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                                                                                                                         von
                                                                                                                    Laila Seeliger
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Danke an alle, die mit viel Kraft, all ihrem Können und viel Liebe diese Jahre, als Hauptakteure und doch stets im Hintergrund, ermöglicht haben.
Es war ein sonniger Tag im Juli, an dem Luise in Hochmühle an der Kirche ankam. Sie parkte ihr Auto auf der andeÂren Seite des Platzes, in einer kleinen Querstraße. Zwei Tage zuvor hatte sie ein Gespräch mit Astrid. Sie organiÂsierte eine Lebensmittelverteilung an Menschen, die von Hartz IV lebten. Ab nächsten Montag sollte Luise als Eurojobberin Astrid im Büro unterstützen. Um das Projekt besser kennen zu lernen, riet Astrid ihr als Kunde mal vorbei zu gehen.
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Ansonsten betritt Luise Kirchen nur im Urlaub. Aber auch in Hochmühle war die Kühle, die einem an diesem Tag entgegen kam, angenehm. Luise blieb überrascht stehen und ließ die Szene auf sich wirken. Die sonst so gewohnte Stille fehlte. In den Bänken saßen ungefähr 70 Leute, die meisten hatten einen „Hackenporsche“, wie der Kutliner sagt, dabei. Unter der Empore standen Tische, voll mit Obst, Gemüse, Brot und einige Joghurts. Dann schlossen sich Tische mit allerlei Hausrat und Kleidung an. Ein Mann sprach Luise an. „Wenn Sie neu sind, müssen Sie sich einfach neben den letzten in eine Bank setzten und wenn Sie dran sind, zeigen Sie der Dame vorne Ihren Hartz IV-Bescheid“. So einfach und schnell kann man eintauchen in diese andere Welt und gehört einfach dazu. Luise bedankte sich und setzte sich neben ihn. Die Bänke davor leerten sich schnell. Am Tisch vor dem Altar gab Luise einer Frau ihren HartzIV-Bescheid. Diese schaute sich die Unterlagen genau an, informierte sie, dass sie heute Lebensmittel erhalte, aber in Zukunft in eine andere Kirche muss. Dittmer lag näher am Wohnort und dort gab es ebenfalls eine Lebensmittelverteilung. Luise beugte sich zu der Dame vor und übermittelte die aufgetragenen Grüße von Astrid. Die Frau lächelte. „Ich soll die Sache mal ausprobieren, damit ich im Büro die Zusammenhänge besser verstehe“ erklärte Luise. Die Dame gab ihr die Unterlagen zurück und wünschte freundlich „guten Einkauf“. Eine weitere Dame stand neben dem Tisch und grüßte. Dann ging es los. An jedem Tisch blieben sie stehen und Luise wurde gefragt, ob sie Kartoffeln, möchte, eine Zucchini, eine Paprikaschote, Blumenkohl, eine Zwiebel, Erdbeeren, zwei Bananen, Weintrauben, einen Apfel, zwei Joghurts und eine Packung Käse. Dann legte die freundliche Dame noch ein Kilo-Graubrot in die Tasche und empfahl für die nächste Woche eine weitere Tasche dabei zu haben. „Wenn das Brot auf den Erdbeeren liegt bekommt man dies nicht so schön nach Hause“ sagte sie und wünschte eine schöne Woche. Luise war überwältigt. Für einen Euro hatte sie eine volle Tasche und die Bedienung erinnerte sie an Tante Emma Läden, die bis in ihre Kindheit noch vereinzelt bestanden hatten und dadurch etwas Aufregendes hatten.
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Zu Hause angekommen machte Luise erst einmal eine große Schüssel Obstsalat. Die Ware war halt nicht mehr so frisch, um sie ein paar Tage aufzuheben. Ansonsten würden die Ehrenamtlichen in der Kirche die Sachen auch nicht geschenkt bekommen. Im Kühlschrank fand sie noch zwei Eier und etwas Milch. Sie holte das Mehl aus dem Schrank und so gab es erst einmal ein herrliches Mittagessen. Der Rat der freundlichen Dame beruhte offensichtlich auf längere Erfahrung, stellte Luise fest. Am Brot war der eine Kanten etwas mit Erdbeersaft getränkt. Also wurde zum Abendbrot genau diese Seite angeschnitten und der restliche Obstsalat dazu gegessen. Das Gemüse stellte sich als etwas haltbarer heraus. Mit einem Salamirest und Reis dazu, ergab dies am nächsten Tag eine super Mahlzeit.
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Am nächsten Montag ging Luise zu 9:00 Uhr ins Büro, was sich in einer Ladenwohnung befand. Astrid erwartete sie schon. In einem kleinen Raum, der als Wohnung wohl eher als halbes Zimmer bewertet worden wäre, befanden sich zwei Schreibtische, mit einem Rechner und einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Dort arbeitete Astrid. Neben der Tür stand noch ein Schrank. Auf der Erde türmten sich Papiere und zahlreiche Kartons. Häuslich konnte man dies eher nicht nennen. Der große Raum links neben der Eingangstür, war als Durchgang, mit einem großen Einbauschrank und drei Schreibtischen ausgestattet. Hier saßen Beate, Gisela und Marita. Gisela war als Urlaubsvertretung schon seit Jahren dabei. Beate und Marita arbeiteten dort täglich. Auch hier lagen auf den Tischen hohe Stapel von Papieren und Luise wunderte sich wie man hier noch etwas finden konnte.
Die erste Aufgabe hatte Astrid vermutlich schon am Vortag extra für Luise bei Seite gelegt. Denn als sie fertig war, ein halbes Dutzend Plakate mit einem Datumsaufkleber zu versehen, begutachtete sie die Arbeit sehr kritisch. Dann lächelte sie und meinte „Im Basteln warst du wohl immer gut“. Test bestanden. Sie war zufrieden und Luise erleichtert. Astrid war eine große und schlanke Frau mit auffällig großem Mund. Ihre Bewegungen hatten etwas Kantiges und erinnerten an Marionetten, wenn sie weit ausladende Armbewegungen machten. Astrid schien immer in Bewegung. Wenn sie telefonierte, war es ein Wunder, dass sie nicht stolperte, da sie in diesem kleinen Raum auf und ab lief und dabei immer wieder an die Kartons stieß. Es kam vor, dass sie das Telefonat unterbrach und Luise kurz sagte was sie als nächstes erledigen kann, begleitet mit einer ausladenden Armbewegung. Auch ihr Kopf schien viele Bewegungen gleichzeitig zu machen. Als Nächstes, nachdem sie ein paar Minuten beim telefonieren beobachtet wurde, schickte sie Luise in den großen Durchgangsraum. Astrid schaute kurz um die Ecke und bat Beate ihr eine Aufgabe zu geben. „Bei der Sortierung der Ablage erhältst du einen guten Ãœberblick“ erklärte Astrid und lächelte Luise schelmisch an.
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Beate erinnerte sie an eine ehemalige Chefin. Sie war recht breit gebaut und wirkte hinter dem Schreibtisch mächtig und doch unscheinbar. Später zeigte sich der Grund. Sie stellte große Pflanzen mit Vorliebe neben ihren Schreibtisch, damit sie nicht sofort im Blickfeld saß, wenn jemand durch das Büro ins Bad oder die Küche ging. Gisela dagegen war schlank, durchschnittlich groß und hatte vorwitzige Haare. Ihre ausgestrahlte Ruhe tat, als Gegenpol, dem Raum sehr gut. Das Ablagefach von Beate war chaotisch. Zu Hause gab es bei Luise auch Stapel mit Eingangspost, die meist in einer Art Anfall Stoßweise weg sortiert wurde. Rechnungen und Bescheide konnten monatelang gesammelt werden, bis sie den Weg in den richtigen Ordner fanden. Am Arbeitsplatz schwor Luise auf die Methode `Direktablage´. Wenn man einen Zettel in der Hand hat, sollte dieser sofort von A bis Z bearbeitet und dann abgeheftet werden. Als Sachbearbeiterin funktionierte dies gut, da ohnehin jeder Fall eine eigene Akte hatte. Hier erinnerte nicht nur die Methode, sondern auch der Inhalt der Schreiben, mehr dem häuslichen. Luise machte sich also ran und las jedes Schreiben durch und sortierte es in die zahlreichen Ordner im Einbauschrank. Oh war sie froh, als Astrid kam und verkündete, dass der Mittagstisch gedeckt war. Ablage ist schon keine erfreuliche Arbeit, aber die Ablage anderer – so hatte sie sich die Arbeit nicht vorgestellt. Zum Mittag, welches in einer gemütlichen Sitzecke in der Küche stattfand, erschienen noch Silke und Claudia. Alle unterhielten sich, besprachen das Ein oder Andere. Die Tatsache, dass sich Silke und Claudia nicht weiter vorstellten, verwunderte Luise schon etwas. Aber da sie die Struktur noch nicht nachvollziehen konnte, wartete sie lieber ab.
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So gingen die nächsten Wochen dahin. Die Arbeit war `anders´ als gewohnte Büroarbeit, aber machte im großen und ganzen Spaß. Durch eine gewisse Unstrukturiertheit blieb es spannend. Dann erfuhr Luise, dass in Kürze ein Umzug bevor stand. Ab dann bestand ihre Aufgabe darin den Inhalt des großen Einbauschrankes in Kartons zu verpacken. Oh, damit hatte Luise Erfahrung. War sie doch privat schon häufig umgezogen und der Letzte lag gerade zwei Jahre zurück. Eines Dienstags schrieb Astrid eine Anschrift in Teschen auf einen kleinen Zettel, und gab diesen Luise mit den Worten „morgen zu 9:00 Uhr fährst du dort hin und nimmst die neuen Büroräume in Augenschein“. Sie erklärte mittels Skizze die Raumaufteilung und bat Luise in den nächsten Tagen dort eine allgemeine Grundreinigung vorzunehmen. Im Erdgeschoss befanden sich große Lagerräume und eine Küche. Im ersten Stock lagen die Büros. Luise seifte also drei Tage lang die Schreibtische, Schränke und Fensterbretter ab und sah ansonsten niemanden. Was unten in der Halle vor sich ging, blieb ihr weitestgehend verborgen. Dann wurden die ersten Kartons und Rechner gebracht. Fortan hieß es alles wieder ausräumen, die PCs anschließen und Tische rücken. Der Umzug des Telefons lief nicht reibungslos, wie das Sonstige. Anfangs gab es im Büro von Astrid kein Telefon. Der Umzug des Anschlusses hatte nicht funktioniert. Völlig erschrocken starrten sich Luise und Astrid an, als nach Wochen in ihrem Raum das Telefon klingelte. Astrid ging ran. Ein junger Herr wollte gerne Max sprechen. Verwunderung stand Astrid ins Gesicht geschrieben. Einen Max gab es in diesem Verein nicht. Später stellte sich heraus, dass die Telefongesellschaft zwei Nummern vertauscht hatte. Daher erhielten sie die privaten Gespräche von Max und die Vereinsanrufer landeten bei dem jungen Herrn, der täglich einen wild blinkenden Anrufbeantworter vorfand, wenn er nach Hause kam. Gut, dass es noch eine Hauptnummer gab, dessen Umzug zeitnaher funktioniert hatte. Durch den Inhalt der Gespräche verstand Max die Situation und erreichte Franziska.
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Franziska, meistens Franzi genannt, lernte Luise erst in den neuen Räumen kennen. Sie war die Kollegin von Beate und aus dem Urlaub zurück. Gisela kam weiterhin als Urlaubsvertretung, da nun Beate nicht da war. Astrid war, wie Luise, Eurojobberin und machte nur ab und zu an einem Freitag mal frei. Dann fuhr sie zu ihrem Vater.
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Anfang September gab es ein großes Sommerfest. Silke, wie mittlerweile erkennbar war, war die Mitgründerin des Vereins. Sie hatte zur Dankesparty für die Ehrenamtlichen geladen. Hierzu wurde die Haupthalle fast vollständig ausgeräumt und davor standen Bierbänke, ein Grill und eine kleine Bühne. Es war schon beeindruckend was alles durch Ehrenamtliche organisiert wurde. Als Erstes fiel Luise ein Herr auf, der aus der Coca Cola-Werbung hätte entsprungen sein können. Sven arbeitete eigentlich bei einem regionalen Radiosender, so lag ihm die Moderation für das Bühnenprogramm im Blut. An diesem Nachmittag kam Luise wenig zum Schauen und Essen, denn Astrid tauchte in regelmäßigen Abständen mit neuen Leuten auf, die sie ihr vorstellte. Mit den meisten hatte sie in den letzten Wochen schon zahlreiche Telefonate geführt, sie für Aktionen und Standdienste eingeteilt. Nun hatte Luise die Gelegenheit zu den Namen und Stimmen ein Bild zu erhalten. So wurden sehr nette Gespräche geführte und die Zeit verging unbemerkt. Als, trotz September, eine laue Sommernacht schon angebrochen war, saß Luise draußen und unterhielt sich mit einem älteren Herrn. Eigentlich philosophierte er über richtiges Management und andere trockene Themen. Es standen schon zahlreiche Weinflaschen auf dem Tisch, wodurch Luise nicht sonderlich verwundert war, dass der Herr immer gesprächiger wurde. Sie blieb beharrlich bei Cola. Am nächsten Vormittag erfuhr Luise, dass ihr die Dankbarkeit galt. Viele waren froh, diesen Monologen entgangen zu sein.
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Mitte Dezember, es war ein Dienstag, war für Luise der letzter Tag als Eurojobberin. Astrid und sie waren dabei für alle Ehrenamtlichen aus den Kirchengemeinden eine Weihnachtsfeier zu organisieren. „Also bis Donnerstag“ verabschiedete sich Luise. Es lagen bereits über 200 Zusagen vor. So sah Luise darin eine Art Abschiedsfeier und versprach zu helfen. Irgendwie war sie froh, nicht mehr für einen Euro arbeiten zu `müssen´. „Für einen Euro arbeitest du?“, wurde sie im Freundeskreis oft entsetzt gefragt. „Na ja, ganz so ist es ja nicht“ erklärte Luise dann, auch wenn ihre Erklärung sie selbst manchmal nicht ganz überzeugte. „Das HartzIV und die Miete darf nicht vergessen werden. Damit erzielt man einen Nettostundenlohn von fast 7,- Euro und davon träumt so mancher Arbeitnehmer, der den ganzen Tag hart arbeitet“.
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Donnerstag, am frühen Nachmittag, fuhr Luise die gewohnte Strecke. Im Büro erfuhr sie mit großer Verwunderung, dass Astrid nicht zur Arbeit gekommen war. Viel über die Gründe war nicht zu erfahren. Aber eigentlich ging es sie ja auch gar nichts an. Gisela stand in der Halle und schmückte einen Weihnachtsbaum. In der Küche wirbelten zahlreiche Leute, die sie nicht kannte, und richteten ein Buffet her. In der Halle wurden 200 Sitzplätze aufgebaut. Es ging zu wie in einem Ameisenhaufen. Irgendwie sah alles planlos aus, jeder wusste jedoch offensichtlich was noch zu tun war und so löste sich kurz vor der angesetzten Zeit das Knäuel auf und alles war erledigt. Luise fragte nicht wo die ganzen Stühle und Tische her waren. Die ersten Gäste kamen viel zu früh, aber durch starke Minusgrade war ein vorzeitiger Einlass in die Halle unumgänglich. Sie kannte nur wenige vom Sehen. Bestand ihre Arbeit doch überwiegend aus telefonieren und darüber hinaus weniger in der Gemeindearbeit, als aus der Organisation zahlreicher Aktionen und die Ehrenamtlichen hierzu.
Während der Feier stellte sich Luise zu ein paar Anderen hinter das Buffet und bediente. Der Herr aus der Coca Cola-Werbung war wieder dort und legte Musik auf, und sagte ein paar einleitende Worte des Dankes an die Helferinnen und Helfer. Unvergessliche Szenen entstanden, als das Buffet eröffnet wurde. Unvorstellbar wurden Menschen, wenn sie in großen Gruppen auftraten. Alle standen auf und stellten sich in eine Schlange. Aus der Küche wurden heiße Würstchen gebracht. Die Teller wurden mit Bergen von Essen befüllt. Viele nahmen sich zwei Würstchen, obwohl
auf der Platte geschätzte 100 Stück lagen und doch 200 Personen anwesend waren. Eine Frau legte einen Schokoladenweihnachtsmann, der als Deko auf dem Buffet stand, oben auf, mittel rein in den Kartoffelsalat, den sie sich genommen hatte. Das Buffet sah nach 20 Minuten aus wie ein Schlachtfeld. Luise war entsetzt.
Ein kleiner Junge ging zum Mikrofon und sang ein Weihnachtslied. Alle waren gerührt. Ein kleines Dankeschön musste erst organisiert werden. Die Schokoladenweihnachtsmänner wurden restlos neben den Tellern festgehalten oder waren bereits in den Taschen verschwunden. Nach ca. zwei Stunden waren alle Gäste gegangen, das Buffet leer und die Tische ein wüstes Durcheinander. Silke saß am Rand und sah erschöpft aus. Luise setzte sich neben sie und äußerte verwundert ihren Eindruck. Sie lächelte sie an und erzählte von einem ähnlichen Fest in einer Kirche. „Du kannst dir dies nicht vorstellen, als das Buffet damals eröffnet war, geriet der Einlass der Gäste völlig außer Kontrolle. Da Kirchen allgemein frei zugänglich sind, kamen zahlreiche Leute von der Straße, viele Obdachlose.“ erzählte Silke. „Sie holten sich Stühle aus einem Nachbarraum und setzten sich an das Buffet und begannen zu essen. Es war eine große Tafel entstanden und das Chaos war vollkommen“. Sie lächelten sich an. „Da hatten wir heute ja richtig Glück gehabt“.
„Darf ich dich mal etwas fragen?“ redete Silke, nach ein paar Minuten, weiter.
Luise nickte. „Da Astrid nun den zu Januar zugesicherten Arbeitsvertrag nicht antreten wird, kannst du dir eine weitere Arbeit im Büro vorstellen?“ Luises Gesicht hellte sich auf. War ihr da gerade ein fester Arbeitsvertrag angeboten worden? So tickten also die Vereinsuhren. Sie nickte und bedankte sich.
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Nach Ihrem Weihnachtsurlaub saß eine neue Eurojobberin im Büro. Sie hieß Silvia und hatte sich mit der Verteilung der Studenten-Weihnachtsmänner wacker geschlagen. Eine Aufgabe, die Astrid und Luise ihr als begonnenes Chaos hinterlassen hatten. Luise unterstützte Silvia nun vorerst ehrenamtlich, bei der Organisation der Aktionen für Januar, denn für Silvia war dies Neuland. Am Aktionstag fuhren sie durch Kutlin. Zahlreiche Ehrenamtliche sammelten an diesem Tag Lebensmittelspenden, die teilweise in die Halle gebracht werden mussten. Bis spät abends waren sie aktiv und die Spendenmengen und die Herzlichkeit der Ehrenamtlichen vor Ort versetzte einen irgendwie in einen Rausch. Drei Tage später erfuhr Luise mit bedauern, dass Silvia ihre Maßnahme frühzeitig beendet hatte. Die Zusammenarbeit mit ihr war sehr erfrischend gewesen.
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Mitte des Monats wurde erneut gefeiert. Dieses Mal galt es eine Suppenküche zu eröffnen. In einer örtlichen Jugendeinrichtung wurde diese, speziell für Kinder, integriert. Es gab ein rauschendes Fest, mit einem BühnenÂprogramm bis in die frühen Morgenstunden und einem Buffet vom Feinsten. Gisela organisierte dieses, in dem sie stundenlang telefonierte und zahlreiche Spender gefunden hatte. Auf der Bühne zeigten zahlreiche Jugendgruppen der Einrichtung ihr Können. Und hierbei konnte man wahrlich von Können sprechen. Ob Gesang oder Tanz, die Begeisterung stand den Künstlern wie den Zuschauern gleichermaßen ins Gesicht geschrieben. Und wie sollte es anders sein, der Mann aus der Coca Cola-Werbung moderierte wieder. Dieses Mal mit einer Kollegin. Luise war begeistert. Zu dieser Gelegenheit lernte sie auch die Frau von Silke kennen. Frauke arbeitete bei der Presse und kannte die Moderatoren. Sie war auf den ersten Eindruck ein ganz anderer Typ als Silke. Sie versuchte sich als Modepüppchen zu geben, hatte allerdings nicht die passende Figur hierzu. Und erstaunlich jung war sie, im Vergleich zu Silke. „Aber dies ist nun mal Geschmacksache“ dachte Luise und schmunzelte in sich hinein.
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Eine Woche später kam Silke in Begleitung einer jungen Studentin, zu Luise ins Büro. „Guten Morgen, darf ich dir Conny vorstellen?“ grüßte Silke. „Sie schreibt eine Arbeit über die soziale Schere in der Gesellschaft und sucht neben Einblick in die Vereinsarbeit, eine Beschäftigung, die ihre Freizeit abwechslungsreicher gestaltet“ erklärte sie weiter. Luise grüßte ebenfalls. In der Zwischenzeit hatte sich die freiwillige Tätigkeit auf fast 20 Wochenstunden ausgedehnt. Die Arbeit im Büro wollte jedoch nicht weniger werden. Da freute sich Luise über Unterstützung durch Conny. Sie war eine kleine, zierliche Frau, die sehr auf ihr Äußeres zu achten schien. Zählte Luise alle anderen Kolleginnen bis jetzt eher zu der Sorte Frauen, die praktisch und klassisch, Jeans und Pullover trugen, so war Conny eine treue H&M-Kundin. Dies mag an ihrem Alter gelegen haben, denn auch dies unterschied sie von den Anderen. Fortan wurde gemeinsam organisiert und Luise pflegte die Hoffnung, dass eine klare Aufgabentrennung eine enorme Entlastung ergab. Bei den zahlreichen Wünschen den Ãœberblick zu behalten, fiel Luise täglich schwerer.
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Ende des Monats stand ein Abendtermin auf dem Programm. Zwei mal im Jahr trafen sich zahlreiche Leute aus den Gemeinden und berichteten über ihre Arbeit und Probleme und tauschten Tipps aus. Ganz verwundert nahm Luise neben Silke und Frauke auf dem Podium platz. Neben ihr, zur Moderation, tauchte Sven auf. Er schien der Haus und Hof Moderator zu sein. An diesem Abend lernte Luise noch mehr Gesichter zu den Telefonstimmen der letzten Wochen kennen, mit denen sie arbeitete. Es wurde ein diskussionsfreudiger Abend mit dem Beschluss einen Beirat zu gründen. Das rapide Wachstum dieser Aktion benötigte Struktur. Daher gab Silke einen Monat später dem Wunsch nach und stellte Luise fest ein. Nun wirbelte sie 40 Wochenstunden in diesem Büro, schätzte trotzdem die Unterstützung durch Conny sehr und wurde das Gefühl nicht los, dass es nie ein Ende gab.
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„Was alles an uns herangetragen wird“ ging es Luise täglich mehrfach durch den Kopf. Es rief einmal eine Firma an, die 20 bereits geöffnete 5-kg-Dosen mit geschälten Tomaten anbot. Bereits für die Produktion von Ketschup vorbereitet, gab es ein Problem mit der Verarbeitungsmaschine. Die Firma befand sich keine fünf Minuten Fußweg von Luises Wohnung entfernt, so bot sie an, diese Dosen abzuholen. Durch die kalte Witterung müssten sich die Tomaten über Nacht im Auto halten. Aus Angst vor einer hinterher notwendigen Reinigung fragte sie allgemein in die Runde, ob jemand sagen kann, ob 5 kg geschälte Tomaten im eigenen Saft in einen 5-Liter-Eimer passen. Die Ãœberlegung, die Tomaten umzufüllen, da zahlreiche Eimer mit Deckel in der Halle vorrätig waren, erschien Luise für den Transport sicherer. Man erklärte ihr einhellig, dass dies doch klar ist, denn 1 kg entspricht 1 l. „Warum gibt es dann für 1 kg Zucker, Mehl oder Wasser jeweils andere Striche auf einem Küchenmessbecher?“ fragte Luise irritiert. Die einhellige Meinung blieb. Luises Frage blieb unbeantwortet. Nun war ihr die Dichte von geschälten Tomaten im eigenen Saft nicht geläufig und wo man so etwas nachschauen konnte, fiel ihr in diesem Moment leider nicht ein. Also blieb Luise grübelnd im Flur stehen. Den Kolleginnen erschien eine Abholung durch sie offensichtlich als zu umständlich. So wurde ein Transporter hingeschickt. Am nächsten Morgen stand ein armer Fahrer draußen und wischte mit bitterer Miene die Ladefläche. Man hatte ihm zu übermitteln vergessen, dass die Dosen bereits geöffnet waren und Eimer für den Transport sinnvoll wären. Luise ging an ihm vorbei und lächelte etwas mitleidig.
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Der neu gegründete Beirat bescherte Luise weitere Aufgaben. Die Mitglieder stellten Fragen, die Luise nicht beantworten konnte. So startete sie verschiedenste Umfragen. Einmal ging es um die Abholmengen, die die Ehrenamtlichen bei den einzelnen Geschäften erhielten. Wichtig waren diese Zahlen, das sah Luise ein. Silke bearbeitete zahlreiche Presseanfragen. Hierzu musste sie auf alle Möglichkeiten vorbereitet sein. Von einem Fahrer erfuhr Luise hierzu „die 3-4 Kisten Grünzeug sind ja uninteressant, etwas Richtiges erhalten wir in diesem Geschäft nicht“. Verwundert las Luise diese Zeilen. „Was ist denn `etwas Richtiges´?“ fragte sie sich. „Geht es bei dieser Aktion nicht gerade um Obst und Gemüse – also `das Grünzeug´, was immer unerschwinglicher wurde?“ Luise musste lachen. So unterschiedlich waren also die Ziele dieser Aktion. Angetrieben durch ihre Erziehung, dass Essen nicht in den Müll gehört, empfand Luise die Idee hinter dem Verein gut. Da stimmte sie mit Silkes Gedanken überein. Nun erkannte Luise, dass Ehrenamtliche, denen es gut ging, das Augenmerk auf andere Dinge legten. Hier ging es um Fleisch, Wurst und Käse. Das, was gerade in Deutschland in Mengen vertilgt wird. Luise erkannte, da ist noch viel Arbeit nötig um alle Beteiligten in das gleiche Fahrwasser zu bringen.
Bei Besuchen wurde dies ebenfalls deutlich. Viele der Gedanken erklärten sich, wenn man die Kunden erlebte. Auch die Erinnerung an die Weihnachtsfeier passte in dieses Bild.
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Das Telefon klingelte an diesem Tag wenig. Ungewöhnlich war die Ruhe und Luise erfasste gerade die neuen Rechnungen der örtlichen Müllabfuhr. Ihr Treiben wurde von der Erkennungsmelodie ihrer Lieblingsserie unterbrochen, welches ihr Telefon von sich gab. Luise erfuhr, dass eine Kirchengemeinde in Heidemoor in ihrem Gemeindeblatt nach Ehrenamtlichen suchte, um sich der Aktion anzuschließen und ebenfalls eine Lebensmittelverteilung zu organisieren. Agnes hatte bereits vor einiger Zeit mit Astrid Kontakt und hatte ihren Wunsch zur Organisation angekündigt. Luise wusste davon nichts. In Heidemoor gab es eine große Hochhaussiedlung, in der viele Leute preisgünstigen Wohnraum fanden. Der Bedarf an einer Lebensmittelverteilung würde regen Zuspruch finden. Zusätzlich befand sich am Ortsrand eine kleine Siedlung, in der Spätaussiedler und Asylbewerber eine Bleibe auf Zeit fanden. Auch diese Leute würden sicher das Angebot rege nutzen. Im Beirat wurde mehrmals davon gesprochen, dass benachbarte Gemeinden einer Neueröffnung zustimmen mussten. Daher war der Weg der vorherigen Ankündigung nicht ganz im Sinne der Aktion, aber für Luise würde es die erste Neueröffnung werden. Sie sagte also ihre Teilnahme zu und informierte den Beirat per Mail. Letztendlich hatte Astrid dies angeleiert. Luise wartete vergebens auf eine Reaktion. Man lies sie machen.
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Nun freute sich Luise auf den Termin. Sie hatte in Heidemoor fast drei Jahre ihrer Kindheit verbracht und würde seit Jahren diese Gegend mal wieder besuchen. Auch wenn der Termin am Nachmittag lag und dies Überstunden bedeutete. Luise war in dieser Hinsicht flexibel. Staunend stand sie an diesem Freitag im Gemeindehaus. Mit mehr als 20 Personen hatte sie nicht gerechnet. Nun machte sich Unsicherheit in ihr breit. Hatte sie doch noch nie vor so vielen Leuten überhaupt gesprochen, war sie in diesem besonderen Fall auch kaum vorbereitet, da sie inhaltlich keine Aufzeichnungen im Büro gefunden hatte, was für die Vorbereitung einer Eröffnung wichtig war. Astrid hatte zwar während ihrer gemeinsamen Zeit zwei Gemeinden gewinnen können, aber die Termine stets alleine wahrgenommen. Agnes begrüßte die Besucher und stellte Luise vor. Agnes war eine etwas zu rund geratene Frau mittleren Alters, die aber nicht dick war. Sie war halbtags berufstätig und lebte allein. Luise stellte die Aktion vor und erzählte von der Notwenigkeit, mit einem größeren Auto oder gemieteten Transporter in der Umgebung Lebensmittel selbst einzusammeln und von dem Inhalt ihrer Tasche, die sie im letzten Sommer in Hochmühle selbst als Kunde genossen hatte. Dann ging es um einige bürokratische Arbeiten, die meist unbeliebt, aber unumgänglich waren. Durch die Räume, die zur Verfügung standen, es handelte sich um einen ehemaligen Kindergarten, war der Platz recht begrenzt. Agnes hatte sich zu Luises Freude bereits Gedanken gemacht und zeigte allen Anwesenden die Möglichkeiten, wie die Tische aufgebaut werden könnten. Zusätzlich gab es einen Warteraum im Nachbargebäude. Dies erleichterte die Organisation. Am Ende des Termins schrieben sich fast alle in eine Liste ein, einige notierten auch ihre nicht anwesenden Ehepartner, sodass mehr als 20 Leute voller Tatendrang einen neuen Termin vereinbarten. Diese Eröffnung war nun nicht mehr aufzuhalten. Auch der Beirat hätte dies nicht mehr vermocht. Nach dem Termin stellte sich Paul vor. Er wohnte in Heidemoor, war jedoch in einer Kirchengemeinde in Drosselitz aktiv. Er hatte diesen Termin wahrgenommen um sich zu informieren. Er überlegte, ob dies auch für dort etwas war. Nun stellte er Luise weitere Fragen, die sie vollkommen überforderten. Hatte sie doch noch keine Vorstellung wie sie die Eröffnung in Heidemoor bewerkstelligen sollte, so sah sie gewiss jetzt keine Möglichkeit sich auf zwei Eröffnungen gleichzeitig zu konzentrieren.
Bei jedem Termin ergaben sich weitere Dinge, die noch geklärt und geregelt werden mussten. Doch näherte sich der Eröffnungstermin zu Luises Erstaunen recht zügig.
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Am ersten Aktionstag in Heidemoor bat Luise um Unterstützung. Sie verabredete sich mit Conny. An diesem Freitag, ein strahlend schöner Sommertag im Juni, wurde es ernst. Luise war gespannt wie alles funktionierte. Jeder der zahlreichen Ehrenamtlichen werkelte und fragte ab und an mal Luise etwas. Meistens ging es um die Art der Sortierung. „Müssen die Blätter von den Radieschen entfernt werden?“ „Ab wann gilt eine Tomate als Müll?“ Die Anwesenden waren erfahrene Hausfrauen, aber gerade bei dem Thema `wie lange kann man etwas noch essen´ gingen die Meinungen erstaunlich weit auseinander. Eine Frau erklärte Luise „ Schade, die Champignons sind alle Müll, an den Köpfen unten sind die Lamellen sichtbar“ Luise schaute verwundert. Davon hatte sie noch nichts gehört. Champignons gehörten zu ihrem Lieblingsgemüse und standen mehrmals in der Woche auf ihrem Speiseplan. So genau hatte sie nie darauf geachtet, aber waren große Exemplare nicht immer geöffnet? Eine Diskussion entstand. Man entschied sich die Frau zu überstimmen und die Champignons in die Verteilung zu legen. Von ihren Antworten hing irgendwie das Gelingen ab und sie glaubte, dass niemand so genau ahnte, wie unsicher und angespannt sie war. Aber der Tatendrang der Ehrenamtlichen und dank Connys ausgestrahlter Sicherheit erhielt Luise die nötige Zuversicht. Letztendlich mussten sie diese Aktion in `ihrer Gemeinde´ nun wöchentlich organisieren und die Antworten von Luise waren eine Idee und keine Maßgabe. Das Team stellte sich bereits am ersten Tag als super heraus. Einträchtig saßen drei Damen in der Sonne und sortierten Tomaten, halbierten Melonen und fanden zahlreiche Gelegenheiten zum
Lachen. So sollte ein Ehrenamt aussehen. Als die Biotonne übervoll war und noch zwei Kisten mit braunen Kohlblättern daneben standen, stieg Henriette kurzerhand in die Tonne und stampfte alles so weit zusammen, dass auch der Rest hinein passte. Henriette war eine fast 60jährige Frau mit so viel Elan, dass sie Luise fasst jugendlich vorkam. Die Verteilung verlief reibungslos, auf die Registrierung hatte man sich gut vorbereitet und die Gäste, wie die Abholer meistens genannt wurden, waren geduldig. Nach einem langen Tag, etwas erschöpft, aber sehr zufrieden, stieg Luise in ihr Auto und fuhr noch drei Kisten Gemüse zu einem Wohnprojekt im Ort.
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An den nächsten drei Freitagen war Luise weiterhin in Heidemoor. Dann hatte sich das Team so eingespielt, dass sie alleine die Sache sicher organisierten.
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Der Büroalltag kehrte wieder ein.
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Der Sommer neigte sich seinem Ende und Silke hatte eine neue Idee. Sie hatte sich ein neues Kinderprojekt ausgedacht und wollte den vorhandenen zwei Kinderküchen neuen Schwung geben. Irgendwie erschien ihr die Arbeit auf der Stelle zu stehen. Conny, als jüngste im Büro, erschien ihr, vielleicht auch durch ihr Studium, als geeignet. Immer häufiger befasste sich Conny mit der Kinder- und Jugendarbeit. Die Organisation der monatlichen Sammelaktionen ging weiter, aber Luise hatte das Gefühl, dass das Herzblut von Conny nun etwas anderem galt. „Conny, wenn du dich gerne ganz der Jugendarbeit widmen möchtest, kann ich dies verstehen“ begann Luise vorsichtig. „Aber ich möchte gerne rechtzeitig von deinen Plänen wissen, um mich darauf einstellen zu können“. Conny reagierte überrascht, ja fast enttäuscht. „Nein, mir macht die Arbeit mit dir Spaß und ich möchte diese auch weiterhin machen“ erklärte sie Luise. Es hatte sich gerade in einem Telefonat ergeben, dass eine Kundin der Aktion, die zeitweilig auch bei Sammlungen half, eine Eurojobberstelle suchte. Sicher hätte Luise hierzu etwas für die junge Mutter machen können und eine Zusammenarbeit konnte sich Luise gut vorstellen, soweit sie die Frau kannte. Gut, da hatte Luise das Gefühl wohl getäuscht. Beruhigt arbeitete sie weiter. Lief die Zusammenarbeit mit Conny doch gut und sie verstanden sich hervorragend.
Vier Wochen später meinte Conny „wir müssten mal etwas besprechen“. Luise wandte sich von dem PC ab und schaute Conny verwundert an. „Was ist denn?“ „Na ja-„ begann Conny etwas holperig und unsicher. „In letzter Zeit werde ich immer häufiger von Silke um Unterstützung in der Kinder- und Jugendarbeit gebeten und nun hat sie mich gefragte, ob ich mir eine feste Beschäftigung für diesen Bereich vorstellen kann“. Luise kochte. Sie kannte die Gepflogenheiten im Verein. Zu gut erinnerte sie sich an die Frage, damals am Rande der Weihnachtsfeier. Aber wie kann Conny so kurz, nachdem Luise sie darauf angesprochen hatte, die eigenen Worte über den Haufen werfen und Luise so `stehen lassen´? Ihre Enttäuschung formulierte Luise sehr deutlich. Conny war wie vor den Kopf gestoßen. Die kurze Unterhaltung war Luise wohl eindringlicher im Gedächtnis geblieben, als ihr. In der folgenden Woche zog Conny nicht nur an einen anderen Schreibtisch. Die Stimmung wurde allgemein etwas frostig und blieb zwischen ihnen so, bis Conny Jahre später einen anderen Arbeitsplatz fand.
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Verschiedene EurojobberInnen waren nun bei Luise im Büro gewesen. Meistens hatten sie bei Franzi und Beate angefangen und aus Mangel an einem Schreibtisch saßen sie dann irgendwann bei Luise im Büro und konnten dann auch von ihr mit Aufgaben betraut werden. Lange blieben sie meistens nicht.
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Mit Yvonne war dies anders. Sie war eine Frau der Praxis, stand mit dem PC etwas auf Kriegsfuss und zeigte, anders als Luise gewohnt war, Begeisterung für die Arbeit. Luise wünschte sich wieder eine vollständige Abgabe der monatlichen Aktionsorganisation, sodass sie sich auf sonstige Dinge, wie die Beschwerden und die Akquise konzentrieren konnte. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wurden Yvonne und Luise ein Team und durch die Möglichkeit einer weiteren Maßnahme blieb Yvonne zwei Jahre dabei und hatte ihr finanzielles Auskommen.
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Der Herbst wurde turbulent.
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Auch wenn der kleine Ort Friedsee vom Namen her ein idyllisches Örtchen vermuten lässt, so ging es in einer der drei Gemeinden im Ort recht turbulent zu. Friedsee war von der Fläche her der größte Ort, bestand jedoch überwiegend aus Wald und einem herrlichen See. Die Verteilung organisierten, wie überall, zahlreiche Ehrenamtliche. Die Hauptarbeit lag in diesem Fall jedoch in vier Händen. Dies war an sich noch nichts ungewöhnliches, doch leider erfuhr Luise von verschiedenen Seiten von Misstrauen. Auf dieser Grundlage war eine harmonische Zusammenarbeit im Team nicht möglich. Noch bevor Luise einen Termin fand, um sich vor Ort ein Bild zu machen, wurde die Schließung verkündet. Der Pfarrer der Gemeinde hatte dies beschlossen. Der Beirat sah sich machtlos. War er doch bemüht das Netz der Anlaufstellen noch weiter zu vergrößern, so war dies eine traurige Nachricht. Machtlos fühlte sich ein paar Tage später auch Luise. In Ihrem Büro standen drei Damen, ehemalige Kundinnen aus Friedsee. Sie hatten sich auf den weiten Weg gemacht um in der `Zentrale´, wie sie sich ausdrückten, eine Unterschriftensammlung zum Erhalt der Einrichtung abzugeben. Sie gaben ihr einen Brief und wollten eine Zusicherung. Doch die konnte Luise nicht geben. Sie erklärte ihnen, dass sie den Beirat informieren wird und dann wird entschieden, was eventuell unternommen werden kann. Die drei Damen wurden immer aufgebrachter. Sie wollten sich nicht abwimmeln lassen und verstanden nicht, dass Luise nichts entscheiden konnte. Letztendlich stellte die Gemeinde die Räume zur Verfügung und wenn der Pfarrer diese Aktion nicht mehr in seiner Gemeinde haben möchte, so musste dies respektiert werden. Auch wenn es schade war. In der folgenden Woche, der Beirat hatte noch keine Reaktion auf Luises Mail gezeigt, rief ein Herr an. Yvonne, die neue Eurojobberin in Luises Büro, hob ab, auch wenn sie noch recht zögerlich ans Telefon ging. Der Herr zählte ihr alle Kirchengemeinden und Glaubensvereinigung in Friedsee auf und forderte sie auf, neue Räume zu suchen. Yvonne reagierte erstaunlich gelassen und erklärte dem Herrn das, was Luise vorher den drei Damen erklärt hatte. Luise freute sich. In solchen Situationen muss an einem Strang gezogen werden, ansonsten wird es schwierig. Der Beirat sah dies leider nicht immer so. Den Herrn beeindruckten die Worte jedoch wenig. Er beschimpfte Yvonne: „Wenn wir in Friedsee alle verhungern oder aus Verzweiflung von der Brücke springen, so sind sie schuld daran“. Da war die Gelassenheit von Yvonne dahin. Zu kurze Zeit war sie erst dabei, um auch auf solche Anschuldigungen eine Antwort parat zu haben. Sie legte einfach auf. Luise verstand dies gut. Der Herr zeigte weniger Verständnis. Er schrieb Briefe. In diesen führte er wieder alle aus seiner Sicht geeigneten Räumlichkeiten in Friedsee auf und forderte mit Nachdruck, eine sofortige Neueröffnung. Luise und Yvonne erfuhren von diesen Briefen aus den unterschiedlichsten Richtungen. Im Verein selbst gingen drei der Briefe, mit identischem Wortlaut, ein. Telefonisch wurden Luise und Yvonne von einem Radiosender und dem Kreisamt gebeten eine Antwort zu formulieren, da sie auf derartige Briefe reagieren mussten und den Sachverhalt nicht kannten. Endlich reagierte Silke. Der Beirat hielt sich bedeckt und Yvonne und Luise entspannten sich etwas.
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Die Ruhe dauerte nicht lange an.
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In einer örtlichen Zeitung erschien ein Artikel, in dem Luise zitiert wurde. Irgendjemand musste am Telefon Fragen gestellt haben und dafür nicht den günstigsten Tag von ihr erwischt haben. Als Silke diesen Artikel in die Hände bekam, kochte sie vor Wut. Diese galt jedoch nicht dem Schreiber des Artikels, sondern Luise. Sie saß gerade am PC und beantwortete Mails, als Silke zu ihr in den Nachbarraum kam. Durch die plötzlichen Worte zuckte sie unmerklich zusammen, denn sie saß mit dem Rücken zur Tür. Silke stand mit hoch rotem Kopf im Türrahmen und schrie sich ihre Wut heraus. Sprachlos vernahm Luise zahlreiche Vorwürfe und Beleidigungen, die auf sie niederprasselten. Ohne eine Reaktion oder Erklärung abzuwarten verschwand Silke wieder in ihrem Büro. Nur mit Mühe wagte Luise wieder zu atmen. Irgendwie sammelte sie aus den Beschimpfungen die Wortfetzen heraus, die den Grund dieser Wut genauer definierten. Franzi war herüber gekommen und schaute Luise fragend an. Auch ihr blieb der Grund erst einmal verborgen. Dies wunderte Franzi jedoch nicht. Sie war seit langem dort tätig und kannte derartige Wutausbrüche von Silke zu gut. „Komm, lass uns eine rauchen gehen“ sagte Franziska und legte ihre Hand auf Luises Rücken. Dabei schob sie sie leicht in Richtung Tür. Erst verstand Luise gar nicht was Franzi meinte. Sie rauchte doch gar nicht und sie fühlte sich noch ganz erstarrt, um jetzt irgendwo hin zu gehen. Auf dem Hof, tief die kühle Novemberluft einatmend, verstand auch Luise langsam, warum Franzi darauf gedrungen hatte. Hier konnte man in Ruhe reden, die Gedanken sortieren und den Kern des Problems suchen. Luise war gar nicht aufgefallen, dass Silke die ganze Zeit eine Zeitung in den Händen hielt und damit herumfuchtelte. Im Hochmühler Anzeiger erschien ein Bericht über eine soziale Einrichtung, die unter Anderem eine Suppenküche anbot. Obwohl es gar nicht um die Vereinsstelle ging, zitierte man Luise. Gegen rhetorisch raffiniert gestellte Fragen von Pressemitarbeitern hatte Luise keine Chance und dies musste doch auch Silke erkennen? Luise fühlte sich wie betäubt. Immer noch sprachlos ging sie zurück ins Büro. Es war kurz vor 15:00 Uhr und sie wollte die restlichen Mails noch lesen.
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Nach solchen Augenblicken ging Luise oft zu Lea ins Büro. Reden tat gut, wenn die Eindrücke einem im Magen lagen. Lea, Ende 50 und in der Buchhaltung des Vereines gestrandet, hatte immer mitfühlende Worte. Luise erlebte unglaubliches, musste sich zur Wehr setzen und unerwünschte Formulierungen erdulden. Um die Aufgaben von Luise beneidete Lea sie nicht. Auch wenn sie mit ihrer eigenen Situation ebenfalls all zu oft haderte. Lea sah sich immer wieder in der Situation, dass in ihrem Eingangskorb alles abgeladen wurde, was nicht genau zugeordnet werden konnte. Gab es etwas Neues, so wurde dies in der Buchhaltung platziert. Man nannte dies dann `neue Herausforderungen´ und schmunzelte vermeintlich aufbauend. Doch Lea fand nichts Aufbauendes daran. So entstanden viele Gelegenheiten, in denen Luise und Lea sich gegenseitig ihr Herz ausschütteten. Dies geschah privat, denn es gab Bemerkungen aus dem Vorstand, die einen die Ohren an den Wänden suchen ließen.
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Sich dadurch für derartige Situationen wappnen konnte man nicht.
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Eine Lebensmittelverteilung in Heidemoor hatte an einem Wochentag unter dem Vereinsnamen geöffnet und organisierte an den restlichen Tagen als Gemeinde eine Lebensmittelabgabe. Diese Umstände erfuhr ein paar Tage später eine Frau aus dem Beirat. Eine Kundin hatte dies erzählt und zusätzlich darüber informiert, dass jeder, auch aus den Nachbarorten, in Heidemoor etwas erhält. Selbst im Kreis ansässig, berichtete sie dies recht aufgebracht in einer Sitzung. Luise bestätigte diese Vorgehensweise. Die Gemeinde machte daraus kein Geheimnis, sodass Luise dies bereits auf der Internetseite gelesen hatte. Dies nutzte Silke wieder für ungehaltene Worte. Dieses Mal hatte Luise jedoch Glück. Im Beisein des Beirates fielen die Worte gegen Luise etwas freundlicher aus. Es beteiligten sich so viele unterschiedliche Menschen an dieser Vereinsarbeit. Wie konnte Luise immer wieder für dessen Handeln verantwortlich gemacht werden? Sie verstand Silkes Gedanken nicht mehr. Anfänglich ging es um die Sache selbst. In der Zwischenzeit hatten sich zahlreiche Gruppen gebildet, die ihre eigenen Vorstellungen umsetzten. Dagegen war sie machtlos, auch wenn Luise immer wieder die Vorstellungen und Wünsche von Silke kommunizierte. Luise galt als Anlaufstelle, wenn eine Herausforderung zu groß wurde. Doch oft sahen die Ehrenamtlichen keine Probleme und handelten nach bestem Wissen. „Gott sei Dank“ dachte Luise insgeheim. Würden alle Fragen auf ihrem Schreibtisch landen, müsste der 48-Stundentag erfunden werden. Luise sah jetzt schon oft kaum Zeit zum durchatmen. „Bloß wie mache ich dies dem Vorstand klar, ohne erneut das Gefühl vermittelt zu bekommen, zu versagen?“ fragte sich Luise.
Nach einem Gesprächsversuch mit dem Pfarrer wurde die Gemeinde aus der Aktion ausgeschlossen. Luise organisierte parallel dazu eine Neueröffnung. Dadurch gab es einige Verwirrung, vorrangig bei der Pressearbeit.
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Aber irgendwie ging es immer weiter.
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Anfang November war es dann soweit. In Rettlingburg hatte sich ein Team gefunden und die erste Verteilung begann. Wieder fuhr Luise morgens in die Gemeinde und half die Aktion auf den Weg zu bringen. In der Zwischenzeit war Yvonne im Büro, was Luise etwas entspannter an die Sache heran gehen ließ.
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Die Räume in Rettlingburg waren optimal. Es gab einen großen Gemeindesaal, in dessen Mitte ein Tischkreis gestellt wurde. Pia, die ehrenamtlich die Hauptorganisation dort machte, hatte sich ein neues System ausgedacht um die Wartezeiten für die Gäste zu verkürzen. Die meisten Gemeinden verteilten mittlerweile Wartenummern. Dies erinnerte Pia zu sehr an Behörden – das wollte sie nicht in einer Kirchengemeinde umsetzen. Als Luise von dieser Planung erfuhr, war sie begeistert. Die Vorteile lagen klar auf der Hand und die Wartenummern hatten Luise schon die ganze Zeit etwas gestört. Dass diese, aufgrund des Verhaltens der Gäste, notwendig geworden waren, hatte sie eingesehen. Nun gab es endlich eine Alternative.
Am Eröffnungstag stand plötzlich Presse vor der Tür. Der regionale Fernsehsender wollte in der Nachrichtensendung berichten und interviewte neben Pia auch Luise. Luise hatte Pia beobachtet. Ganz ruhig und souverän wirkte sie mit dem Mikrofon. Als der Reporter zu Luise kam stellte sich bei ihr ein flaues Gefühl im Magen ein. Irgendwie hatte Luise auch hinterher das ungute Gefühl, dass man dies an ihrer Stimme heraushörte. Abends schaute sie sich den Nachrichtenbeitrag an und freute sich, dass sie nur mit einem kurzen Satz vertreten war und der Beitrag, vorrangig durch Pia, gelungen war. Pressearbeit mochte Luise nicht. Für die nächste Eröffnung, sollte es noch eine geben, nahm sich Luise vor, Silke oder Sven dazu zu bitten.
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Am Rande bekam Luise noch mit, dass auch ein Reporter einer Tageszeitung anwesend war. Im Gemeindesaal erzählte eine Frau, mit Pelzmantel bekleidet und in Luises Augen mit auffällig viel Schmuck behangen, dass sie so froh ist, dass sie nun hier Lebensmittel erhält. „Nun kann ich endlich meiner Tochter mal etwas gönnen“. Etwas vorwurfsvoll dachte Luise da „wenn diese Frau sich nicht für 20,- Euro Schminke ins Gesicht schmieren würde, könnte sie sich etwas mehr leisten“. Ausgerechnet diese Frau wurde beim herausgehen von dem Zeitungsreporter angesprochen. Im Hof befand sich ein kleiner Tisch, auf dem nun die erhaltenen Lebensmittel ausgebreitet wurden und die Frau lächelnd in die Kamera sagte „von diesen Spenden werden meine Tochter und ich eine ganze Woche lang satt. Ich danke von ganzem Herzen dafür“. Luise sträubten sich noch am nächsten Tag die Nackenhaare, als sie das Bild auf der Titelseite fand. War es doch von dem Verein ein wichtiges Anliegen, eine Unterstützung anzubieten. Inständig hoffte Luise, dass Silke dieses Titelblatt nicht in die Hände bekam. Vor der Reaktion graute ihr. Dabei zeigte sich zum wiederholten Mal, wie schmal der Weg war auf dem Luise unterwegs war. Einerseits gab es Vorgaben vom Vereinsvorstand und auf der anderen Seite gab es, mit der Eröffnung in Rettlingburg, über 1000 ehrenamtlich Aktive in der Region und die zahlreichen Gäste, die bei unterschiedlichsten Gelegenheiten zu der Aktion sagten, was sie sich gerade dachten. Dabei viel so manches Wort, was die spendenfreudige Bevölkerung etwas zurückhaltender machte.
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Lottospielen kam Luise treffsicherer vor.
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In einem von Rettlingburg etwas weiter entfernt liegendem Ort, gab es ebenfalls einen Verein, der Lebensmittelspenden verteilte. Nun wird man vielleicht denken, in jedem Ort gibt es Supermärkte, da wird es für alle ortsnah etwas geben. Die Leute aus Fräsdorf sahen dies anders. Da die Wege zwischen den Märkten kürzer, und die Filialleitungen bereits informiert waren, war es für sie bequemer nach Rettlingburg zu fahren. Durch die Neueröffnung gab es hier jedoch vier Verteilungen in der Woche, sodass eine Abholung flächendeckend möglich gewesen wäre. Aufgrund von Gesprächen mit Silke, vor mehr als fünf Jahren, beriefen sich die Fräsdorfer auf eine Zustimmung und fuhren wild umher. Luise war dies schon länger ein Dorn im Auge, aber bevor die Ehrenamtlichen aus Rettlingburg nichts sagten, wollte sie an der Situation nichts ändern. Nun bat Pia um Hilfe. Schon mehrfach hatten sich die Rettlingburger und Fräsdorfer getroffen und jeden Versuch, die Abholmöglichkeiten mehr ortsansässig zu verteilen, hatten die Fräsdorfer verhindert. Luise bat Silke mit zu diesem erneuten Termin. Sie hoffte, dass neue Absprachen möglich wurden. Pia begann diese Besprechung und schilderte ihre Situation. Bei jedem Wunsch erklärten jedoch die Fräsdorfer weinerlich „eine Abgabe ist hier nicht möglich, diesen Markt benötigen wir unbedingt“ und Silke redete viel, sagte aber wenig konkretes. Vielleicht lag es an der Anwesenheit von Silke, dass die anderen Rettlingburger sehr ruhig waren. Vereinzelt hatte Luise versucht Pias Argumente zu unterstreichen, meistens blieb sie jedoch ungehört. Als Luise in Silkes Auto stieg hatte sie das Gefühl, dass dieser Termin wenig verändern wird. Als Silke dann stolz zu ihr sagte „da haben wir eben viel geschafft“ schwieg Luise. Die Situation in Rettlingburg blieb schwierig.
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Schon begannen die Vorbereitungen für die Adventzeit. Bereits zum zweiten Mal durften Ehrenamtliche drei Tage lang unter einem riesigen Weihnachtsbaum im Foyer eines örtlichen Fernsehsenders Lebensmittel sammeln. Die Bürger der umliegenden Gemeinden wurden `eingeladen´ ihre Spenden abzugeben. Und wie die Leute kamen. Als Luise am Abend des ersten Tages das Gebäude betrat, verschlug es ihr die Sprache. In einer großen Halle stand ein riesiger Weihnachtsbaum, wunderbar geschmückt mit Kugeln und Kerzen. Und darunter lagen Mengen von Konserven, Nudeln, Schokoweihnachtsmänner, aufgestellt wie eine Armee. Auch hatten Leute Spielzeug und Kinderkleidung abgegeben. Dies war ein Anblick, wie gemalt. Dieser große Baum, den Luise auf vier bis fünf Meter schätzte, ergab ein Bild, wie es in den schönsten Kinderträumen entsteht, wenn man sich den Weihnachtsbaum vorstellt und ganz viele Geschenke darunter liegen. Und dazu das strahlende Gesicht der ehrenamtlichen Dame, die seit drei Stunden die Spenden entgegennahm. Luise wusste, morgen bringe ich einen Fotoapparat mit. Die Sortierung und gleichmäßige Aufteilung auf die Gemeinden der Umgebung war dagegen mit nicht ganz so großer Freude verbunden. Dabei erinnerte sich Luise an ihr Poesiealbum, in das ihre Religionslehrerein geschrieben hatte „Es recht zu machen jedermann, ist eine Kunst, die niemand kann.“ Wie wahr.
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Ein paar Monate später kündigte sich hoher Besuch an. Ein weltweit bekannter Musiker hatte anfragen lassen, ob er den Verein besuchen darf. Er würde dies in jeder Stadt tun, wo er Konzerte gab. Dies war jedoch nicht so einfach. Hierzu gab es vorher genaue Protokolle, die Grundstückseigentümer mussten über die Pressearbeit informiert werden. Dazu hatte Franzi viel zu beachten und zu organisieren. Doch dann kam der große Tag. Viele waren schon Stunden vorher aufgeregt. So einen Besuch erlebt man ja schließlich nicht alle Tage. Und dann begann das Warten. Offizielle Vertreter waren schon da, so wurden neueste Informationen schnell weiter gegeben. Der Flieger hatte Verspätung. Dann war einige Zeit nicht klar, ob vor dem Konzert genügend Zeit blieb und letztendlich kam der Lebensgefährte des Künstlers und besichtigte die Vereinsräume. Alle standen daneben und lächelten, aber irgendwie hing die Enttäuschung schon merklich in der Luft. Diese verschwand dann rasch, als ganz spontan Freikarten für das Konzert verschenkt wurden. Auch wenn nur zwei Stunden bis zum Beginn blieben und viele keine Zeit mehr fanden sich vorher zuhause umzuziehen, so war dies ein schöner Abend.
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Seit einigen Monaten gab es regelmäßige Teamtreffen. Darin wurden Neuigkeiten aus den einzelnen Bereichen ausgetauscht und so manches diskutiert. Anfang März stellte Silke eine neue Kollegin vor. Anna-Lena war nicht so neu im Verein. Aber viele kannten sie noch nicht. Bis zu dieser Zeit hatte sie sich um verschiedene Kinderaktionen gekümmert und war im Hauptlager nicht weiter in Erscheinung getreten. Anna-Lena war eine große und schlanke Frau, Anfang 40, so schätzte Luise. Durch ihre streng nach hinten gekämmten und zu einem Knoten hoch gedrehten Haaren erinnerte sie Luise an eine Frau in der Fernsehrserie, die sie immer sah. Diese Dame spielte dort eine Intrigantin. Still hoffte Luise in dieser Sitzung für Anna-Lena auf eine freundlichere Rolle, übernahm sie doch eine Führungsposition. Damit erreichte der vor zwei Jahren noch klein und beschaulich erscheinende Verein den Charakter einer Firma.
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Der Wind sollte sich auch merklich drehen.
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Wenn Emails eingingen, dass Leute gerne ehrenamtlich den Verein unterstützen möchten, und diese waren nicht wenige, wurden sie zu einem Infotreff eingeladen. Dort erfuhren sie etwas zur Vereinsgeschichte und zu einzelnen Aktionen. Danach unterhielten sich nun verschiedene Mitarbeiter mit den Leuten, um deren Stärken zu erfragen. Die Einsätze sollten effektiver werden. Ganz nachvollziehen konnte Luise diese Vorgehensweise nicht. Soll Ehrenamt nicht vorrangig Spaß machen? Irgendwie klang dies nach Vorstellungsgespräch. Und davon hatte Luise schon zahlreiche erlebt, an die sie sich nicht gerne zurück erinnerte. Zu schnell wurde einem dabei etwas angedichtet, was durch ein Missverständnis entstand.
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Und dies lies gar nicht lange auf sich warten.
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Edgar hatte vor einiger Zeit bei Luise angerufen und erzählt, dass er Peter kennt. Dieser hatte von einer Spendensammlung erzählt, bei der er im nächsten Monat gerne mit dabei sein möchte. Luise freute sich. Neue Leute konnte sie immer gebrauchen und wenn diese über Bekannte dazu kamen, waren sie bereits über den Verein gut informiert. Peter hatte, wie Luise zu sagen pflegte, bereits eine Inventarnummer. Er war seit Jahren aktiv dabei und war für alles begeisterungsfähig. Genau solche Leute brauchte der Verein. Nach einigen Aktionstagen, Luise verstand sich gut mit Edgar, schlug sie ihn vor, als für eine Veranstaltung jemand für die Organisation gesucht wurde. Anna-Lena fragte, ob von den Anwesenden aus dem Team jemand die Einsatzfähigkeit von Edgar bestätigen konnte, da brauste Silke schon auf. „Edgar ist unmöglich und macht, was ihm in den Sinn kommt. Konzepte interessieren ihn nicht. Der ist gänzlich ungeeignet.“ „Wenn Luise“ so Silke weiter „sich bei ihren Aktionen auf ihn einlässt, ist dies ihre Sache. Aber bei allgemein organisierten Dingen will ich Edgar nicht dabei haben“. Damit war der Vorschlag abgelehnt. Wochen später kam heraus, dass eine Verwechslung vorlag. Silke und Edgar arbeiteten von nun an super zusammen, denn die erste wirkliche Zusammenarbeit wurde von beiden Seiten als sehr angenehm empfunden.
Luise war nicht zum letzten Mal sprachlos.
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Seit ein paar Monaten gab es regelmäßige größere Brotspenden von einer Brotfabrik aus dem Nachbarort. Dessen Pressestelle hatte sich bei Luise gemeldet. Bis dahin war das einsammeln der einzelnen Brotspenden in den Bäckereien recht mühselig und zeitaufwändig. Auch wenn selbstverständlich die vereinbarten Abholungen dadurch nicht ersetzt wurden, so war die Freude über dieses tolle Angebot groß. Der Wunsch, diese Spendenbereitschaft pressewirksam zu nutzen, wurde daher vom Verein gerne unterstützt. Die ersten Brote wurden in Anwesenheit der Firmenleitung verteilt. Silke hatte einen Termin hierzu vereinbart. Die Ehrenamtlichen sahen Luises Bemühungen, die zu dieser Zusammenarbeit führten. Die Enttäuschung über Luises Abwesenheit wurde ihr am nächsten Tag von dem Pfarrer ausgerichtet. Luise entschuldigte sich und beteuerte ihr Bedauern. Sie war in einer anderen Gemeinde, wo es Schwierigkeiten mit den Räumen gab. Diese waren nicht zur Gemeinde gehörig und es stand ein Umzug bevor. Auch diesen Termin hatte Silke vereinbart und Luise hingeschickt. Dann wurden statt Brote Osterhasen gebacken und in einer Gemeinde an die Gäste verteilt. Hierzu wurde ein hoher Kirchenvertreter geladen. Die Presse drängelte sich in den engen Gemeinderäumen und Silke immer ganz vorne. Luises Anwesenheit fiel nicht weiter auf.
Dann folgte eine Idee, die zusätzliche Spenden einbrachte. Auf einem Volkslauf wurden möglichst viele Läufer davon überzeugt das T-Shirt mit dem Firmen- und dem Vereinslogo zu schmücken. Die Firma spendete dann für jeden km ein Brot zusätzlich. Dank der ehrenamtlichen Ãœberzeugungsarbeit vor dem Start, war die Resonanz umwerfend. Im darauf folgenden Jahr sollte diese Idee mit einer anderen Firma aufgegriffen werden. An Erfolge anzuknüpfen und daraus Dauerbrenner zu machen entsprach Silkes Traum von Erfolg. Allen beteiligten war es klar, dass beim ersten Mal immer improvisiert werden musste und darin lag der Charme solcher Veranstaltungen, der den Ehrenamtlichen seit Jahren so viel Begeisterung einbrachte. Dadurch trugen sich die Leute etwas zögerlich in die Liste ein, als Hilfe gesucht wurde. Als Edgars Name erschien, trug sich Luise ebenfalls ein. Da wusste sie, dieser Sonntagvormittag konnte nur lustig werden. Am Freitag, gegen Mittag, erfuhr Luise dann, dass Silke kurz vorbei schaut um die Aktion auf der Bühne bekannt zu geben, aber ansonsten privat Besuch hat und keine Zeit. Auch war niemand sonst als Fahrer organisiert worden und so blieb alles an Luise hängen. Sie sollte plötzlich die Hauptverantwortliche sein. So hatte sie sich den Sonntag nicht vorgestellt. Samstag, noch bis spät privat unterwegs, fuhr sie nachts zum Lager und tauschte die Autos. Dadurch konnte sie am Sonntag etwas später los, denn der Startpunkt des Laufes lag dichter an ihrer Wohnung, als am Büro. Dass Luise in der Nacht noch das Auto beladen und vorher zahlreichen `Müll´ aus dem Kofferraum heraus räumen musste, störte sie nur mäßig. Sie kannte die Leute zu gut, die ansonsten mit diesem Auto unterwegs waren. Um 7:00 Uhr auf dem Platz traf Luise auch Edgar bereits. Sogleich machten sie sich daran, die eintreffenden Läufer über die Aktion zu informieren und die Logos an dessen Shirts zu heften. Mit zahlreicher Unterstützung wurde auch dieser Tag zufrieden abgeschlossen, als die Läufer gestartet waren. Die Helfer verabschiedeten sich, gaben Luise Flyer zurück, die sie zusätzlich verteilt hatten und eh sich Luise versah, stand sie mit Edgar alleine da. Er erklärte ihr gerade, dass er es ebenfalls eilig hat, da noch eine Familienfeier anstand, da tauchte Silke noch einmal auf. Luise bat sie bei den Kartons zu bleiben, damit sie das Auto holen kann. Luise hatte keine Lust die Sachen alle zu schleppen. Silke dachte jedoch anders. Einen kleinen Karton schnappte sie sich, „ wenn ich jetzt zu meinem Auto gehe, komme ich an deinem vorbei. Ich lege die Sachen dann dort ab“. Noch eh Luise etwas sagen konnte, war Silke, mit ihrem Besuch, der mit leeren Händen ging, verschwunden. Wütend schleppte Luise die restlichen drei Kartons zum Parkplatz, stopfte alles mit viel Mühe irgendwie in das kleine Auto. „Ein `Danke´ wäre nett gewesen“ dachte Luise auf der Fahrt nach Hause und drehte das Radio lauter.
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Am Abend fragte sich Luise mal wieder, warum sie sich solche Aktionen eigentlich antat. Irgendwie war es bereits Programm. Nach dem Spaß folgte eine Portion Frust. `Du machst dies für die Anerkennung der wöchentlichen Arbeit, also zur Unterstützung der Ehrenamtlichen´ meldete sich dann ihr Bauchgefühl.
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An einem Dienstagnachmittag klingelte bei Luise das Telefon. Es war kurz nach Ostern. Eine Frau, Gast in einer Gemeinde in Heidemoor, bat um eine Möglichkeit in Zukunft nach Hochmühle gehen zu dürfen. Luise erklärte ihr die Struktur und dass es keine Möglichkeit gab außerhalb des Wohnortes Lebensmittel zu erhalten. Die Frau wurde grantig. Sie klagte Luise ihr Leid. Die Ehrenamtlichen hatten sie aus ungeklärten Gründen „auf dem Kieker“ und bedienten sie schlecht. Immer erhielt sie `total vergammeltes´ Obst und ganz wenig Gemüse. „Sie darf nie etwas aussuchen, muss nehmen was ihr gegeben wird und ihr Wunsch sich nur Biologisch zu ernähren, wird ignoriert“ so die Frau weiter. Luise erklärte ihr, dass ca. 1/3 der Spenden aus Bioläden stammten, jedoch auf dem Apfel nicht draufstand wo er her war, als er zur Gemeinde gebracht wurde. Daher ist eine Unterscheidung nicht möglich, zumal dies einen nicht zu bewältigenden Aufwand darstellen würde. Die Frau ließ nicht locker und Luise gab sich geschlagen. Sie versprach mit den Ehrenamtlichen zu sprechen und sie zurück zu rufen. Insgeheim wusste sie bereits, was sie bei diesem Rückruf sagen würde. Aber vielleicht hatten die Verteiler in den Gemeinden noch ein Argument, welches Luise gerne aufgriff. Mit dem festen Vorsatz der Frau helfen zu wollen, rief Luise in der Gemeinde an, in der die Frau sich unverstanden und schlecht behandelt fühlte. „So unterschiedlich können Eindrücke sein" stellte Luise wieder einmal fest. Man erzählte ihr, dass die Frau sich erst kurz vor Schluss eine Nummer holt, dann sofort rein möchte und sich allgemein sehr uneinsichtig gab. Letzteres konnte Luise von dem Telefonat bestätigen. Ferner erfuhr sie, dass mit der Frau schon Gespräche geführt wurden und sie weiterhin dabei blieb, dass die schlechte Bedienung System hatte. Nun hatte Luise die Lust verloren der Frau zu helfen. Den Gedanken die Gemeinde anzurufen, wo die Frau stattdessen abholen wollte, verwarf sie. Die Ehrenamtliche dort hatte derartigen Stress nicht verdient. War sie doch erst ein paar Wochen Hauptverantwortliche, hatte sich spontan bereit erklärt und dadurch noch recht unsicher. Luise zögerte den Rückruf hinaus. Am Freitag, Luise hatte bereits den Finger kurz vor dem Knopf um den Anrufbeantworter einzuschalten, klingelte dieses. Sie zögerte kurz, ging jedoch noch ran. Da hörte sie recht vorwurfsvoll „Sie wollten sich doch zurückmelden. Hat das System in ihrem Verein, dass sie Beschwerden ignorieren?“. Luise setzte sich noch einmal, war der Rechner auch schon heruntergefahren, so schwante ihr schnell, dass das Wochenende noch etwas auf sich warten lassen musste. „Nein“ antwortet sie. „selbstverständlich ignorieren wir Ihre Sorgen nicht. Ich habe die Ehrenamtlichen in der Gemeinde bloß noch nicht erreicht“ log sie schnell und hoffte damit Zeit bis Montag zu erlangen. Die Frau gab sich damit jedoch nicht zufrieden. Wieder hörte sich Luise deren Vorwürfe an, versuchte einiges so zu hinterfragen, sodass sie der Frau die Meinung der Ehrenamtlichen mitteilen konnte, ohne dies direkt zu tun und erklärte ihr immer wieder den Vereinssinn und das Prinzip der Aktion. An ein Ende des Gespräches war nicht zu denken. Die Frau kam immer wieder mit neuen Argumenten, waren sie auch noch so weit hergeholt. So blieb sie beharrlich bei der Meinung Luise ist persönlich dafür verantwortlich, dass sie am Dienstag `vernünftige´ Lebensmittel erhält, und nicht verhungert. Schließlich neigte sich der Monat dem Ende und die Frau hatte kein Geld mehr. Luise frage die Frau, was meinen Sie mit Vernünftig? Es gibt meistens Obst, Gemüse und Brot. Das war doch eine gute Unterstützung um den Speiseplan zu bereichern. Die Frau begann von neuem einen Wortschwall. Dabei ließ sie sich über die Qualität aus und wiederholte, dass sie Vegetarierin sei und sich nur biologisch ernähre. Auf solche wichtigen Fakten wurde keine Rücksicht genommen. Da Luise bereits Informationen aus der Gemeinde hatte ohne dies zugeben zu wollen, erzählte sie der Frau, dass sie, nach dem Telefonat, persönlich im Lager die Qualität der Ware geprüft hatte. Diese war, bedenkt man die Tatsache, dass dies unverkäufliche Spenden waren, super. Derart schlechte Sachen, wie die Frau sie beschrieben hatte, waren nicht zu finden. Dann fragte Luise „welche Nummer hatten Sie denn zum Beispiel letzte Woche?“ Darauf berichtete die Frau bereitwillig, dass sie immer erst kurz vor 13:00 Uhr dort ist und unter den letzten 10 Gästen war. Ferner erwähnte sie, dass sie keine Zeit hätte sich stundenlang anzustellen und die Ehrenamtlichen wissen doch, dass sie noch kommt. „Da wird es doch möglich sein für mich noch etwas aufzuheben“ schloss sie ihre Ausführung. Luise schluckte. Was sollte man dazu noch sagen. Sie beschloss erst einmal zu versuchen, die Frau in Erklärungsnot zu bringen. Erklärungen ihrerseits würden nicht ankommen. So fragte Luise „was meinen Sie mit "sie haben keine Zeit"? Sie sagten doch, sie sind erwerbsunfähig.“ „Eben“, antwortete diese. „Sie haben wohl keine Ahnung zu wie vielen Terminen ich wöchentlich muss? Zum Arzt und zwei Mal in der Woche zur Physiotherapie“. Luise dachte still „Psychotherapie wäre angebrachter“ und versuchte der Situation etwas Fröhliches abzugewinnen. Dann erzählte die Frau von ihrer kleinen Rente, die unter 500,- Euro betrug und daher das Einkaufen zu einer zeitaufwendigen Sache wurde. Luise empfahl ihr zusätzlich Grundsicherungsrente zu beantragen. Dieser Vorschlag wurde mit dem Argument der Zeitknappheit jedoch erschlagen. Luise wollte endlich Feierabend machen und beschloss direkter zu werden. „Sie sagten eingangs, dass die Qualität der Lebensmittel bei uns sehr schlecht sei und sie vieles in den Müll tun müssen. Ist es dann nicht Zeitverschwendung zur Gemeinde zu gehen? Ãœberlegen sie doch mal ob es nicht effektiver sei am Dienstag auf die Unterstützung zu verzichten und in dieser gesparten Zeit zum Grundsicherungsamt zu gehen.“ Dieser Vorschlag machte die Frau ein paar Sekunden sprachlos. Luise ergriff die Chance und wünschte ein schönes Wochenende. Nun aber schnell den Anrufbeantworter an, bevor das Telefon noch einmal klingelte. Luise nahm ihren Rucksack und schloss das Büro ab. Ein paar Minuten wollte sie sich noch nehmen und ging zu Lea, ihr ebenfalls ein schönes Wochenende zu wünschen. Bereits auf der Treppe hörte sie Lea telefonieren. Auf die Idee, dass die Frau eine andere Vereinsnummer im Internet gefunden hatte und nun Lea den ganzen Salm, inkl. der Beschwerde, dass Luise einfach aufgelegt hatte, erzählte, wäre Luise nie gekommen. Sie setzte sich auf den Gymnastikball vor Leas Schreibtisch, wippte fröhlich vor sich hin und ihr lächeln wurde immer breiter, als sie hörte, dass Lea der Frau ähnlich antwortete.
Nach dem Gespräch fühlten sich beide Wochenendreif und verabredeten sich spontan auf einen entspannenden Sonntagsspaziergang.
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Es folgten noch einige ähnliche Telefonate und letztendlich wurde die Frau in einem Gespräch mit der Pfarrerin dazu gebracht die Regeln zu akzeptieren. Luise wurde klar, dass die Ehrenamtlichen zwar sie um Unterstützung baten, vor Ort jedoch die Dinge viel leichter lösbar waren.
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Vermeiden ließen sich solche Anrufe durch diese Erkenntnis nicht.
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Ebenfalls Gemeinden in Heidemoor betreffend rief ein paar Monate später ein Herr bei Luise an. Er war an einem Mittwoch in der Gemeinde und erhielt dort keine Lebensmittel, weil er keinen Ausweis vorlegen konnte. Luise erklärte ihm, dass er den Ausweis bei der Anmeldung benötigt, da in Heidemoor mehrere Stellen existieren und auf dem Ausweis der Wohnort steht. „Ich bin Schwerbehindert“ erklärte der Herr Luise entrüstet. „Und?“ fragte Luise etwas unsicher. Diesen Hinweis konnte sie nicht einordnen. „Na wissen Sie denn gar nichts?“ fragte der Herr. „Ich, als Blinder Mensch, erhalte keinen Ausweis in Deutschland“. Luise zog die Stirn kraus. Davon hatte sie noch nichts gehört. Der Herr sprach weiter, ohne dass Luise etwas gesagt hatte. „Von der Stimme klingen sie noch jünger, was haben sie eigentlich in der Schule gelernt? Behinderte werden in Deutschland als Menschen zweiter Klasse behandelt.“ Luise wollte sich so einen Blödsinn nicht anhören und unterbrach den Herrn unhöflich. „Entschuldigung, aber dies ist so nicht korrekt“ entgegnete Luise. „Meine Klasse hatte selbst eine Patenschaft für eine Schulklasse in einem Behindertenzentrum gehabt und wir unternahmen Ausflüge mit den Rollstuhlfahrern und hatten viel Spaß.“ berichtete Luise dem Herrn. „Von Gleichgültigkeit und Ignoranz waren wir weit entfernt“. Sie wusste auch, dass diese Rollis, wie sie liebevoll genannt wurden, auch Ausweise hatten. Eine flog immer zu ihrer Oma nach Spanien. Der Herr wiederholte seine Auffassung, dass er keinen Ausweis bekam und stellte Luise mit seiner Wortwahl als Lügnerin dar. Luise wusste in diesem Augenblick, dass sie unhöflicher nicht werden konnte. Aber solche Lügen wollte sie sich nicht anhören. „Na, da haben sie ja Glück, dass sie noch leben“ äußerte Luise. „Bis 1990 galt ja schließlich das Alliiertengesetz. Demnach waren diese berechtigt jederzeit auf der Strasse Ausweiskontrollen durchzuführen und wer keinen dabei hatte, hätte erschossen werden können“. Der Herr legte auf. Dass diese Geschichte noch nicht vom Tisch war, spürte Luise. Aber dies war ihr egal. Sie atmete erst einmal tief durch und ging in die Mittagspause. Dabei machte sie sich zahlreiche Gedanken. Wie krank war eigentlich die Gesellschaft? Was ging in den Köpfen der Leute vor? Ratlosigkeit machte sich bei Luise breit. Sie tröstete sich damit, dass durch die Vereinsarbeit diese Leute förmlich zusammengerufen wurden und sie durch die geballte Kraft an queren Gedanken bloß überfordert war.
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Ein paar Tage später rief der Herr wieder an und erzählte unbeirrt seine Geschichte aufs Neue, als ob er erstmalig anrief. Luise fragte ihn nach seinem Wohnort ohne auf die Sache mit dem Ausweis nochmals einzugehen. Er nannte einen Straßennamen, den Luise gleich im Internet suchte. Ein Segen war diese Erfindung in solchen Situationen. Man konnte Ortskenntnis vorgaukeln. Luise erklärte dem Herrn, dass er in der Verteilstelle am Mittwoch ganz falsch sei und bot ihm an, in der entsprechend zuständigen Gemeinde anzufragen, ob eine Bedienung ohne Wartezeit möglich wäre. Ferner hatte sie, mit der Vorahnung eines weiteren Anrufes, die Telefonnummer vom Amt in Heidemoor herausgesucht. Diese gab sie dem Herrn mit dem Hinweis, dass er dort Amtshilfe erhalte. Es würde zur Beantragung eines Ausweises eine Person zu ihm nach Hause kommen und alles für ihn erledigen, da es für ihn als Sehbehinderten nicht zumutbar wäre zum Amt zu kommen. Luise hatte dieses Angebot ebenfalls im Internet gefunden. Der Herr wurde jedoch wieder ausfallend. Beschimpfte Luise „sie haben ja keine Ahnung“ und erklärte ihr, dass er in der entsprechenden Gemeinde schon mal war und dort sehr unfreundlich bedient wurde. Innerlich krampfte sich bei Luise alles zusammen. Diese Worte erinnerten sie an die zahlreichen Telefonate mit der Frau ohne Zeit. Sie versprach einen Rückruf und Klärung. Ãœber dieses Angebot bedankte sich der Herr, jedoch würde er sich wieder melden. Luise telefonierte also mal wieder mit der Leitung der Dienstagsverteilung. Dort erfuhr sie von den tatsächlich statt gefundenen Besuchen und einem Vorfall, den die Ehrenamtlichen veranlassten an seiner Situation zu zweifeln.
Er stand in der Schlange und schob sich an den Tischen vorbei um Lebensmittel zu erhalten. Dabei hatte er den Blindenstock unter den Arm geklemmt um die Hände für die Tasche frei zu haben. Eine Hilfe beim Tragen der Tasche wies er ab. Eine Sekunde zu spät sah eine ehrenamtliche Dame die Holzkiste unter dem Tisch hervorstehen und ihr stockte bereits der Atem, als der Herr ganz selbstverständlich einen Schritt bei Seite machte und um die Kistenecke herum ging. Dies hatten mehrere Leute mitbekommen, die sich nur fragend anschauten. Niemand wagte sich etwas zu sagen. Es war plötzlich totenstill im Kirchenraum. Da der Herr danach nicht mehr erschien, erübrigte sich bisher eine genauere Klärung.
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„Vielleicht haben viele einfach nur Langeweile“ überlegte Luise. „`Brot und Spiele´ war vor 1000 Jahren bereits ein bewährtes Mittel. Sollte sich der Mensch nicht geändert haben?“ Luise fühlte sich ratlos und leer.
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Am Abend hatte sie eine Verabredung mit einer Freundin, die in einem Jobcenter arbeitete. Ihr erzählte sie von dieser Geschichte. Obwohl sie in einem Nachbarort arbeitete, kannte sie diesen Herrn sogleich mit Namen und erzählte von dessen Auftreten dort, und dem Hausverbot, welches er erhielt. Luise konnte
gar nicht mehr aufhören zu lachten.
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Es darf aber bei all diesen Situationen nicht vergessen werden, dass zahlreiche Anrufer sehr freundlich und hilfsbereit waren.
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Immer wieder meldeten sich, meistens ältere Menschen, die einen Garten mit Obstbäumen hatten. Teilweise trugen diese so reichlich, dass das Obst gerne gespendet werden sollte. Solche Vermittlungen machten Luise große Freude. Zusätzliche Abholungen wurden immer gerne entgegen genommen. Da die Ernte jedoch recht beschwerlich werden konnte, summierten sich die Anrufe, die um Ernte baten. Zu schade war der Anblick, wenn das Obst vergammelt vom Baum fiel oder von den Vögeln geholt wurde. Luise konnte dies nachvollziehen. Auch sie fand dies schade, musste sich jedoch eingestehen, dass auch sie keine Lust hatte auf derartige Wochenendvergnügen. Auch die Ehrenamtlichen waren meistens nicht mehr so jung und diese zu einem Ernteeinsatz zu bewegen war Schwerstarbeit. Vereinzelt gelang es dennoch. Dafür war Luise den Leuten sehr dankbar. In einem Ort waren die Ehrenamtlichen pfiffig. Sie hatten mehrere größere Familien als Gäste und vermittelten solche Erntemöglichkeiten direkt an die Empfänger. Dadurch, so wurde Luise berichtet, entstanden mehrere Freundschaften, sodass sich die Gartenbesitzer in Zukunft direkt an die Familien wandten und sehr zufrieden waren.
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In solchen Augenblicken erkannte Luise den Sinn in ihrer Arbeit und stand am nächsten Morgen gleich doppelt motiviert aus dem Bett.
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Bereits beim Frühstücken erinnerte sich Luise, was heute dringend erledigt werden musste. Silke benötigte den Pressetext. Die nächste Aktion zum Erntedankfest stand bevor. Gleich als erstes wollte Luise dies machen, denn unbeliebte Dinge wollte sie schnell von Tisch haben. Die Welt der Presse war Luise unkalkulierbar und dadurch ein Dorn im Auge.
Nun saß sie wieder vor einer leeren Seite und überlegte, bis ihr die Idee kam. Vor Ostern hatte sie, nach ihrem Empfinden, einen so schönen Text geschrieben, der von Silke vollständig umgeschrieben wurde. Darauf hatte sie nicht schon wieder Lust. So öffnete sie die Datei mit der Presseinfo zur Adventzeit, die ebenfalls von Silke bis zur Unkenntlichkeit abgeändert worden war, und änderte lediglich das Datum und den Ort. Schnell erledigt, schickte Luise diesen Text an Silke und war mit sich zufrieden. Zwei Tage später erhielt Luise eine Mail von Frauke. Mit recht belehrendem Ton erklärte sie ihr die nun übernommene Zuständigkeit. Ferne erfuhr Luise weiter „solche Formulierungen gingen überhaupt nicht“. Frauke hatte einen ganz neuen Text als Anlage geschickt und erklärte unmissverständlich, „so wird diese Presseinfo raus geschickt!“ Zu große Lust verspürte Luise eine Info an Silke zu verschicken. Zu offensichtlich war die Tatsache, dass sie als vermeintliche Verfasserin abgelehnt wurde und es nicht um die Formulierungen an sich ging. Mehrfach hatte Luise bereits den Verdacht gehabt, aber Lea, darauf angesprochen, riet ihr dies gleichgültig hinzunehmen. So schluckte Luise auch dieses Mal ihre Wut herunter.
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Es meldete sich Svenja bei dem Verein und stellte sich für eine ehrenamtliche Arbeit im Büro vor. Schnell wurde beschlossen, dass Luise Unterstützung erhalten sollte. Svenja war eine junge Frau, die unentschlossen nach einer Studienrichtung oder einer Ausbildung suchte und dadurch auf der Stelle stand. Svenja erklärte, sie wollte die Büroarbeit dazu nutzen, sich im Klaren zu werden, ob ihr diese Tätigkeit liegt. Luise riet ihr zu einem Praktikum, aber dies war Svenja schon zu konkret und verpflichtend. Sie brauchte die Ungezwungenheit des Ehrenamtes, was jedoch das Amt nicht bereitwillig zugestand.
Wie bei vorherigen Unterstützungen bat Luise um Organisation der nächsten Aktion, um sich auf das Tägliche besser konzentrieren zu können. Dazu gehörte auch das Verfassen der Presseinformation. Luise erzählte Svenja von der Mail aus dem September und empfahl diese zu übernehmen und lediglich mit dem Datum der Adventzeit und dem Wort „Schokoladenweihnachtsmann“ abzuändern. Svenja war jedoch hoch motiviert und schrieb etwas eigenes, nachdem sie zahlreiche Texte aus der Vergangenheit gelesen hatte. Obwohl Luise darum bat, ging dieser Text ohne gegenlesen heraus. Mittlerweile war Silke wieder dafür zuständig Pressetexte freizugeben. Die Antwort ging prompt bei Luise ein. Silke schrieb „langsam muss du doch mal begriffen haben wie man einen Pressetext verfasst und so geht es gar nicht.“ Luise erklärte ihr per Mail ihre Unkenntnis, was Svenja verschickt hatte, und dass sie um ein gegenlesen gebeten hatte. Als Anlage schickte sie die Schnellversion, so wie sie es Svenja empfohlen hatte. Als Antwort erhielt Luise eine Belehrung, dass es zu ihren Aufgaben gehörte, die Arbeit der Ehrenamtlichen zu überwachen und solchen Unsinn von ihr, als viel beschäftigte Vorsitzende, fern zu halten hatte. Zu dem anliegenden Text äußerte sich Silke mit „geht doch halbwegs, da lässt sich noch etwas draus machen“. Luise schwankte zwischen erneuter Wut und Belustigung darüber, dass Silke den Text von Frauke, die ja Journalistin war, kritisierte. Wenn die Beiden davon wüssten…
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Nach dem Weihnachtsurlaub ging Luise gut erholt und voller Tatendrang ans Werk. Jedoch verflog dieser rasch. Als sie die Emails lesen wollte, war das Programm leer. Einem Herzanfall nahe suchte sie Fruchtgummis, um sich abzureagieren. Dies war eine alte Marotte von ihr. Was geschehen war bastelte sich im Laufe des Tages zusammen, als Richard feststellte, dass der gesamte Ordner verschwunden war. Ein Schülerpraktikant, so erzählte man beiläufig, saß vor ein paar Tagen auf dem Platz. Luise erinnerte sich an die rhythmisch auftretenden Meldungen „auf ihrem Desktop befinden sich ungenutzte Dateien. Sollen diese jetzt entfernt werden?“, die sie stets verneinte. „Waren die Mails auf dem Desktop gespeichert?“ Richard hielt dies für durchaus realistisch. Hatte er den Rechner doch nicht eingerichtet. Gut, dass er ihr zustimmte, dass dieser Speicherort nicht günstig war. Luise gab sich ihrem Schicksal hin.
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Der Kontakt zu Paul war nie abgebrochen, jedoch hatte Luise von den gemeindeinternen Ideen wenig mitbekommen. Kurz vor Weihnachten wurde sie nach Drosselitz gebeten. Luise wohnte in der Nähe. So konnte sie diesen späten Nachmittagstermin mit einem schönen Spaziergang verbinden und freute sich. Eine weitere Neueröffnung bedeutete nicht nur aus dem Büro heraus zu kommen. Die Ehrenamtlichen vermittelten immer so viel Freude und Tatendrang. Da ließ sich Luise gerne anstecken.
Der Eröffnungstermin wurde für Anfang Januar beschlossen. Luise kam dies recht übereilt vor. Dann erfuhr sie, dass die Vorbereitungen bereits sehr konkret waren.
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An diesem Donnerstagmorgen lief Luise wieder nach Drosselitz. Schnee lag nicht, aber die Luft war kühl. Es war Luises 40 Geburtstag. Als sie ankam hatte das Team bereits die Tische für die Verteilung aufgestellt und gleichzeitig mit ihr kam das erste Fahrzeug mit Lebensmitteln. So konnte die Sortierung sofort beginnen. Die Ehrenamtlichen hatten sich die Arbeit in anderen Gemeinden angeschaut. So gab es nur wenig Fragen. Die Tische in dem großen Warteraum mit Küchenzeile wurden für die Vorbereitungen genutzt. In einem Nebenraum fand die Registrierung statt. Für die Verteilung gab es keinen weiteren Raum. Die Tische standen im Treppenhaus. Dieses war recht eng, hatte jedoch den Vorteil eines zweiten Ausganges. An die Erfahrungen aus Rettlingburg anknüpfend, hatten Luise Frauke und Sven gebeten anwesend zu sein. Man konnte im Vorfeld nie sagen ob die Presse kam, obwohl es sich meistens um den regionalen Sender handelte, bei dem die Beiden arbeiteten. Terminlich konnte es jedoch niemand einrichten. Auch Silke schien sich nicht dafür zu interessieren. Eine gute viertel Stunde vor Eröffnung tauchte einer den drei Radiosender auf. „Schön, ohne Kamera kann ich ganz entspannt sein“ dachte Luise noch, bis im Vorgespräch plötzlich gesagt wurde „wir sind in 5 Minuten auf Sendung“. Luise schluckte. Live? Womit hatte sie dies verdient. Jetzt gab es jedoch keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Auch wenn sie sehr nervös war, stellte sich innerlich eine gewisse Ruhe ein. Luise hatte es geschafft und der Vorteil am Radio wurde ihr im Nachhinein klar. Sie kannte wenige Leute die am Vormittag zuhörten, zumal niemand von dem Sendetermin wusste. So verlief auch diese Eröffnung mit viel Spaß und zahlreichen zufriedenen Gästen.
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Langsam wurden für Luise die Neueröffnungen Routine.
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Agnes meldet sich bei Luise und trug eine Idee an sie heran. Sie hatte von anderen Vereinen gehört, die Kochbücher heraus gaben und fand die Idee gut. Im Alltag der Verteilung stellte sich immer wieder heraus, dass zahlreiche Gemüsesorten unbekannt waren. Gerade in Gemeinden, in denen viele Menschen aus anderen Kulturkreisen lebten, gab es hierfür Bedarf. Oft wurden bereits von den Ehrenamtlichen Rezepte und Kochtipps, sozusagen über den Ladentisch, weiter gegeben. Luise erzählte Silke von der Idee und wollte die Sache unterstützen. Silke erklärte ihr, dass diese Idee nicht neu sei und sie schon länger daran arbeitete. Dann ging es erstaunlich schnell. Vorher hatte Luise nichts von einem derartigen Plan gehört, nun hatten Silke und Frauke bereits ein paar Wochen später mehrere Ehrenamtliche, die dieses Projekt stützen wollten und Frauke ein Konzept. Dies wurde bei einem Start-up Meeting an einem schönen Sommerabend im Juni allen vorgestellt. Luise war rein informativ eingeladen worden. Galt es schließlich eine Zusammenarbeit mit den Gemeinden zu organisieren und Luise hatte die Kontakte. Bei diesem Treffen erfuhr sie, dass es kein normales Kochbuch werden sollte, welches, auf preiswerte und einfache Küche aus war. Es ging ihnen hierbei um die Vorstellung des Projektes. Aus jeder Gemeinde und von Leuten aus dem öffentlichen Leben sollten preiswerte Rezepte kombiniert werden. Durch die Angabe von Preisen wurde dies sehr weit in den Vordergrund gestellt. Luise war nicht ganz überzeugt. Preise sind schnell veraltet und Luise ist eher für Beständigkeit. Gerade bei Rezepten könnte man ein zeitloses Buch erstellen, dessen Anschaffung sich für Jahre lohnte.
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In den nächsten zwei Wochen waren alle aktiv. Sieben Ehrenamtliche planten, wirbelten und organisierten. Dann entdeckten die ersten beiden, dass dies Zeitaufwendiger wurde, als gedacht und konzentrierten sich wieder mehr bzw. vollständig anderen Dingen in ihrem Leben. Die Sache geriet etwas ins Stocken. Silke kam in das Büro und bat Luise um Unterstützung. Auch hatte Frauke in den letzten Tagen bereits mehrfach bei Luise angerufen und um Preisrecherche gebeten. Luise verbrachte dazu an einem Abend drei Stunden in einem Supermarkt in ihrer Nähe. Dieser gehörte zu einer Kette, mit der der Verein viel zusammen arbeitete. Sie ging die Regalreihen entlang und notierte sich alle Preise von den Artikeln, die sie in den Rezepten am Vormittag entdeckt hatte. Luise wiederholte diese Aktion in einem Discounter und schickte Frauke eine Aufstellung. Dann verabschiedeten sich Silke und Frauke für zwei Wochen in den Urlaub. Schnell informierten sie noch, dass sie einen Verlag gefunden hätten und dieser einen Abgabetermin Anfang September erwartet. Frauke hatte mit den Leuten im Verlag gesprochen und hatte die Idee, das Kochbuch zum Weihnachtsgeschäft vorstellen zu wollen. Zahlreiche Stimmen wurden laut „das schafft ihr nie“. Es gab allgemeine Informationen, dass ein Buchprojekt mindestens ein Jahr in Anspruch nimmt. Frauke ließ sich jedoch nicht beirren. Mit zahlreichen Instruktionen blieben Luise und ihre Kollegin zurück. Als sie diese erhielten, schauten sich beide an. „Typisch!“ kam es wie aus einem Mund, dann mussten sie lachen.
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Angelika war eine Frohnatur, die nicht so schnell etwas erschütterte. Sie hatte sich daran gewöhnt durchs Leben zu schlagen, wie man so leichthin sagt. Erstrebenswert war diese Situation zwar nicht, aber das Leben lässt einem manchmal wenig Wahlmöglichkeiten. Angelika schaffte es, jeder Situation etwas Positives abzugewinnen. Und sei es nur mit einer große Portion Selbstironie. Luise bewunderte sie dafür. Daher freute sie sich auch auf eine Zusammenarbeit mit ihr.
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Letztendlich wirbelte Angelika Tag ein, Tag aus, für dieses Buch und kam kaum noch zu etwas anderem. Luise beschränkte sich darauf, neben dem Tagesgeschäft, Informationen aus den Gemeinden an Angelika weiter zu leiten. Die verbliebenen Ehrenamtlichen fuhren in die Verteilungen und sprachen persönlich mit den Leuten, die die Rezepte einreichten. Die Buchpräsentation fand wie geplant statt, auch wenn Luise von diesem Termin so kurz vorher erfuhr, dass sie die Ehrenamtlichen nicht mehr informieren konnte. Da es sich um einen Pressetermin handelte, wollten Silke und Frauke unter sich bleiben. Sie fühlten sich, als offizielle Autoren des Buches, vor den Kameras wohl. Yvonne hatte die Platzierung in ausgewählten Buchläden organisiert. Als die Bücher dann Palettenweise geliefert wurden, waren Yvonne und Luise wieder gefragt. Jeder Gast in den Gemeinden, der in der ersten Dezemberwoche Lebensmittel abholte, sollte ein Exemplar geschenkt bekommen. Dafür galt es wieder Statistiken auszuwerten, Besucherzahlen zu erfragen und Kartons zu packen. Wie viel Tonnen Papier Yvonne und Luise in den nächsten Tagen bewegten, konnten sie nicht sagen. Sie spürten jedoch jedes einzelne Exemplar in ihren Knochen. Warum Bücher lose auf Paletten gestapelt wurden, blieb ihnen dabei unerschlossen. Die Freude bei der Verteilung entschädigte sie wieder etwas. Geschenke, gerade in der Adventzeit, werden meistens mit viel Dankbarkeit entgegen genommen.
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Drei Wochen später jährte sich die Gründung dieser Aktion zum fünften Mal. Hierzu sollte es einen festlichen Gottesdienst geben. Durch die Kochbuchaktion war die Planung für Luise im Verborgenen geblieben. Sie erfuhr erst von den Plänen, als ihre Unterstützung gefragt wurde. Innerhalb einer guten Woche sollte sie nun, mit Yvonne zusammen, zahlreiches organisieren. Zusätzlich gab es in der Adventzeit einige Spendenaktionen, die ebenfalls bei ihnen lagen. Luise fühlte sich überfordert. Der Berg an Arbeit wuchs täglich und als Frauke dann unmissverständlich unzufrieden war mit Luises Vorgehensweise, hielt sie diesen Druck nicht mehr aus. Auf dem Nachhauseweg brach sie im Auto in Tränen aus. Zu viele Gedanken kreisten ihr mal wieder im Kopf herum. Und wie sie es auch drehte und wendete, immer gab es aus den letzten Tagen passende Worte von Silke, Frauke oder Anna-Lena, die ihr diesen Lösungsweg verstellten. Wie der Zufall dies wollte erblickte Luise in diesem Augenblick einen freien Parkplatz, genau vor dem Haus ihres Hausarztes. Dieser hatte am Donnerstag eine Nachmittagssprechstunde, die noch lief. Eine halbe Stunde später ging im Verein ein Fax mit einer Krankmeldung ein. Sollten sich die drei Damen doch erst einmal allein einig werden, wie sie sich diese Veranstaltung vorstellten. Luise tat nur Yvonne leid, denn damit lag die 5-Jahrfeier in ihren Händen.
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Bereits 18 Monate vorher war Luise einmal beim Arbeitsamt gewesen. Die Arbeit mit den Ehrenamtlichen machte ihr so viel Freude, aber die zahlreichen Widersprüche und der damit verbundene Druck von Oben war kaum auszuhalten. Sie hatte einen Arbeitsvermittler um ein Gespräch gebeten und legte ihm dabei drei anonymisierte Mails vor. Der freundliche Herr las diese und war entsetzt. Inhaltlich hatte Luise neutrale Texte gewählt, aber der Umgangston erschreckte ihn. Als Luise dazu erklärte, dass diese Mails alle von unterschiedlichen Vorgesetzten stammten, empfahl er ihr Bewerbungen zu schreiben und schnellstmöglich dort zu verschwinden. Zusätzlich gab er ihr noch die Information mit auf den Weg, dass bei einer Kündigung keine Speerfrist eintritt, wenn Mobbing nachweisbar ist. Luise verließ das Arbeitsamt mit einem guten Gefühl. Nun hatte sie die Bestätigung, dass sie nicht überempfindlich war und das jemand hinter ihr stand. Dies gab ihr wieder Kraft weiter zu machen.
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Gleich zu Beginn des Jahres trafen sich Fachleute der Landwirtschaft und der Tourismusverbände aus aller Welt, auf dem Messegelände in Kuttlin. Dort erhielt der Verein für zehn Tage einen Stand. Abends und am Ende der Messe wurden zahlreiche Lebensmittelspenden abgeholt, die im Lager sortiert und an Wohnprojekte weiter gegeben wurden. Mit Begeisterung schrieben sich die Ehrenamtlichen für den Standdienst ein und ließen die Spendendosen füllen. Bei Lea hielt sich die Begeisterung etwas in Grenzen. Meistens blieb es an ihr hängen die Kleingeldtüten zu zählen und zur Bank zu bringen. Luise witzelte schon immer „du hast wohl eine Kupfer- und Eisenallergie?“. Die Lebensmittelspenden begeisterten Luise auch mehr. Sie fuhr, ebenfalls ehrenamtlich, am letzten Messetag immer ins Lager und war mit dabei, wenn die Transporter kamen. Bis spät in die Nacht sortierten dann zahlreiche Leute, durch die das Lager wie ein riesiger Ameisenhaufen erschien. Zum Schluss wurde alles irgendwo verstaut und verderbliches wurde noch in der Nacht verteilt.
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Drei Wochen später fand, ebenfalls in Kuttlin, eine Fachmesse statt, auf der die Hallen mit Obst und Gemüse geschmückt wurden. Um diese Dekoration ebenfalls vor der Mülltonne zu retten, trafen sich am Nachmittag über 300 Ehrenamtliche, ausgestattet mit Rollwagen und Kisten. Damit wurden die Hallen systematisch abgesammelt und in LKWs verladen, die durch zahlreiche Firmen und Institutionen zur Verfügung gestellt wurden. Tonnenweise, teilweise exotisches Gemüse aus aller Welt, wurden dann in eine extra gesuchte Halle gebracht und am Wochenende sortiert. In den folgenden Wochen wurden die Abholungen durch die Kirchengemeinden eine wahre Wonne. Luise war in dieser Zeit viel im Lager, um all die Herrlichkeiten zu bestaunen.
Der nächste Sommer kam und die Zeiten wurden wieder ruhiger.
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Immer wieder gingen bei Franzi Anfragen für Schülerpraktika ein. Diese organisierte sie meistens gerne. Die Möglichkeit als Schüler in das Berufsleben herein schnuppern zu können, fand sie gut. Dazu gab es das Konzept, dass jeder Bereich des Vereines für ein/zwei Tage erlebt werden sollte. Die Gemeindearbeit gehörte ebenfalls dazu. Luise erhielt mal wieder eine Vermittlungsanfrage von Franziska. Sie erfragte den Wohnort um die Wege nah zu halten und rief eine Gemeinde an. Meistens waren die Ehrenamtlichen sofort bereit dazu. Einen Tag Unterstützung durch einen Schüler bedeutete für die zahlreichen Mittsiebziger weniger Kartons tragen zu müssen und die Damen in der Verteilung nahmen sich derer gerne großmütterlich an. Dieses Mal machte die Tochter einer Lagermitarbeiterin ein Praktikum. Dies erfuhr Luise jedoch erst später. Sie teilte der jungen Frau die Anschrift und den Tag mit und wünschte viel Spaß. Sie sollte um 10:00 Uhr dort sein.
Zwanzig Minuten vorher sah Luise zufällig aus dem Fenster und sah überrascht zu, wie die fast 18-jährige Frau draußen stand und rauchte. Es war unüblich, dass die Praktikanten vorher noch ins Büro kamen. Daher ging Luise raus und fragte „was machst du den hier? Wenn du jetzt nicht schnell los fährst, wirst du es kaum pünktlich schaffen.“ Zur Antwort erhielt sie nur Schweigen. Luise fragte nach. „Hast du den Termin vergessen?“ „Nein, ich geh dort nicht hin“ erklärte diese nur knapp. „Was soll das heißen?“ hakte Luise nach. „Ich geh dort nicht hin“ wiederholte die junge Frau nur. Luise wurde sauer. Offensichtlich war sie trotz ihres Alters nicht in der Lage die Situation zu verstehen. „Und warum nicht?“ wollte Luise nun wissen. „Ich kenne dort niemanden“ lautete die Antwort. Im Leben ist Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit wichtig, gerade im Berufsleben. In der heutigen Zeit wird es immer schwieriger etwas Vernünftiges zu finden, da kann man sich so etwas nicht erlauben, wenn man keine HartzIV-Karriere anstrebte. Dies teilte Luise der Praktikantin unmissverständlich mit und ging ins Büro. Sie rief die Ehrenamtlichen an und teilte mit, dass die Praktikantin nicht kommen wird. Die Enttäuschung war deutlich zu hören. Gerade im Sommer sind Ehrenamtliche mal im Urlaub und durch die Anfrage von Luise wurde keine Vertretung organisiert.
Enttäuscht und etwas sauer nahm Luise ihre Arbeit wieder auf. Fünf Minuten später klingelte das Telefon. Die Mutter der Praktikantin war dran. Sie war in dieser Woche krank. Sie überhäufte Luise mit Vorwürfen. „Du kannst doch meine Tochter nicht anbrüllen“. Dagegen werte sich Luise. Gebrüllt hatte sie nicht, vielleicht etwas zu direkt und harsch ihre Meinung gesagt, aber „deine Tochter ist schließlich keine 12 mehr“ erklärte sie der Mutter. „Sie ist erwachsen und sollte verstanden haben, dass ein Praktikumsvertrag eine Verpflichtung darstellt.“ So kam ein Wort zum anderen.
Als die Mutter zwei Wochen später wieder im Lager war, erzählte sie allen KollegInnen von Luises Verhalten, aus ihrer Sicht. Offensichtlich hatte die Tochter zahlreichen Müll erzählt. Dies ging sogar soweit, dass sich vier Frauen zusammen taten und Luise offen anpöbelten und beleidigten. Luise verstand langsam das Verhalten der Praktikantin. Auch die Mutter war offensichtlich dem Verhalten einer Zwölfjährigen noch nicht entwachsen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Die Beleidigungen hörten erst auf, nachdem Anna-Lena mit den Frauen im Lager ein ernstes Wort geredet hatte.
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Immer wieder gingen bei Franziska Anrufe zu größeren Spenden ein. Dieses Mal waren es mehrere Paletten Joghurts, die zur Abholung bereit standen. Meistens blieb Luise der Grund der Spende verborgen. Sie genoss es jedoch am Fenster zu stehen und zuzuschauen, wenn die Mengen aus einem LKW ausgeladen wurden. Dann wusste sie, dass die Gemeinden wieder zufrieden vom Hof fahren werden und freute sich mit ihnen.
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Zum Jahresanfang gab es neue Veränderungen. Anna-Lena hatte sich verabschiedet. Ein anderer Job wird ihre ganze Zeit in Anspruch nehmen. Da wird die Zeit ansonsten knapp. Lothar, vor vielen Jahren als Fahrer begonnen, schrieb nun `Organisationsleitung´ unter seine Mails. Schon seit Oktober war er bei zahlreichen Gesprächen und Veranstaltungen mit dabei und wurde von Anna-Lena eingearbeitet. Ende Januar sah Luise den geeigneten Augenblick und bat Lothar um ein Gespräch. Es war kurz vor Feierabend als er im Büro erschien und sich neben den Schreibtisch setzte. „So, was kann ich denn für dich tun?“ Auf der einen Seite gab es den Vereinsvorstand, der Luise viele Freiräume ließ, was jedoch auch bedeutete, dass sie sich nicht wirklich dafür interessierten, was an Luises Arbeitsplatz alles los war. Freiräume klangen seinerseits gut, aber es hatte auch etwas von Lotterie. Wenn irgendjemand einen Wunsch äußerte, so musste Luise bei der Entscheidung ihr Bauchgefühl erst einmal unterdrücken und überlegte, was die Vorgesetzten wohl dazu dachten. „Wie einfach wäre dies alles, wenn ich nur endlich eine Glaskugel bekäme“ dachte Luise in solchen Augenblicken etwas schmunzelnd. Aber es nutze nichts, sie musste ohne Orakel ihre Entscheidungen treffen. Und dies ging selten ohne Schrammen einher. Auf der anderen Seite gab es die Ehrenamtlichen, die in den Jahren eine gute Portion Selbstbewusstsein aufgebaut hatten. Sie flehten oder erbettelten von Luise eine Zustimmung zu ihren Ideen. Was sollte sie tun? Zu oft konnte sie die Wünsche viel zu gut nachvollziehen.
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Luise fühlte sich seit Monaten wie in einem Schraubstock.
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Dieses Gefühl versuchte sie Lothar zu erklären. Sie hatte Andeutungen aufgeschnappt, dass personelle Veränderungen in der Planung standen und sich selbst zahllose Stunden den Kopf darüber zerbrochen "Was möchte ich?" Diese Ãœberlegungen, die darauf hinaus liefen, dass sie andere Aufgaben im Verein übernehmen möchte, teilte sie Lothar mit. „Aber überleg dir das genau“ sagte er, „ich habe mitbekommen wie schwer es Axel hatte“. Er machte Luise 20 Minuten lang die Idee madig. Luise saß da wie ein begossener Pudel. Letztendlich schaffte sie es jedoch, dass Lothar zwar darauf bestand, dass sie sich noch einmal Gedanken darüber machte, aber für die nächste Woche Gesprächsbereitschaft signalisierte.
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Zwei Wochen später, in denen Lothar weitere Gespräche aus Zeitmangel wie er sagte, immer wieder verschob, stand Silke vor der großen Landkarte in Luises Büro. In dieser waren die Kirchen markiert, die Lebensmittel verteilten und dort war gut zu sehen, wo es noch `weiße Flecken´ gab. Luise ging zu ihr. „Gleich kommen zwei Herren von einer Wohnungsbaugesellschaft“ erklärte Silke, „die bieten uns hier wahrscheinlich Räume an“. Sie deutete mit der Hand auf die Karte. In dem Gebiet gab es zahlreiche Einfamilienhäuser, aber nachdem die Gäste in Drosselitz auch recht zahlreich erschienen, war Luise überzeugt: `HartzIV-Empfänger gibt es überall´. „Das wäre super“ erklärte sie Silke. „Aber ohne Kirchengemeinde? Geht dies denn?“ fragte Luise. Silke lächelte, „dass können wir als Verein doch auch“.
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Weitere zwei Wochen später rief Lothar bei Luise an und bat sie in sein Büro. Er erklärte ihr, dass sie sich mehrere Räume anschauen können und entscheiden dürfen, welche sie haben möchten. Lothar fuhr mit Luise zur Besichtigung. Ãœber ihren Wunsch nach Veränderung wurde nicht mehr gesprochen. Im Auto sah Luise die Gelegenheit Lothar darauf anzusprechen. „Silke sieht dich nicht in der gewünschten Position“ teilte er ihr knapp mit, dann wechselte er das Thema. Luise schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Die Fahrt führte sie weit nördlicher als gedacht, nach Prosthausen. Beirren lies sich Luise davon nicht, auch wenn ihre Stimmung etwas gelitten hatte. Eine ehemalige Ehrenamtliche hatte mal festgestellt, eigentlich kann man an jeder Ecke eine Verteilung eröffnen. HartzIV-Empfänger gibt es mittlerweile so viele, es werden immer welche in der Nähe wohnen. Voller Euphorie begann Luise also mit der Planung. Unterstützung wurde ihr zwar zugesichert, aber die Erfahrung, dass sich diese in Grenzen halten wird, hatte sie bereits mehrfach gemacht. Das war Luise egal. Im Internet organisierte sie eine kostenlose Kücheneinrichtung, die glücklicherweise Thomas abends abholte und mit einem Mann aus dem Lager wieder aufbaute. Thomas war seit einem halben Jahr bei dem Verein und hatte im Büro angefangen, bis er die Liebe zum fahren entdeckte. Seit dem war er unermüdlich unterwegs. Von einer Nachbargemeinde erhielt sie 100 Stühle geschenkt, die alle gereinigt werden mussten. Den Mann aus dem Lager konnte Luise überreden die gesamte Bodenfläche zu reinigen und, da er Handwerker war, traf er sich danach mehrfach mit Chris. Sie war ebenfalls Handwerkerin und Luise wusste, Handwerker sind nicht unbedingt auf ihren Bereich festgelegt. In den neuen Räumen gab es zahlreiche Dinge auszubessern und zu reparieren. Luise war in den nächsten Wochen unermüdlich unterwegs und organisierte auch an den Wochenenden im Internet einiges. Als Silke und Frauke aus dem Urlaub zurück waren, ging die Presseinfo heraus, dass Ehrenamtliche gesucht wurden. Dann begann Luise einmal in der Woche den Interessenten die Aufgaben zu erklären. Unterstützt wurde sie hierbei aus dem Beirat. Nach nur zehn Wochen war es soweit. Es war Eröffnung. Luise hatte anfänglich noch ein schlechtes Gewissen, denn es war ihr nicht gelungen die Fenster noch putzen zu lassen. Aber daran schien sich niemand zu stören.
Luise saß an der Registrierung und begrüßte mit Martin die Gäste. Dabei gab es viel zu erklären, denn die Anmeldung verlief etwas anders ab, als viele Gäste sie aus anderen Gemeinden kannten. Das System aus Rettlingburg wurde übernommen. Henriette wirbelte in den hinteren Räumen und unterstützte das neu gebildete Team bei der Sortierung. Eine halbe Stunde vor dem Startschuss fand sich verschiedene Presse ein. Dieses Mal hatten Silke und Frauke sich Zeit genommen. Luise war froh darüber mal keine Interviews geben zu müssen. Lothar und Susanne hatten auch vorbeigeschaut. Etwas verwundert war Luise nur über die Tatsache, dass Frauke und Silke hereinspazierten, mit der Presse sprachen und dabei mit keiner Silbe Luise oder das Team vor Ort grüßten. Aber im Grunde kannt sie dieses Verhalten schon. Hatte Silke in einer Mail Luise mal erklärt, dass sie selbst in einfachsten Mails an Ehrenamtlichen niemals von "ich" sprechen darf. Selbst "wir" ist eine Formulierung, die allein Silke selbst und höchstens Frauke nutzen dürfen. Mitarbeiter handelten in diesem Verein stets in dritter Person, im Hintergrund, unbeachtet und ungewürdigt. Was zählte war für Luise eine reibungslose Verteilung. Und gelungen war die Eröffnung, denn die Gäste schienen zufrieden. Nur das zählte.
Da keine Gemeinde hinter dieser Stelle stand, wurde das Team, obwohl es durchaus nach ein paar Wochen selbstständig gewesen wäre, nicht allein gelassen. Henriette, ihre Freundin Birgit und Luise fuhren jede Woche nach Prosthausen und behielten die Fäden in den Händen. Mitte Juli gelang es noch einen Transporter für diese Stelle zu bekommen. Die ersten Male fuhr Luise selbst. Dann kam Bernd, ebenfalls von Henriette angeworben. Auch wenn dieser Tag in der Verteilung eine angenehme Abwechslung zum Büroalltag war, so spürte Luise die fehlende Zeit doch merklich. Ganz außer Acht gelassen hatte Lothar in der Planung dies nicht. Kurz vor der Eröffnung kamen zwei Eurojobber zu Luise ins Büro. Grzegorz befasste sich mit der Statistik und Beate sollte von Luise eingearbeitet werden. Wenn Luise nicht anwesend war, ging Beate an das Telefon und klärte Einzelheiten mit Fahrern anderer Gemeinden, soweit sie dies konnte. Auch wenn Luise vereinzelt merkte, dass sie Einzelheiten aufschnappte und annahm, so war die Situation für Luise unbefriedigend. Sie hatte nur selten Rückmeldungen zu Beates Formulierungen. An eine Einarbeitung, wie Luise dies aus anderen
Arbeitsplätzen kannte, zeigte Beate selten Interesse. Mehrfach bat Luise sie an ihren PC um etwas mit ihr zusammen zu machen und Erklärungen weiter zu geben. Beate hatte dann meistens sehr schnell etwas zu tun, verließ das Büro und tauchte erst nach längerer Zeit wieder auf. Wo sie in der Zwischenzeit war, entzog sich Luises Kenntnis. Luise schob dies auf fehlende Motivation, denn Beate war fast 60 und in diesem Alter als Eurojobberin eingesetzt zu werden, ist sicherlich nicht spaßig. Also nahm Luise die Unterstützung die sie bekam und schwieg.
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An einem Mittwoch Ende Juni meldete sich der ehrenamtliche Fahrer aus Rettlingburg. Ein Filialleiter hatte ihn bei der gestrigen Abholung angesprochen und von einer Neueröffnung in einem Nachbarort für Anfang August gesprochen. Er wünschte sich eine Abholung durch ihn. Er sicherte dem Herrn eine Klärung zu und informierte Luise. Sie haderte mit ihrem Gewissen. Einerseits war Luise klar, dass eine Abholung dort erneuten Ärger mit den Fräsdorfern bedeutete. Andererseits gab es das ungeschriebene `Gesetz´, dass die Wünsche der Sponsoren Priorität haben. Luise rief in Fräsdorf an. Sie erklärte die Situation und versprach die Ehrenamtlichen aus dem Nachbarort heraus zu halten, sowie die Filialleitung von einer Abholung durch die Fräsdorfer zu überzeugen, wenn  sie im Austausch in Rettlingburg ein Geschäft an drei Tagen in der Woche abgaben. Luise verursachte mit diesem Vorschlag Entrüstung. „Dies dürft ihr nicht, ihr habt unterschrieben, dass ihr nur in eurer Gemeinde abholt“. Luise stellte klar, dass der Verein in Teschen dies unterschrieben hat, die Gemeindemitglieder aus den umliegenden Orten kennen dieses Schreiben nur vom Hörensagen. „Andererseits“, so Luise „habt ihr dies auch mal unterschrieben“. Die Dame aus Fräsdorf wurde ungemütlich. „Silke hat uns dies gestattet und wir benötigen die Waren aus Rettlingburg dringend, da unsere Gästezahlen ständig steigen.“ Luise versuchte es noch einmal diplomatisch. „Ein Versprechen von Silke, das vor der Gründung der Gemeindeverteilungen gegeben wurde, hat seine Grundlage verloren. Die Situation ist nun verändert. Im Fräsdorfer Anzeiger habe ich gelesen, dass ihr ca. 1000 Gäste im Monat unterstützt. In Rettlingburg sind dies in jeder Gemeinde ebenfalls fast 1000 Leute und es gibt vier Stellen.“ Bei ihrer Ausführung wurde Luise mehrfach unterbrochen. Wiederholte die Frau aus Fräsdorf doch beharrlich das Versprechen durch Silke, was für sie weiterhin bindend sei, so verlief das Gespräch erstaunlich ruhig. Luise kochte innerlich und blieb ebenfalls beharrlich bei ihrem Argument. Sie drehten sich im Kreis. Luise wurde klar, dass niemand nachgeben wird und auf eine vernünftige Sachebene wird man in diesem Telefonat auch nicht mehr zurück finden. Sie erklärte der Fräsdorferin „wir kennen nun beide Standpunkte, und durch nochmalige Wiederholung verändert sich daran nichts. Ãœberlegt euch was ich dem Filialleiter sagen soll. Bis zur Eröffnung sind es ja noch ein paar Wochen. Ich sehe das Gespärch damit als beendet an.“ Luise atmete noch drei Mal tief durch und legte dann auf. Die Fräsdorferin hatte nichts mehr erwiedert. Ein paar Tage später erhielt Luise eine Mail weitergeleitet. Ein Herr aus einem Fräsdorfer Stadtteil hatte an Silke geschrieben. Er beschwerte sich über Luise und beschimpfte sie arg. Silke wollte mit ihr über diese Mail sprechen und bat sie in ihr Büro. Luise schrieb ein Gedächtnisprotokoll zu diesem Telefonat. Sie sah sich durch die Tatsache, dass Beate mitgehört hatte, auf der sicheren Seite. Sie distanzierte sich von dem Vorwurf, die Frau aus Fräsdorf angeschriehen zu haben. Als Luise im Türrahmen erschien, schaute Silke kurz von ihrem PC auf und fragte sie „Musste das sein?“ Luise schluckte. Dann reichte sie Silke das Schreiben mit den Worten „hier steht alles, was ich dazu sagen kann“, drehte sich um und ging zurück in ihren Schreibtisch. Beate schaute sie erwartungsvoll an. „Und?“ Luise zuckte mit den Schultern. „Silke hatte vorher bereits ihre Meinung gefasst. Was ich sagte, spielte gar keine Rolle. Sie wird dich auch nicht befragen“ Dann zitierte sie Silke. Beate schaute sie ungläubig an. Luise hatte fast das Gefühl, dass Beate langsam begriff, welcher Wind in diesen Räumen wehte.
Ein paar Tage später erhielt Luise wieder eine Mail. Silke hatte dem Herrn aus Fräsdorf geantwortet. Sie überflog zwar flüchtig die Zeilen, aber schenke diesen Worten keine große Aufmerksamkeit. Sie war nicht in der Stimmung sich über dieses Thema wieder aufzuregen. Eben hatte sie mit einer Ehrenamtlichen telefoniert, von der sie schon längere Zeit nichts gehört hatte. Es war ein nettes Gespräch. Sie hatten viel gelacht und die Frau erzählte Luise von ihrem Besuch bei ihrer Tocher und ihrem Enkelkind.
Silke bestätigte in ihrer Mail die Vorwürfe über Luise und machte Erklärungsansätze, indem sie das `hitzige Temperament´ beider Telefonpartnerinnen als bekannt darstellte. Zusätzlich machte sie einen Schlichtungsvorschlag mit einem gemeinsamen Gesprächstermin. Als in der folgenden Woche Lothar sich bei Luise meldete und ihr mitteilte, dass es erst in drei Wochen zu einem gemeinsamen Treffen kommen wird, weil er erst einmal Urlaub hatte, las Luise die Mail noch einmal genauer. Sie wusste nicht wieweit die Fräsdorfer solches Treffen wünschten, aber ihr war klar `Silke und die Fräsdorferin in einem Raum, da hat Sachlichkeit keinen Platz´. Die Gedanken drehten sich. Dann kam Luise zu einer Entscheidung. Sie benötigte Hilfe. Sie rief in Rettlingburg an und vereinbarte für nächsten Tag ein Treffen aller Gemeindeverteter. Das Entsetzen über die Mail aus Fräsdorf war auch bei denen groß. Sie kannten die Fräsdorferin zu gut und ärgerten sich immer wieder über deren Dreistigkeiten. Dabei bestätigten sie Luise ihre Zufriedenheit mit ihrer Arbeit und der Fahrer, der die Neueröffnung gemeldet hatte, versprach seine Unterstützung bei dem Gespräch. Er wollte den Standpunkt der Rettlingburger direkt vertreten. Luise war froh darüber. Sie sah sich mit dem Rücken an der Wand. Was war da besser, als die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen. Mit dieser Zusicherung konnte Luise beruhigt ins Wochenend gehen.
In zahlreichen Gesprächen mit den Ehrenamtlichen hatte Luise erfahren, dass deren Situation ebenfalls stetig angespannter wurde. Die Gäste forderten immer größere Mengen. Immer wieder wurde von einer Verpflichtung gesprochen, die es nicht gab. Ein Verein kann nicht für politische und gesellschaftliche Probleme herangezogen werden. Jedoch gaben die Ehrenamtlichen diese Formulierungen allzu leicht weiter. Luise verstand dies. Hatte sie doch bei den Besuchen in den Gemeinden schon mehrfach beobachtet, wie sehr die Freude am Ehrenamt stieg, wenn mit beiden Händen gegeben werden kann. Einfacher wurde der Umgang für Luise durch das Verständnis nicht. Zuoft sah sie sich in der Zwickmühle. Ihr Verstehen stand den Vorgaben gegenüber.
In der folgenden Woche bat Silke sie erneut zu einem Gespräch. Silke äusserte ihren Eindruck, dass Luise nicht gut auf sie zu sprechen sei und bat Gründe zu erfahren. Luise erläuterte ihr, wie sie sich fühlte. Genau erinnerte sich Luise später nicht an die zahlreichen Worte. Zu emotional war dieses Gespräch verlaufen und Luise ärgerte sich währenddessen, dass sie Lea nicht zur Unterstützung dazu gebeten hatte. Zu oft hatte sie bereits die Erfahrung gemacht, dass Silke rethorisch ihr überlegen war. Aber im entscheidenen Augenblick dachte sie nie daran. Was sich Luise ins Gedächtnis gebrand hatte war Silkes direkte Frage „Was wünschst du dir ganz konkret von mir?“ Diese Worte kamen gönnerhaft, fast, als wolle sie Luise sagen `ich kann alles erreichen, wenn ich will und wenn du mich nett bittest, mache ich auch etwas für dich´. Luise ärgerte sich über diese Art, daher brauchte sie nicht lange nachzudenken. Auch wenn ihr bewusst war, dass Ehrlichkeit manchmal schwer verdaulich war, so sah sie hier den richtigen Augenblick. „Mehr Interesse an meinen Aufgaben, die an mich herangetragen werden, damit solche Mails, wie aus Fräsdorf, besser im Sinne des Vereins geregelt werden können und das du hinter deinen Mitarbeitern stehst und deren Entscheidungen nach aussen hin stützt.“ Silke schmunzelte. „Ja, ich stand nicht hinter dir – besser, ich stand vor dir und habe dich vor den Vorwürfen aus Fräsdorf abgeschirmt“. Luise wurde blass. Sie hatte es wieder geschafft, was Luise nicht für möglich gehalten hatte. „Nein Silke“ erwiederte sie, „du hattest mich nicht gefragt wie ich das Telefonat sah, sondern durch deine Frage `musste das sein´ klar gemacht, dass du Herrn Dr. mehr vertraust, obwohl er das Gespräch überhaupt nicht mitbekommen hatte. Zählt den bei dir auch die Bestätigung durch Beate überhaupt nichts?“. Dann kam das Thema Treffen zum Klärungsgespräch zur Sprache. Luise informierte Silke über den Wunsch aus Rettlingburg bei diesem Termin dabei zu sein. Dies lehnte Silke kategorisch ab. Wieder war sie zu einem Standpunkt gekommen, ohne die Wünsche anderer sich erläutern zu lassen und zu respektieren. Letztendlich versprach Silke für die Zukunft mehr Verständnis. Luise zweifelte an der Umsetzung und fühlte sich nach diesem Gespräch wie durch einen Fleischwolf gedreht. Wiedermal führte ihr direkter Weg danach zu Lea ins Büro. Ihr Verständnis war nur ein geringer Trost. Letztendlich war der Rat von ihr „schluck es runter…“. Diesen befolgte Luise dann auch erstmal.
Trotzdem liessen sie die Gedanken an das Gespräch den ganzen Abend nicht los. Es nutzte nichts. Das Gespräch war vorbei. Noch am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, fühlte Luise eine betäubende Leere. Diese veränderte sich mit jedem Kilometer, den Luise dem Büro näher kam. Die Gedanken kreisten.`Was soll ich machen, wenn ich Silke gleich sehe, ist es gut ihr meine Gefühle mitzuteilen und damit klar zu machen wie verletztend sie war, oder ist es besser die ganze Sache unter einem Schweigen zu begraben und auf neue Ereignisse zu hoffen, die diese Sache in Vergessenheit geraten lassen´. Luise begann zu weinen. Sie war nicht mehr in der Lage ihre Gefühle zu definieren. Auf dem halben Weg entstand ein Bauchgefühl, dem Luise nachkam. Sie fuhr an der nächsten Kreuzung nach links und wendete. Von einer Sekunde auf die andere waren ihre Tränen versiegt. Sie entspannte etwas und hatte das Gefühl, ein Kloß im Hals lässt sich nun herunter schlucken.
Sie fuhr direkt zu ihrer Hausärztin. Sie musste ein jämmerliches Bild abgegeben haben, denn diese bescheinigte ihr einen Zusammenbruch. „Medikamente gibt es für sie nicht“ sagte sie zu Luise, „aber ich empfehle ihnen jeden Tag eine Bewerbung zu schreiben“. Wieder hatte Luise diesen Rat erhalten. Es ging ihr etwas besser. Auch wenn das Problem damit nicht aus der Welt war, so hatte sie nun Zeit zu entspannen und fast im Anschluss lag ihr Urlaub. Danach sah die Welt sicher schon wieder anders aus. Mittags rief Lothar bei ihr an. Er erkundigte sich nach ihr. Ihm war klar, dass den Arbeitgeber dies nicht zu interessieren hatte, aber er fragte trotzdem nach dem Grund ihres Fehlens. Kurz nannte Luise den nicht mehr aushaltbaren Druck und maßgeblich das Gespräch mit Silke am Vortag. Sie hörte wie Lothar schluckte. Auch für ihn gab es Augenblicke in denen er sich der Launen vom Vorstand ausgesetzt fühlte. Das war ihm schon anzusehen gewesen.
Luise fand noch am Nachmittag im Internet eine Beratungsstelle für Mobbingopfer. Es tat gut einmal mit Unabhängigen über ihre Gefühle zu sprechen, auch wenn sie die Gespräche mit Lea sehr schätzte. An den zwei Tagen vor ihrem Urlaub erfuhr Luise, dass Beate offensichtlich alles im Griff hatte. Ein paar Sachen gab es, die sie liegen gelassen hatte. Aber das war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Auch wenn Luise immer noch nicht wusste, wie Beate einiges regelte, da sie nie dabei war, so war ihr dies im Moment egal.
Zwei Wochen nach ihrem Urlaub hatte der Alltag sie wieder voll im Griff. Viel hatte sie nicht erfahren, was in ihrer Abwesenheit alles los war. „Nichts“ hatte Beate erwiedert, als Luise sie fragte. Henriette und Birgit organisierten nun in Prosthausen alles alleine, so wie es vereinbart worden war. Auch Edgar war wöchentlich dort. Beate war nun auffällig oft bei Lothar im Büro. Immer wieder kehrte sie zurück und erzählte zusammenhanglos ein paar Dinge. Luise erwiederte das eine oder andere dazu, schenkte dem Ganzen jedoch keine große Bedeutung.
Henriette war mal wieder im Büro, die nächste Vorstandsitzung stand an. Sie fragte Luise beiläufig, wie die Zusammenarbeit mit Beate lief. Sie erklärte ihr, dass die Vertretung ganz gut gelaufen war. Zusammen arbeiteten sie wenig, eher parallel. Beate machte irgend etwas, fragt nichts und hatte sich angewöhnt, jede Äusserung von Luise zu hinterfragen. Dies geschah meistens, wenn Luise ein Telefonat mitbekam und ihr hinterher mitteilte „ich hätte der Person noch dies empfohlen, oder jenes gesagt“. Ganz bewusst achtete Luise auf die Formulierung, damit sie Beate keine Anweisungen erteilte. Ihre Erfahrungen, auch Silkes Standpunkt zu einigen Dingen, wollte sie ihr vermittelt. Luise war klar, wenn aus `ihrem Büro´ etwas an Silke herangetragen wurde, war sie dafür verantwortlich, egal wer von ihnen dies gemacht hatte. Die Erinnerung an die Presseinfo von Svenja war noch zu allgegenwärtig.
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Im Herbst hatte Luise noch einmal eine Woche Urlaub. Danach sollte die Eurojobberstelle von Beate beendet sein. Ãœber eine Verlängerung wurde noch verhandelt. Eine Woche vorher kam Beate stralend von einem Gespräch mit Lothar. Sie erklärte ihr, dass ihr gerade eine Anstellung angeboten wurde, ab nächste Woche. Daher ist sie ab morgen in ihrem Resturlaub, damit die Vertretung gesichert ist. Luise war überrascht. Noch überraschter war sie, als Henriette und Lothar sie zu einem Gespräch baten und ihr erklärten, dass Beate und sie `auf selber Augenhöhe, gleichberechtigt´ in Zukunft die Büroarbeit aufteilen sollten. Eine Einarbeitung bis Ende März setzten sie voraus. Dies veränderte den Alltag kaum. Einarbeitung verband Luise mit der Weitergabe von Erfahrungen und Informationen. Nach ihrer Urlaubswoche erhielt sie von Beate, auf ihre Frage „Was war denn so los?“, wieder nur ein knappes „Nichts“. Beate war noch häufiger beschäftigt im Haus unterwegs, überließ das Telefon dabei Luise. Auf die Frage hin „was machst du gerade?“ erhielt Luise ein schweigen. In der Zwischenzeit hatte Beate auch Informationen von Lea mit den Worten „Ach komm, hör doch auf!“ kommentiert, was Luise etwas beruhigte, da das Misstrauen damit nicht an ihr liegen konnte. Trotzdem fragte sie Beate eines Tages „Sag mal, Beate, was hat dich eigentlich veranlasst mir nicht mehr zu glauben?“ als sie wiedermal diesen Satz hörte. Beate verliess das Büro mit zielstrebigem Gesichtsausdruck und entzog sich wiedermal einer Antwort. Daraufhin beschloss Luise in der Nikolauswoche Henriette um Rat zu fragen. Sie berichtete von ihren Beobachtungen. Henriette betonte die Einarbeitungspflicht und das Miteinaner auf selber Augenhöhe und versprach mit Beate zu reden. Gleich im Anschluss wurde Beate zu ihr gebeten. Wieder zurück im Büro, saßen sie zu dritt dort und arbeiteten still vor sich hin. Luise sah mal wieder in ihre Mails und entdeckte ein paar Zeilen von Beate, bei denen sie in Kopie gesetzt worden war. Es betraf eine Anfrage an beide, zu der sie sich abstimmen sollten. Nun hatte Beate dies früher gelesen und unmittelbar geantwortet. Luise fragte, ohne Beate dabei anzuschauen „Ach, du hast ja schon geantwortet, warum hast du diese Mail nicht eben mit mir abgestimmt. Ich war doch hier?“ Beate erklärte, Luise sah so beschäftigt aus, da wollte sie nicht stören und ansonsten war die Antwort doch klar. Luise drehte sich zu Henriette um. In ihrem Gesicht sah Luise große Fragezeichen, daher erklärte sie „ich möchte bitte in Zukunft gefragt werden, wenn du in meinem Namen eine Mail versendest“. Im Stillen hoffte Luise, dass Henriette durch diese Szene sie nun verstand. Nächsten Tag lief Luise wohl ohne Lächeln im Gesicht durch die Räume, als sie Lothar traf. Er fragte sie „und alles in Ordnung?“ Sie berichtete ihm von dem Gespräch mit Henriette und ihrer Ratlosigkeit zur Einarbeitung. „Ach du machst das schon“ sagte dieser und ging weiter seinen Weg. Luise fühlte sich allein gelassen.
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Das neue Jahr war gerade 14 Tage alt, als Lothar fünf Minuten vor der Teambesprechung bei Luise und Beate im Büro erschien. Er erklärte, dass nur noch einer von ihnen daran teilnehmen sollte, wer, sollten sie entscheiden. Da Luise für diesen Termin zwei Themen vorgemerkt hatte, bat sie den Anfang machen zu dürfen. Lothar entschied daraufhin spontan, „Beate geht heute!“ und ließ in seinem Gesichtsausdruck keinen Zweifel, dass dies eine Aufforderung war, das Büro sofort zu verlassen. Luise gab Beate noch schnell einen Zettel mit den Themen und bat um Klärung. Als sie allein waren gab Lothar ihr ein Schreiben. Luise begann zu lesen. Er drängelte. „Unterschreib mal schnell, ich muss dann auch in die Besprechung“. „Danke, ich besitze schon eine Waschmaschine“ witzelte Luise und starrte weiter auf das Blatt in ihrer Hand. Schon die Ãœberschrift machte ihr klar `hier sind Witze nicht angesagt´. Sie versprach ihm das Schreiben nach der Besprechung abzugeben, damit wollte er sich jedoch nicht zufrieden geben. `Arbeitsanweisung´ laß Luise. Es ging um die Bestätigung, dass sie sich der Pflicht zur Einarbeitung von Beate bewusst war. In einem zweiten Absatz, betitelt mit `Nebenabrede´ wurde Luise mitgeteilt, dass Ãœberstunden am 31.03. des Folgejahres verfallen, wenn sie nicht als Freizeitausgleich genommen wurden. „Dies gilt ab jetzt oder auch für die Stunden aus der Vergangenheit?“ fragte sie misstrausch. Lothar bestätigte ihr, dass er alle Stunden meinte und drängte sie erneut zur Unterschrift. Er wollte nicht zu spät zur Besprechung kommen. Luises Gedanken drehten sich mal wieder. Sie fühlte sich wieder mit dem Rücken an der Wand und unterschrieb. Als sie wieder alleine war begann sie zu rechnen. Lea stand als Beraterin nicht zur Verfügung. Sie war ebenfalls in der Sitzung. Dass durch die alleinige Teilnahme die Kommunikation untereinander gefördert werden sollte, war Luise gleich klar gewesen. `Aber die Sache mit den Ãœberstunden?´ Luise schaute auf die zahlreichen Zeiterfassungsbögen und erkannte schnell, dass ihre Stunden nicht in dem gerade vergangenen Jahr zusammen gekommen waren. In der Zeit, seit Yvonne nicht mehr dort war, hatte sie vieles alleine erledigen müssen. Da saß sie so manchen Abend recht lange.
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Als Beate zurück war erzählte sie ihr von dem zweiten Absatz. Auch sie war entrüstet. Luises Bitte, unmittelbar, also ab morgen, ihre Stunden abbummeln zu dürfen, befürwortete Beate daher auch sofort. Bloß bat sie um eine zweitägige Unterbrechung, da sie einen Termin hatte und das Büro ansonsten unbesetzt wäre. Luise stimmte dem zu und teilte Lothar mit, dass sie in den nächsten dreieinhalb Wochen zuhause bliebe. Es war Lothar anzusehen, dass er ein Veto herunter schluckte, er verstand Luises Reaktion. Sie musste schliesslich ihren Freizeitausgleich nehmen. Auch stand in dieser Zeit wieder die Fachmesse auf dem Programm, so dass Luise nun Zeit für Standdienst, ehrenamtlich versteht sich, hatte. Beate sah sie am Abend beim Abbau, als sie im Lager aushalf. Sie war wenig gesprächig und Luise erhielt wieder ein knappes „Nichts“ auf ihre Standardfrage. Diese hatte sie sich vor Zeiten angewöhnt, als Anna-Lena ihr mal erklärte `Informationsschulden sind Hohlschulden´, als sich Luise beschwerte, dass sie nicht informiert wurde.
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Sie genoss die freie Zeit sehr und interessierte sich nicht weiter um die Vereinsarbeit. In diesem Jahr feierte der Verein 20-jähriges Bestehen. Aber Luise hatte bereits beschlossen, damit sie in ihrer Freizeit ehrenamtlich dafür tätig wurde, mussten schon sehr außergewöhnliche Aktionen auf dem Programm stehen.
Am letzten Abend schaute Luise im Internet nach ihren Dienstmails. Sie wollte sich einen Ãœberblick verschaffen, ohne sich wieder ein `Nichts´ anhören zu müssen. Dabei wunderte sie sich über ein paar Zeilen und fand in keiner anderen Mail den Zusammenhang. So schaute sie im Papierkorb nach. Was sie dort fand, brachte sie wieder mal aus der Fassung. Beate hatte mehrere Mails, eine sogar ganz privat an Luise, einfach gelöscht. Offensichtlich wollte sie ihr bewusst Informationen vorenthalten. `Vermindert entspannt´ wie sie mit Lea diesen Zustand immer wieder kopfschüttelnd betitelte, ging sie schlafen. Irgendwie kamen Luise diese Situationen absurd vor. Doch bereits beim Frühstück drehten sich mal wieder ihre Gedanken. „Welche Vorgehensweise war die schlauste?“ überlegte sie. Sollte sie mit Beate oder erst mit Lothar reden, Henriette anrufen und sie um Rat und Hilfe bitten? Auf dem Weg ins Büro nahm sich Luise ganz fest vor, Lothar um einen erneuten Gesprächstermin zu bitten. Sie war am überlegen, ob sie Lea und Silke dazu bitten sollte. Doch im Büro wurde sie von einer Mail begrüßt. Diese war vom letzten Abend. Lothar bat zu 10:00 Uhr in den Besprechungsraum. Toll dachte Luise noch, dann brauche ich nicht aktiv zu werden. Dass Beate dabei sein sollte ignorierte sie erst einmal. Ãœberraschender Weise war Henriette anwesend. Lothar formulierte recht vorsichtig, so schien es Luise „Wir haben den Eindruck, dass du dich, trotz Unterschrift, weiterhin verweigerst, Beate einzuarbeiten. Was kannst du dazu sagen?“ Sie schaute alle drei Anwesende ruhig an und begann. „Seit der Unterschrift hatte ich mit Beate nicht mehr zusammen gearbeitet. Ansonsten möchte ich an die Gespräche im Dezember erinnern, in denen ich um Rat zur Einarbeitung bat. Ich zeigte auf, dass ich mich mit meinem Latein am Ende sehe und Beate in meinen Augen resistent gegenüber meiner Art der Einarbeitung scheint.“ Sie wunderte sich über ihre eigene innere Ruhe. Luise hatte das Gefühl diese Szene von außen zu beobachten und nicht selbst Teil davon zu sein. Zum ersten Mal vermisste sie keine neutrale Unterstützung durch Lea. Lothar formulierte den nächsten Vorwurf. „Weiter haben wir den Eindruck, dass du, unabhängig von Beate, generell jeden `wegbeißen´ würdest, der mit dir im Team zusammen arbeiten soll“. Er nutzte diese Formulierung, die Anna-Lena geprägt hatte. Luise erinnerte an die Zeit mit Yvonne und dass diese doch ein Zeichen dafür sei, dass dem nicht so war. Zwischenzeitlich wurde Beate aus dem Raum gebeten. Als sie ging, redete Luise einfach weiter. Der Grund für diese Entscheidung blieb Luise verborgen. Während ihrer Ausführung wurde sie mehrfach von Lothar unterbrochen. Was sie jedoch merkwürdiger Weise nicht aus der Ruhe brachte. Lothar wiederholte seinen Eindruck zur Verweigerung und ergänzte „daher sehen wir uns gezwungen dir eine Abmahnung zu erteilen“. Luise schaute Henriette an. Sie hatte einen Gesichtsausdruck, als ob sie einen sauren Drops im Mund hatte und nickte zustimmend. Irritiert blickte Luise zu Lothar. Er nickte ebenfalls leicht und schaute Luise direkt in die Augen. Dabei versuchte er freundlich zu erscheinen, verkniff sich jedoch einen leichten Anflug von einem Lächeln. Luises Bauchgefühl übernahm. Für Logik war diese Situation zu abstrakt. Sie stand ganz langsam auf, schaute Lothar ebenfalls in die Augen und erwiderte „wenn ihr dies so seht, dann sehe ich keine Möglichkeit für eine weitere Zusammenarbeit. Ich entscheide mich daher lieber für 360 Tage ALGI“. Luise drehte sich um, stellte den Stuhl an den Tisch und verließ den Raum.
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Ihr direkter Weg war wieder in Leas Büro. Sie war gerade total in Hektik und hatte kaum ein Ohr. Luise erklärte ihr nur kurz „ich komme nachher noch einmal hoch, ich habe gerade gekündigt und gehe jetzt packen“. Lea blieb mitten im Satz der Mund offen stehen. Mit weiten Augen schaute sie Luise an. Diese ließ Lea mit dieser Neuigkeit allein. Als Luise ins Büro kam, war Beate bereits auf dem Weg nach oben.
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Luise setzte sich an den PC und schrieb eine `Bitte um einen Auflösungsvertrag´. Die Kündigungszeit über noch weiter zu arbeiten, dazu sah sie sich nicht in der Lage. Danach ging sie ins Lager und holte sich eine Klappkiste. Luise sortierte die persönlichen Dinge aus ihrem Schreibtisch. Davon hatten sich in sechs Jahren zahlreiche angesammelt. In der Zwischenzeit bot sich ihr immer wieder wechselnder `Besuch´. Luise hatte den Eindruck, in den oberen Büros ging es zu wie in einem Ameisenhaufen, an dem sich ein Wanderer mit einem Stock zu schaffen gemacht hatte. Nach 20 Minuten erschien Silke. Sie war angerufen worden. Sie setzte sich an Beates Schreibtisch, Luise gegenüber, und fragte resolut „Was ist denn hier eigentlich los?“ Luise gab ihr das Schreiben. Silke lass und stellte trocken fest „na ja, dies ist ja auch von langer Hand geplant.“ Dieser Satz sollte bei Luise letztmalig Verwunderung auslösen. „Wie kommst du darauf?“ fragte sie. „Dieses Schreiben ist viel zu perfekt formuliert, als dass du dies eben geschrieben haben kannst.“ „Genau deshalb gehe ich jetzt“ erwiderte Luise, ihre Packtätigkeit unterbrechend. „Sechs Jahre verkannte Talente“. Danach hörte Luise von Silke nur noch Formulierungen, wie „übereilte Einscheidung“, „wir können doch über alles reden“, „du wirst diesen Schritt bereuen“. Luise packte weiter und dementierte Silkes Worte lediglich vereinzelt. Irgendwann, Luise hatte nicht mehr auf die Zeit geachtet, saß Silke zusammengesunken auf dem Stuhl und fragte recht kläglich: „Und, was wird jetzt?“ Luise unterbrach ihr Packen erneut, lehnte sich über den Schreibtisch zu Silke herüber, begann zu lächeln und sagte „ich werde nicht krank, ist doch schön, nicht?“ Silke sprang wie gejagt auf und verließ das Büro.
Luise holte ihr Auto vor die Tür, lud die Kiste ein und begann ihren Rundgang durch das Haus. Nicht zu jedem war die Neuigkeit bereits vorgedrungen und sie wollte sich schließlich von denen verabschieden, mit denen sie gerne zusammen gearbeitet hatte. Lothar unterbrach sie jedoch dabei und zitierte sie heraus. Es war in der Zwischenzeit, aus aktuellem Anlass, ein Sondermeeting anberaumt worden. Silke und Lothar, wahrscheinlich auch Henriette, wollten ihre Version der Geschehnisse darstellen.
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Luise stieg in ihr Auto und dachte noch einmal kurz an die Ehrenamtlichen. Das Gefühl, diese im Stich gelassen zu haben, kam dieses Mal nicht auf. Ihr Handeln fühlte sich bedingungslos richtig an.
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Ich danke denen, die mich zu diesen Zeilen ermuntert haben und durch kritische Kommentare den Text zu dem gemacht haben, was er nun geworden ist. Sie wissen schon wer gemeint ist.