die enormen Kosten rechtfertigen würde. Es sind ja nicht nur die immensen Material- und Reparaturkosten die schon jetzt bei
etwa 150000 englischen Pfund liegen, die Schäden, die wir noch nicht entdeckt haben sind hier noch gar nicht mit einbezogen. Hinzu kommt die mehrmonatige Ausfallzeit, die 900 Mann der Crew, die weiter unterhalten werden müssen und nicht zuletzt die Verdienstausfälle der Olympic selbst. Rechnen wir alles zusammen, bewegen wir uns in einem Bereich von 250000 englischen Pfund, mit denen wir rechnen müssen, sollte nichts weiter an Schäden hinzu kommen.“ Ismay schaute auf das Wrack und rieb sich das Kinn. „Es ist also ein wirtschaftlicher Totalschaden. Die Kosten kann dieses Schiff, selbst wenn es noch
zwanzig Jahre über die Meere schippern würde nicht mehr einfahren. Geben Sie mir da recht?“ „Zu meinem Bedauern, leider ja!“ „Dann müssen wir wohl auf einen günstigen Verlauf des Prozesses beim obersten königlichen Seegericht hoffen.“ Plötzlich drehte sich Mister Ismay um und zeigte auf Pirrie. "Noch heute werde ich offiziell die Olympic als Wrack deklarieren. Auf diese Weise können wir fristlos die Besatzung entlassen. Da haben wir schon mal die Lohnkosten gespart. Sie Lord Pirrie leiten alles in die Wege, dass die Olympic wieder zusammen geflickt wird und einen neuen schwarz weißen Anstrich bekommt. Ich werde die
besten Anwälte zusammen trommeln, auf dass wir diesen Prozess gewinnen.“ Ismay schaute in die Runde. „Wie hat Mister Andrews damals so vortrefflich formuliert: Die Olympic-Klasse ist unsinkbar.“ Wie wir alle wissen sollte sich Mister Ismays Hoffnung nicht erfüllen. Anfang Januar sind die Reparaturarbeiten an der „Olympic“ abgeschlossen worden. Jedoch ging sie bis zum Frühling nicht mehr auf große Fahrt. Die Fertigstellung der Titanic verzögerte sich, da man etliche Ersatzteile für die Reparatur der „Olympic“ benutzte, wie zum Beispiel die Antriebswelle der Steuerbordseite. Unter Aufwendung aller zur Verfügung
stehender Mittel wurde das Wrack der Olympic wieder seetüchtig gemacht. Auch wenn sich dadurch die Jungfernfahrt der Titanic wieder einmal um weitere vier Wochen verschob.
Arbeitszimmer auf dem Morgan´schen Anwesen in New York, 20.Oktober 1911, 09.45Uhr Vor sich auf dem wuchtigen Schreibtisch lag der ausführliche Bericht der Harland &Wolff Werft in Belfast. J.P. Morgan erkannte schon beim ersten überfliegen des Berichtes, dass die „Olympic“ einen
wirtschaftlichen Totalverlust darstellte. Die Arme vor der Brust verschränkt lehnte er sich grübelnd in seinem breiten ledernen Bürostuhl zurück. Missmutig schniefte er durch seine runde knollenartige Nase, welche von einer heftigen Rosazea sehr entstellt wurde. Was war zu tun? Wenn er nichts unternahm, würden die Verluste weiter explodieren. Die „Olympic“ entwickelte sich mehr und mehr zu einem Fass ohne Boden. Irgendwie musste er die Notbremse ziehen. Aber wie? Die "Olympic" befand sich doch bereits im freien Fall. Es klopfte an der großen schwarzen Tür. „Ja!“, rief Morgan ungehalten, da es
jemand wagte ihn beim denken zu stören. Leise ging die Tür auf und lautlos trat Morgans Butler in den Raum. Er verschloss sorgsam die Tür und verneigte sich ein wenig vor seinem Herrn. „Entschuldigen Sie die Störung Sir. Im Salon wartet Kommodore Smith und wünscht vorgelassen zu werden.“ „Jetzt schon?“ J.P. war etwas verwundert, hatte er sich doch mit Kapitän Smith von der Olympic erst in einer halben Stunde verabredet. „Ja gut! Also wenn er schon da ist, schicken Sie ihn eben rein.“, lenkte J.P. kurzerhand ein und winkte lapidar ab. „Sehr wohl Sir!“ Der Butler verschwand ebenso lautlos wie er eingetreten war. Morgan war es eigentlich ganz recht, dass
Smith schon jetzt da war. So konnte er sich ausführlicher mit ihm unterhalten. Manchmal hatte ja Smith eine Idee, wie man die Verluste eindämmen könnte. Wenig später klopfte es erneut an der Tür. „Ja!“ Wiederum trat der Butler ein. „Kommodore Smith, Sir!“, kündigte er den Kapitän der Olympic an und trat beiseite um den selbigen eintreten zu lassen. Ein stolzer älterer Herr mit schon weißem Haar und einem Vollbart trat ein. Er nahm höflich seine Kapitänsmütze ab. Durch seinen Vollbart ließ sich ein schmales aber freundliches Lächeln erkennen. „Ah Kapitän Smith!“, begrüßte Morgan
seinen Gast freundlich. „Nehmen Sie doch Platz!“ Morgan deutete auf den bequemen Sessel für Besucher, auf der anderen Seite des Schreibtisches.
„Darf ich ihnen etwas anbieten? Einen Brandy vielleicht oder eine Zigarre?“ „Zu freundlich Mister Morgan, weder noch. Bestenfalls könnten Sie mir mit einer Tasse Tee eine Freude bereiten.“ „Tee?“, fragte Morgan sichtlich überrascht darüber, dass ein Gentleman wie Smith weder Brandy noch einer guten Zigarre zusprach. „Earl Grey, ohne Zucker wenn möglich.“ Smith lächelte höflich. „Natürlich! James!!“, rief Morgan zum Butler rüber der immer noch, eben solche
Wünsche erwartend, in der Tür stand. „Sie haben meinen Gast gehört.“ „Sehr wohl Sir!“ Der Butler verbeugte sich leicht und verließ auch schon das Arbeitszimmer. „Mister Smith! Es ist schön, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten mir diesen Besuch abzustatten.“ „Mister Morgan, Sie werden sicherlich verstehen, dass ich im Moment nicht allzu viel zu tun habe.“ Beide Männer lachten leicht, mehr gezwungen. Es klang auch alles andere als heiter. „Genau deswegen habe ich Sie auch gebeten mich zu besuchen. Sehen Sie, Mister Smith, wir müssen uns nun
überlegen wie es weiter gehen soll. Ich weiß nicht, ob Sie mit dem Untersuchungsbericht von Harland & Wolff bezüglich der Olympic vertraut sind.“ Morgan reichte Kapitän John Smith den Brief aus Belfast. Der Kapitän las sich den Brief gewissenhaft durch, nickte dabei ab und zu und ließ ein fast brummendes „Hmm!“ vernehmen. Wieder einmal klopfte es kurz an der Tür und Butler James trat mit dem gewünschten Teegedeck für Kapitän Smith ein. Zügig aber dennoch elegant stellte er das Gedeck vor Kapitän Smith ab und verließ nahezu lautlos das Arbeitszimmer. „Ja mein lieber Smith! Was halten Sie
davon!“, fragte Morgan neugierig. „Nun ja! Im wesentlichen bestätigt dieser Bericht was ich schon seit dem Tag des Angriffes vermutet habe. Sir, die Olympic ist fertig und würde durch keine Sicherheitskontrolle in jedem Hafen kommen, den sie anlaufen möchte.“ „Wir sprechen hier über 1,5 Mio. Pfund also 7,5 Mio. Dollar Verlust, Mister Smith ist ihnen das klar. Mit der Olympic-Klasse steht und fällt alles. Die White Star hat in diese Serie alle Kraft und Ressourcen investiert. Ein Scheitern ist inakzeptabel! Mister Ismay hat weitblickend die Olympic vorübergehend stillgelegt, damit wir wenigstens die anfallenden Personalkosten sparen
können. Aber dennoch gehen uns mit jedem Tag Liegezeit Tausende von Dollar verloren und der Versicherungswert dieses Schiffes liegt bereits jetzt im Keller. Wie kommen wir aus diesem Schlamassel wieder raus?“ Einen Moment herrschte Schweigen und Morgan schaute sein Gesprächspartner fragend an. Dieser begann schließlich wieder zu lächeln. „Dann müssen wir die Versicherungen dazu bewegen, den Versicherungswert eines neuen Schiffes zu bezahlen.“ Den ersten Augenblick machte sich Ratlosigkeit in Morgans Gesicht breit. „Aber die Olympic ist Schrott! Keine Versicherung der Welt würde den
Neupreis für sie bezahlen.“ „Ach habe ich gerade von der „Olympic“, der Zwillingsschwester der „Titanic“ gesprochen?“ Jetzt begann Morgan zu begreifen und lachte lauthals vor Erleichterung. Die perfekte Lösung war gefunden! Diese Neuigkeit war so vortrefflich, dass sich Morgan darauf einen Brandy aus seiner kleinen Hausbar einschenkte. „Mister Smith! Die Idee ist sehr gut! Die hätte glatt von mir sein können! Wenn wir diese Idee umsetzen, versteht es sich von selbst, dass dies unter aller größter Geheimhaltung geschehen muss!“ „Selbstverständlich Sir! Sie haben das Wort eines
Ehrenmannes.“ „Da bin ich mir ganz sicher. Wenn es denn soweit wäre, könnte ich dann auf ihre Kooperation zählen?“ „Nun ja, Mister Morgan! Dies würde bedeuten dass unter meinem Kommando ein nagelneuer Ozeanriese untergeht. Meinen Sie nicht, dass das ziemlich stark meine Reputation als Offizier der christlichen Seefahrt ramponiert?“ „Da verstehe ich sie voll und ganz Mister Smith!“ Morgan zog aus seinem Schubfach ein Scheckheft und ein Blatt Papier hervor. „Mister Smith. Ich schreibe jetzt auf diesen Zettel eine Ziffer mit mehreren Nullen auf und werde ihnen diesen mit einem Stift herüber
reichen. Entweder ist ihnen diese Zahl in Dollar eine ramponierte Reputation wert, oder sie hängen noch ein oder zwei Nullen an die Zahl ran. Morgan kritzelte auf den Zettel eine Zahl und faltete ihn einmal in der Mitte. Nun schob er diesen Zettel mit Stift zu Smith rüber. Zögerlich nahm er den Zettel entgegen und faltete ihn auf. Einen Moment betrachtete er sich die Zahl und kritzelte ebenfalls kommentarlos auf dem Zettel herum. Smith schob Stift und Zettel zurück zu Morgan. J.P. entfaltete den Zettel, las die Zahl und reichte Smith die Hand. „Mister Smith! Ich beglückwünsche Sie! Ab sofort sind Sie der Kapitän der
Titanic.“ Smith erwiderte den Händedruck lächelnd. „Sehr gut Mister Smith! Ich würde sagen, dass sie einen Stab von Vertrauensleuten benennen. Allein werden sie ein solches Unterfangen nicht bewerkstelligen können.“ „Das werde ich machen, Sir!“, antwortete Smith weiterhin im ruhigen Ton, als würden sie den Dienstplan in einem Großraumbüro durchgehen. „Ich müsste mich jetzt leider entschuldigen, ich habe noch einiges zu tun. Ich bin untröstlich! Wegen der Details werde ich mich bei ihnen melden.“ Morgan stand auf, quasi als Zeichen, dass Smith doch jetzt bitte gehen
möchte. Der verstand auch den Wink, erhob sich und verabschiedete sich von Morgan mit einem festen Händedruck. Kaum hatte Smith das Arbeitszimmer verlassen, griff Morgan nach dem Telephonhörer und drehte an der Kurbel. Am anderen Ende der Leitung meldete sich seine Chefsekretärin. „Miss Miller kommen sie doch bitte in mein Büro. Wir müssten für zahlreiche Geschäftsfreunde sofort Einladungen für die Jungfernfahrt der Titanic verschicken. Ich erwarte Sie in zwanzig Minuten. Zwischenzeitlich werde ich eine Liste der Geschäftsfreunde erstellen. Sehr gut!“ Morgan hängte den Hörer ein und begann
damit die Liste mit den Namen der in Frage kommenden „Geschäftsfreunde“ aufzuschreiben. Ganz oben setzte er die richtig wichtigen Namen auf die Liste. Die anderen Namen könnte man als schmückendes Beiwerk bezeichnen: 1. Colonel John Jacob Astor 2. Benjamin Guggenheim 3. Isidor Strauss 4. George Widener 5. Charles Hayes : : : Mit die reichsten und elitärsten Mitglieder der amerikanischen Oberschicht sollten auf dieser Liste
stehen. Jeder Einladung würde jene Liste beigefügt, damit der Geladene erkennen konnte, in welch elitärer Gesellschaft man reisen würde. Im Hafen von Belfast, am 3.März 1912 Wieder musste Charly einer blitzschnellen Messerattacke seines Gegners ausweichen. Doch diesmal machte er einen gekonnten Schritt zur Seite und ließ den Arm mit dem Springmesser ins leere laufen. In der Bewegung schnappte sich Charly den Arm von Rouney, zog diesen weiter und brachte damit seinen Gegner vollendens
zu Fall. Er verdrehte Rouneys Arm so stark, dass der vor Schmerzen laut aufschrie und sein Messer fallen ließ. Nun war es für Charly ein leichtes Rouney Starks entgültig zu überwältigen. Er zog den entwaffneten Rouney auf die Beine und verpasste ihm einen kräftigen rechten Kinnhaken, der ihn sofort ins Land der Träume katapultierte. „Was für ein beschissener Sonntag!“, fluchte Charly O´Keef, der sich eigentlich nur mit seinem „Geschäftspartner“ treffen wollte. Doch stattdessen lief ihm dieser Rouney Starks über den Weg, sein ärgster Konkurrent hier im Hafen, was den Verkauf von Schmuggelware betraf. Da glaubte man, an einem Sonntag wäre hier
im Kohlehafen von Belfast nicht soviel los, schon gar nicht zur Mittagsstunde, wenn die meisten in der Kirche saßen. Aber nein! Ausgerechnet jetzt muss dieser durchtriebene Rouney Starks wohl die selbe Idee gehabt haben wie Charly. Ob er sich nun mit jemanden treffen wollte oder etwas anderes im Hafen vor hatte, bei dem er, wenn möglich, ungestört sein wollte, sei mal dahingestellt. Aber er war da und das reichte schon, um Charlys Pläne zu durchkreuzen. Würde Rouney jenes anstehende Treffen mitbekommen, wären ein Haufen Probleme vorprogrammiert. Hat doch jener "Geschäftspartner" bisher eng mit Rouney Starks zusammen gearbeitet. Aber das war
eben bisher! Vermutlich wusste Rouney noch gar nichts von seinem Glück. Um das Geschäft reibungslos über die Bühne zu bringen, sah es Charly als unabdingbar an, dass Rouney Starks zumindest die nächste halbe Stunde von der Bildfläche verschwand. Gut! Charly hätte ihn ohne weiteres mit dem kleinen handlichen Revolver erschießen können, den er immer in der Tasche seiner verblichenen und schon abgewetzten Tweedjacke hatte. Aber der laute Schuss hätte unter Umständen irgendwelche Bullen auf den Plan gerufen. Ja und die konnte Charly im Moment noch weniger gebrauchen als Rouney Starks! Kurzum, Charly hatte das Problem sauber
gelöst, indem er Rouney reizte, um ihn zu einer Schlägerei zu motivieren, wusste Charly doch, dass ihm Rouney körperlich unterlegen war. Okay! Dass dieser Idiot plötzlich ein Messer in der Hand hatte war nicht so eingeplant, aber auch das Problem hat sich zum Glück selber gelöst. Rouney kam langsam zu sich. Sogleich schlug ihn Charly mit einem gewaltigen Kinnhaken erneut k.o. Das sollte hoffentlich die nächsten zwanzig Minuten vorhalten. Länger würde das Gespräch zwischen seinem neuen Gesprächspartner nicht dauern. Eilig zog er den bewusstlosen Rouney hinter ein paar aufgestapelte Holzkisten,
die da am Fuße der Verladerampe zu einer Lagerhalle standen. Jeden Moment war die Zeit ran und sein neuer "Geschäftspartner" würde auftauchen. Der musste das nicht sehen, wie Charly gerade einen Konkurrenten aus dem Wege räumte. Nachher bekam der das noch in einen falschen Hals! Kaum war Rouney von weitem nicht mehr zu sehen, bog auch schon ein schwarzer Benz 4-Türer, mit einem geschlossenen Planenverdeck, hinter dieser Lagerhalle auf die Straße ein. Langsam fuhr er die Kaimauer entlang. Charly schaffte es gerade noch so hinter dem Kistenstapel hervor zu kommen, ohne dass es auffiel. Lässig, mit den Händen in den
Hosentaschen schlenderte er auf dieses neuartige Automobil zu. Sein neuer Geschäftspartner sollte nicht merken, dass Charly von diesem Automobil schwer beeindruckt war. In Charlys gesellschaftlichen Kreisen bekam man nicht so oft ein Automobil zu Gesicht, weil es für den einfachen Mann der Straße einfach unerschwinglich war. Der Benz hielt mit quietschenden Bremsen vor Charly, ohne den Motor auszuschalten. Ein ganz in schwarz gekleideter Mann mit einer Schirmmütze auf dem Kopf entstieg der Fahrertür, kam um den Wagen herum und öffnete die Tür im hinteren Bereich, vor der gerade Charly
stand. Ein feister Mann, in einem edlen, mit Pelzkragen besetztem, grauen Mantel und einer Melone auf dem Haupt, entstieg dem Wagen und baute sich vor Charly auf. Der Chauffeur setzte sich wieder hinter das Steuer. Noch immer tuckerte der Motor vor sich hin. Gleichwohl der neue Geschäftspartner wenigstens einen Kopf kleiner als Charly war, hatte er sogleich, allein wegen seines selbstsicheren und resoluten Auftretens, wegen seines wohlhabenden Outfits, wegen seiner dicken Zigarre im Mund und nicht zuletzt wegen dieses schicken Automobils, die Dominanz in dem Gespräch übernommen, welches noch
nicht einmal begonnen hatte. „Hallo Mister O´Sullivan!“, begrüßte ihn Charly und reichte ihm freundlich die Hand. Mickey O´Sullivan ignorierte die gereichte Hand und schaute Charly schief an, gerade so als würde er Charly fragen, ob der wirklich allen ernstes erwarte, dass einer wie Mickey O´Sullivan so einem dahergelaufenen wie Charly O´Keef die Hand schüttle? „Also O´Keef!“, begann O´Sullivan ohne Umschweife. „Deinen ersten Job hast Du ja ganz gut gemeistert.“ Noch während er sprach zog er aus seiner Manteltasche die vereinbarten fünfzig Pfund hervor und reichte sie Charly, der sie sich sogleich
schnappte und ungezählt in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Es geziemte sich nicht einem Mickey O´Sullivan zu misstrauen. Doch plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Kaum hatte Charly das Geld in seiner Hose verschwinden lassen waren auf einmal von überall her Pfiffe aus Trillerpfeifen und lautes Geschrei von Männern zu hören.
„Polizei!!! Ihr seid verhaftet!!!“ Erschrocken schaute sich Charly um und sah auch schon aus diversen Löchern einige Bobbys hervor springen und auf ihn und O´Sullivan zu rennen. Blitzschnell schaltete Mickey und sprang in den, noch immer laufenden, Wagen, der
auch sogleich losraste. Verdammt was geht hier vor?, dachte sich Charly und rannte, wie aus einem Reflex heraus, erst einmal los. Er eilte dem Benz hinterher. Warum auch immer hatte dieser schon fast die Reihen der Polizisten durchbrochen. Der Abstand zwischen zweien der Polizisten betrug wenigstens zwanzig Meter, während sie von Charly vielleicht zehn Meter entfernt waren. Charly rannte so schnell wie ihm seine Beine nur gehorchten. Ein einziger Gedanke raste ihm durch seinen Kopf. Gefängnis! Wenn sie mich erwischen bin ich für Jahre im Gefängnis! Charly hatte es fast geschafft! Er war schon fast auf gleicher Höhe mit dem Automobil. Aber
noch rannten die Bobbys auf ihn zu. Zudem wurde er von weiteren verfolgt. Charly musste unbedingt dem Kessel entrinnen. Gleich war es soweit! Aber Charly war noch immer nicht außer Gefahr! Er konnte bereits den gehetzten Atem des einen der beiden ihm entgegen kommenden Polizisten hören. Sie hatten ihre Gummiknüppel in der Hand. Jetzt war er auf gleicher Höhe. Die beiden Polizisten waren bestenfalls noch zwei Meter entfernt und streckten schon die Arme nach Charly aus. „Bleib stehen Du Mistkerl!!!“, schrie der eine als Charly ihnen davon lief. Er hörte etwas durch die Luft wirbeln und zog reflexmäßig den Kopf ein. Ein Gummiknüppel verfehlte
ihn nur knapp und landete neben ihm im Hafenbecken. Ein weiterer Gummiknüppel landete klappernd zwischen seinen Beinen. Charly verhakelte sich mit den Füßen und flog in einem hohen Bogen nach vorn. Er schrie auf und landete schwer auf dem nassen Kopfsteinpflaster des Hafenkais. Wie durch ein Wunder konnte er sich abfangen, legte eine Vorwärtsrolle hin und landete wieder auf den Beinen. Doch hatte ihm dieser Sturz wertvolle Sekunden gekostet. Die Polizisten waren jetzt direkt hinter ihm. Doch Charly war mit seinen vierundzwanzig Jahren fit und vom harten Leben als Kleinkrimineller gut durchtrainiert. Zudem verlieh ihm die
verzweifelte Angst vor dem Gefängnis neue Kräfte. So gewann er Meter um Meter erneut einen etwas beruhigenden Vorsprung. Wieder flog ein Knüppel klappernd über das Kopfsteinpflaster. Doch diesmal war Charly darauf gefasst und entging dem Knüppel mit einem gekonnten Galoppsprung. Langsam entfernten sich die Geräusche der ihn verfolgenden Schritte. Doch veranlasste das Charly nicht, langsamer zu werden. Noch hatte er die Cops nicht abgehängt. Wahrscheinlich war der gesamte Kohlehafen umstellt. Er musste unbemerkt aus diesem Hafen und wenn möglich untertauchen. Hektisch schaute er nach rechts. Charly hatte die
Lagerhalle passiert und lief nun eine Art Bürogebäude oder ähnliches entlang. Wenn nicht Sonntag wäre und alles verschlossen, könnte er sich dort hinein flüchten und versuchen seine Verfolger abzuhängen. Neben diesem Gebäude führte eine weitere Straße ab zur Ausfahrt des Hafens in die Stadt hinein. Charly wollte gerade rennend in diese Straße einbiegen, als er zwei weiteren Polizisten gewahr wurde, die eben diese Straße entlang auf ihn zu gerannt kamen. Auch wenn sie noch wenigstens fünfzig Meter weit weg waren, so war denn doch dieser Fluchtweg versperrt. Also weiter die Kaimauer entlang! Wohin sollte er nur? Scheinbar hatten die Bobbys alle
Fluchtwege abgeschnitten. Immer nur die Kaimauer entlang zu rennen war auch keine Lösung. Irgendwann war die zu Ende! Und dann? Natürlich wusste das die Polizei! Schlagartig wurde Charly bewusst, dass er ja eigentlich in der Falle saß. Er konnte ja schlecht ins Hafenbecken springen und davon schwimmen! Zumindest nicht jetzt, Anfang März! In kürzester Zeit wäre er erfroren! Noch immer hörte er die Trillerpfeifen der Bobbys hinter sich. Vor sich sah er bereits das Ende des Hafenkais. Dahinter war nur das Hafenbecken mit seinem eisigen Wasser von bestenfalls zwei oder drei Grad Celsius. Auch Charlys Lungen
begannen stechend zu schmerzen und sein Gesicht war von Anstrengung und Schmerz unwirklich verzogen. Doch er durfte nicht ans langsamer werden denken. Auf keinen Fall wollte er ins Gefängnis. Die Laufschritte der Bobbys wurden wieder lauter. Wurden sie schneller oder Charly langsamer? Die Polizisten konnten sich in der Verfolgung ablösen, Charly nicht! Charly war allein und ausgepowert. Das ließ nur einen Schluss zu, dass Charly unbewusst langsamer wurde! „Verdammt!!!“, schrie Charly verzweifelt und zwang sich sein Tempo wieder anzuziehen, auch wenn sich jede Faser seines Körpers vehement dagegen wehrte.
Er gierte nach Ruhe! Doch der Geist schrie „Weiter!!! Weiter!!!“ Es war zu spät! Charly sah keine zehn Meter vor sich unerbittlich die Kante des Hafenkais. In Zwietracht von Körper und Geist rannte Charly dennoch weiter und fühlte plötzlich wie sein Körper, scheinbar wieder im Einklang mit dem Geist, absprang. Schreiend flog Charly durch die Luft und schaute panisch in die Tiefe. Unglücklicherweise war gerade Niedrigwasser und Charly flog wenigstens fünf Meter in die Tiefe. Er bekam noch mit, dass unter ihm, festgemacht an einem Anleger, eine Art schwimmende Arbeitsplattform im Wasser lag. Ist es tief genug?, war sein letzter
Gedanke, bevor er in das eisige Wasser eintauchte. Tausend Nadelstichen gleich, wurde sein Körper von einem eisigen verkrampfenden Schmerz gepackt, welcher ihn unter Wasser aufschreien ließ. Dicke Luftblasen stiegen in Richtung Wasseroberfläche auf. Relativ sanft stießen seine Füße in den schlickigen Grund des Hafenbeckens. Er hatte den Sturz überlebt und drohte nun in kürzester Zeit qualvoll zu erfrieren. So gut es eben ging, stieß sich Charly in dem schlickigen Untergrund ab, um den natürlichen Auftrieb seines Körpers zu unterstützen. Sein Körper wollte nur noch raus aus diesem eisigen nassen Grab. Doch kämpfte wieder Charlys Geist gegen
den eigenen Körper an. Auftauchen ja! Aber nicht einfach so und irgendwo! Sein Geist kämpfte gegen den Körper an, der nur nach oben strebte, wo ihn garantiert die Polizisten an der Hafenkante erwarteten. Charlys kämpfender Geist zwang sich zu einem klaren Gedanken. Wenn sich Charly in der Luft und im Wasser nicht gedreht hat, müsste sich die Kaimauer in seinem Rücken befinden. Charly tauchte so schräg wie möglich nach hinten auf und schaute dabei in die Höhe. Diese beißende Kälte tat so weh und hatte seinen ganzen Körper ergriffen. Endlich sah er durch das trübe Hafenwasser den Schein des Tageslichtes. Doch was war das für ein
Schatten direkt vor ihm? Er war rechteckig! Die schwimmende Arbeitsplattform fiel ihm wieder ein. Im letzten Augenblick, Charly wollte schon vor dieser Plattform auftauchen, erkannte er, dass in deren Mitte ein Hohlraum zu sein schien. Eine Schwimmplattform auf zwei Schwimmkörpern, dazwischen war ein Hohlraum. War das vielleicht eine minimale Chance? Selbst wenn dieser Umstand seinen Tod nur etwas hinaus zögerte, nahm Charly diesen Strohhalm von Chance wahr und tauchte zwischen den Schwimmkörpern auf. Er zwang sich einen qualvollen Schmerzensschrei zu unterdrücken. Gierig schnappte sein Körper nach der eisigen Luft. Er bewegte
kraftvoll Arme und Beine, in der Hoffnung dadurch seinen Körper etwas warm zu halten. Er wusste nicht, dass er damit genau das Gegenteil bewirkte und wertvolle Energie verschwendete. Über sich hörte Charly die Stimmen einiger Männer. „Verdammte Scheiße! Hat ihn einer gesehen?“ „Wo isser hin?“ „Der hat sich bestimmt das Genick gebrochen und steckt jetzt im Hafenschlick fest!“ „Oder der ist abgesoffen oder erfroren!“ „Armer Kerl! Nur wegen so ein paar Whiskeyflaschen hat er sich umgebracht.“ „Was machen wir nun
Constable?“ „Hmm! Verdammt noch mal! Warum taucht er nicht auf? Wo ist er nur hin?“ „Sir! Das Wasser hat bestenfalls zwei Grad. Egal wo er steckt! Der ist erfroren! Wenn nicht jetzt, dann in ein paar Sekunden. Da hast Du verdammt noch mal recht, Du Scheißkerl!, fluchte Charly in sich hinein. Seine Arme und Beine begannen schwerfällig zu werden. Die Kälte begann ihn zu lähmen und schien seine langen Zähne immer tiefer in ihn hinein zu rammen. „Okay Männer! Das war´s für´s erste. Aber dennoch will ich seine Leiche haben. Schickt gleich morgen früh ein Boot hier
her, ihn zu suchen.“ Zogen die Bobbys wirklich ab? Oder war das nur eine Finte, um Charly aus seinem Versteck hervor zu locken? Wie auch immer! Wollte Charly nicht wirklich erfrieren, musste er das Risiko eingehen in die Falle zu tappen. Er musste raus aus dem Wasser! Charly zwang sich noch eine Minute zu verweilen und zählte lautlos mit zittrigem Atem bis sechzig. Dann tauchte er beherzt, gefasst darauf in den nächste Sekunden gefasst zu werden, unter dem Schwimmkörper hindurch, auf ins freie. Sogleich schaute er auf zur Hafenkante. Doch nichts! Kein Polizist war zu sehen. Auch waren keine Stimmen zu hören oder andere Geräusche, die auf
Personen außerhalb seines Blickfeldes schließen lassen würden. Charly schwang sich auf und packte mit beiden Händen die Kante der Schwimmplattform. Unter aller größter Kraftanstrengung zog er sich mit seinen steifen Armen nach oben, bis er sein Kinn zur Unterstützung auf die Kante aufsetzen konnte. Charly schniefte angestrengt durch Mund und Nase. Sogleich begann sein Oberkörper an der doch recht frischen Luft zu zittern. Er mobilisierte seine letzten Kräfte und zog sich erneut ein Stück höher. Dabei schlug er unter lautem Stöhnen, auch auf die Gefahr hin, dass ihn die Polizisten doch noch hörten, ein Bein nach oben und
hakelte es auf der Kante der Arbeitsplattform ein. Nun war es ein relativ Leichtes mit Unterstützung von zwei Armen, seinem Kinn und einem Bein sich komplett auf die Arbeitsplattform zu ziehen. Völlig verausgabt lag er schwer atmend einfach nur da und gönnte seinem Körper zunächst ein wenig der langersehnten Ruhe. Erst als Charly wirklich am ganzen Körper schlotterte, richtete er sich auf und zog sich schnell die nasse Jacke und das Hemd aus. Er wrang, so gut es eben ging, die beiden Kleidungsstücke aus und legte sie sich wieder über. „So eine verdammte Scheiße was ist nur schief gelaufen? Wo kamen auf einmal
diese ganzen scheiß Bullen her? Die müssen genau gewusst haben, dass ich mich heute und hier mit O´Sullivan treffen wollte! Ich wurde verpfiffen! Klare Sache! Aber von wem? Was ist aus O´Sullivan geworden? Der ist ja doch recht problemlos durch den Kessel gekommen. Sein Glück das der Motor noch lief und die Tür...“ Charly kam ein ungeheuerlicher Gedanke. „O´Sullivan diese alte Drecksau! Sollte der mich etwa...?“ Wie Schuppen fiel es Charly von den Augen. Alles passte zusammen! Mit niemandem außer O´Sullivan hat er diesen Treffpunkt vereinbart. Charly fiel es zunächst gar nicht auf das der Chauffeur
den Motor des Automobils laufen ließ und O´Sullivan seine Tür geöffnet hielt, gerade so als hätte er gewusst, dass er im nächsten Augenblick hätte schnell wieder einsteigen müssen. Aber warum sollte ihn O´Sullivan verpfeifen? Geschäftlich lief es doch blendend zwischen den beiden. Es gab nur eine mögliche Erklärung. Die Polizei hatte Mickey O´Sullivan irgendwie bei den Eiern. Vielleicht sicherten sie ihm Straffreiheit zu wenn er ihnen diverse Namen und Kontakte lieferte. Mutlos saß Charly auf dieser Arbeitsplattform und schaute, noch immer zitternd, ziellos vor sich hin. Rechts von sich erkannte er einen Teil des riesigen
Trockendocks in dem ja gerade die „Olympic“ und ihr neues Schwesterschiff, die „Titanic“ Seite an Seite lagen. Imposant fielen ihm die drei riesigen Propeller der Schiffe ins Auge. Auf eines dieser Schiffe müsste ich mit rauf und dann ab nach Amerika. Hier in Belfast bekomme ich doch keinen Fuß mehr auf den Boden. Sobald mich einer von O´Sullivans Männern sieht bin ich am Arsch. Wieder schaute Charly zur Harland & Wolff Werft rüber. Emsiges Treiben war in diesem Trockendock und auf den Schiffen zu erkennen, was Charly doch sehr wunderte. Galt doch gerade in Irland der Sonntag als heilig, an dem man sich
zur Kirche begab betete und die restliche Zeit des Tages der Familie widmete, war es doch der einzige freie Tag in der Woche. Das galt auch gemeinhin für Werften! Doch trotzdem war man an beiden Schiffen fleißig am Werkeln! Da wurden mit Laufkatzen, welche über beide Schiffe verliefen diverse Teile und Objekte von einem Schiff zum anderen Schiff gehoben.
Charly bemerkte, dass ihm auch mit der nicht mehr ganz so nassen Wäsche am Leib, nicht so richtig warm wurde. Er musste hier weg. Er konnte ja schlecht warten, bis die Flut ihr Werk verrichtete und diese Arbeitsbühne hoch zur Hafenkante hob. Also schaute sich Charly
nach einer Möglichkeit um die hohe Kaimauer zu erklimmen. Und Charly hatte richtig gehofft. In die Kaimauer waren Steigeisen eingelassen, die es einem Seefahrer ermöglichten auch bei Ebbe sein Schiff oder Boot zu verlassen. Gar nicht lang verzagt, stand Charly auf und begann die vom Algenbewuchs glitschigen und grünen Sprossen zu erklimmen.Seine durch gefrorenen Glieder waren noch immer steif und ungelenk. Er musste höllisch aufpassen, dass er mit seinen nassen Schuhen auf den Tritten nicht abrutschte. Bevor er gänzlich den Hafenkai bestieg lunschte er vorsichtig über die Kannte, ob die Luft wirklich rein war. Doch weit und breit war kein Mensch
zu sehen. Also schwang er sich auf und stand unversehens wieder auf dem nassen Kopfsteinpflaster des Hafens. Einen Moment schaute er sich um. Wie sollte er weiter vor gehen? Die Hauptzufahrt oder aber auch die Nebentore des Hafens zu benutzen um zu verschwinden scheute Charly. Es bestand noch immer die Gefahr, dass der Hafenbereich, auf der Suche nach ihm, weiterhin gesperrt war. Es musste einen anderen Weg geben. Er durch querte einmal das Hafengelände ohne unnötig die Fahrwege und Straßen zu frequentieren und stand plötzlich vor einer bestimmt vier Meter hohen Mauer. Entlang dieser Mauer verlief ein Fahrweg, der wohl eher selten benutzt wurde,
wuchsen doch aus allen Möglichen Stellen mitten auf dem Weg Unkräuter. Wenn Charly sich nicht irrte begann hinter dieser Mauer das Werksgelände der Harland & Wolff Werft. Wenn er irgendwie über die Mauer käme, wäre er fein raus. Für einen solch kleinen Fisch, wie Charly einer war, würden die Bullen nicht gleich die ganze Hafenstadt von Belfast abriegeln. Wie kam Charly über diese blöde Mauer? Er schaute sich suchend um. Doch nichts! Bis auf ein paar übergroße Holzkisten, die zu bewegen unmöglich waren, und ein paar kleine Transportkarren stand hier nichts herum. Keine handlicheren Kisten, geschweige denn eine Leiter oder sowas
war zu finden. Charly stellte sich direkt vor die Mauer. Noch immer war sein Körper völlig ausgekühlt schlotterte unwillkürlich. Charly sprang an der Mauer so hoch es eben ging, um vielleicht mit den Fingerspitzen die Mauerkante zu erreichen. Doch war Charly etwas zu klein geraten, egal wie hoch er sprang.
„Verdammte scheiß Mauer!“, fluchte er böse. „Das kann doch jetzt wohl nicht wahr sein!“ Aufgebracht und innerlich brodelnd lief er die Mauer auf und ab und fluchte vor sich hin. Plötzlich fielen ihm diese kleinen Transportkarren wieder ins Auge. Diese sahen aus wie normale Schubkarren, hatten aber eine Achse mit zwei Rädern und waren länger und breiter
wie gewöhnliche Schubkarren. Das könnte gehen!, dachte sich Charly schnappte sich eine dieser Karren schob sie vor die Mauer und wuchtete sie in die Senkrechte. Sie war doch recht schwer. Vorsichtig erklomm er die senkrecht an die Wand gelehnte Karre und...bekam mit den Fingern den Sims der Mauer zu greifen greifen. „Ja!!!“, jubelte Charly und hangelte sich geschwind auf die Mauerkrone. Nun endlich sah er auch, wofür er sich all diese Mühen aufgebürdet hatte. Vor ihm breitete sich das riesige Werksgelände der Harland und Wolff Werft aus. Im Hintergrund türmte sich riesig das große Trockendock auf und rechts von ihm war
im Vergleich zum Trockendock winzig das, eigentlich große, Verwaltungsgebäude zu erkennen. Merklich erleichtert atmete Charly auf und ließ sich an der Mauer wieder herab. Nun glaubte er die Bullen endgültig abgehängt zu haben. Schlimmstenfalls könnte es hier so etwas wie einen Werksschutz geben. Das wusste Charly nicht. Es galt einfach nur, sich unauffällig davon zu schleichen und nach Hause zu gehen. Dort würde er sich was trockenes anziehen, den Ofen einheizen und vielleicht ausnahmsweise an einem Sonntag einen Whiskey zum aufwärmen trinken. Charly lief los. Tendenziell hielt er auf das Verwaltungsgebäude zu, wusste
er doch das sich dort auch der Ausgang des Werks befand. Aber je näher er dem Verwaltungsgebäude kam, desto besser musste er aufpassen nicht aufzufallen. Immer häufiger waren in mittelbarer Nähe Leute zu hören, die entweder lachten oder scherzten. Manchmal stritten sich auch welche, oder riefen anderen etwas zu. Aber keiner hegte bisher Verdacht, dass sich hier ein Unbefugter herum trieb. Charly war mit seinem Konzept zufrieden, sich allenthalben irgendwo kurz zu verstecken und Ausschau zu halten. In seinem Bestreben zum Ausgang zu kommen, war er unbewusst dem neuen Trockendock immer näher gekommen. Was ihn die ganze Zeit schon wunderte
war die Tatsache, dass heute, an einem Sonntag, hier so viel Betrieb herrschte. Schon wieder musste er vor ein paar stark verschmutzten Werftarbeitern in Deckung gehen. Was gab es nur so wichtiges zu tun, dass selbst der heilige Sonntag missachtet wurde? Charly hatte nur soviel mitbekommen, dass sich alle Arbeiten an diesem Tag auf das große neue Dock mit seinen beiden Olympic-Schiffen konzentrierte. Die drei kleineren Trockendocks, in denen auch halbfertige Schiffe lagen, waren völlig verwaist. Hatte man angst, die Titanic könnte den Termin für die Jungfernfahrt nicht halten? Wenn dem so wäre, warum wurden dann verschiedenste Schiffsteile
von der Titanic auf die Olympic verbracht? Das konnte Charly unschwer erkennen, als just in diesem Moment mit einer Laufkatze über beiden Schiffen erneut ein ziemlich großes Maschinenteil von der Titanic zur Olympic gefahren wurde und scheinbar mit größter Anstrengung über eine der seitlichen Ladeluken in den Bauch des Schiffes verbracht wurde. Dass es von der Titanic zur Olympic ging war Charly schon klar, lag sie doch schon seit Wochen an ihrem Platz im Trockendock und prägte das Gesicht von Harland & Wolff. Gestern hat man erst die Olympic ins Trockendock geholt, da sie auf Fahrt einen ihrer Propeller verloren
habe. Charly zog die Stirn in Falten. Hatte die Olympic vorhin, als Charly beide Schiffe von hinten sah, nicht noch alle drei Propeller? Was hatte das zu bedeuten? Oder hatte man schon einen neuen Propeller angebaut? In der kurzen Zeit? Charly war sich sicher, dass die drei Propeller der Olympic nicht neu aussahen. Doch noch etwas anderes fiel Charly auf, was er zunächst überhaupt nicht verstand. Er hockte in seinem momentanen Versteck sozusagen direkt vor der Olympic. Vor ihrem oberen Bugbereich hatte man über die Schiffshaut eine große Arbeitsbühne abgehängt, auf der viele Leute beschäftigt
zu sein schienen. Man war wohl gerade dabei den Namenszug der Olympic zu erneuern, in dem man große stählerne Lettern auf den alten eingravierten Schriftzug nietete. Aber was war denn wohl an der Gravur so schlecht? Hat man sie nicht gut genug gesehen? Nun ja!, dachte sich Charly. Ein Eimer weiße Farbe hätte es vielleicht auch getan. Na ja! Irgendwo müssen ja die vielen englischen Pfund bleiben, die in ein solches Schiff verbraten werden! Doch dann stutzte Charly erneut. Ist man da gerade dabei sich zu verschreiben? Was machen die denn da? Sind die verrückt? Charly konnte nicht besonders gut lesen drum las er das Wort was er da sah ganz
langsam und laut vor sich hin: „TITMPIC“ In diesem Augenblick setzten mehrere Männer ein ungewöhnlich gezerrtes „A“ auf das „M“. Wie ein stechender Blitz kam bei Charly die Erkenntnis und wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Alles war auf einmal so klar! Auch Charly hatte ein wenig die Presse der letzten Monate verfolgt. Dank seiner, ihm eigenen, kriminellen Energie begriff er schnell was da drüben im Trockendock der Harland & Wolff Werft vor sich ging.
welpenweste Sapperlot! Es wird sehr spannend! LG Günter |