Kurzgeschichte
Fahrt ins Zentrum

Einleitung

Die Geschichte habe ich zu folgender Musik geschrieben: 

Ludwig van Beethoven Piano Concerto No. 5 in E-flat major, Op. 73 Adagio

http://www.youtube.com/watch?v=qSeg69d3CQ8 Bild: http://www.digital-bahn.de/forum/viewtopic.php?f=10&t=162

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Fahrt ins Zentrum

Mit letzter Kraft steigt Georg in den Zug. Vom hektischen Alltag schwer beladen, plumpst er müde in einen Sessel und ist froh, dass er das ganz Abteil für sich alleine hat. Die Türen schliessen sich. Mit einem leichten Ruck gerät der Waggon in Bewegung. Ausser seiner Fahrkarte in der Hosentasche hat er nichts dabei. Alles hat er stehen und liegen gelassen und niemandem etwas von seiner Reise erzählt. Kein Koffer, keine frischen Kleider, ohne Laptop, ohne Handy, nicht einmal eine Uhr an seinem Handgelenk – nur er selbst geht auf Reisen. Ganz spontan hatte er den

Entschluss gefasst, loszufahren und sich bewusst von allem Müll zu trennen.

Jetzt, da der Zug rollt, wird ihm leichter. Nach und nach lösen sich seine verkrampften Gesichtszüge. Er atmet tief durch und ein Lächeln huscht über seine Lippen. Zufriedenheit macht sich breit. Ausser dem monotonen Rauschen der Schienen ist es still. Seine Augen fallen zu. Gedanken kommen – er lässt sie einfach wieder gehen und findet endlich die langersehnte Ruhe. Unbemerkt gleitet er in den Halbschlaf. Sein Puls ist langsam. Gleichmässig hebt und senkt sich sein straffer Bauch, Atemzug für Atemzug.

Nach einer Weile berührt ein Windhauch seine Wangen. Jemand ist ins Abteil eingetreten. Er ist zu müde, die Augen zu öffnen und es stört ihn auch nicht, denn unverzüglich strömt ihm sanfte Wärme entgegen. Durch die geschlossenen Lider dringt helles Licht. Vertraute Nähe schenkt seiner Seele Freiheit. Federleichte Musik lässt sie schweben und zieht ihn ins Geschehen.

Sonnenküsse funkeln übers kristallklare Wasser. Am Fusse hoher Klippen findet es sich auf einer flachen Steinplatte wieder. Um ihn herum umspült das ruhige Meer glucksend die Steine, immer

und immer wieder. Über ihm ziehen Möwen am wolkenlosen Himmel kunstvoll ihre Bahnen. Wohltuend ist der weite Blick hinaus auf die offene See bis zum Horizont, wo sich Wasser und Atmosphäre im Urblau vereinen.

Die salzige Brise öffnet seine Sinne. Sein ganzes Ich geht auf Empfang. Er breitet die Arme aus und nimmt die winzigen Signale entgegen. Wie kleine Perlen treffen sie ein und kullern über seinen ganzen Körper. Die feinen Härchen richten sich auf. Überall fliesst wundersame Energie, bis hinaus in die äussersten Finger- und Zehenspitzen. Unermessliche Harmonie umhüllt ihn.

Alle Konturen verschmelzen: die Klippen,

die schwarzen Steine, das Meer, der blaue Himmel, ja selbst die Möwen gehen auf im hellen Licht und er ist mitten drin.

Im selben Moment spürt er warme Finger über seine Handrücken streichen und zwischen den Knötchen Achterbahnen fahren. Schlaftrunken schlägt er die Augen auf. Ihm gegenüber sitzt eine Frau und lächelt ihn an. Verdutzt nickt er zurück. Bevor er etwas sagen kann, erhebt sie sich, drückt ihn noch einmal ganz lieb, und verschwindet auf dieselbe Weise, wie sie gekommen war. Wieder berührt ein Windhauch seine Wangen.

Georg kneift sich in den Arm. „Wo bin

ich? Wer ist sie?“

Allmählich kommt die Erinnerung, dass er einfach losgefahren war und alles hinter sich gelassen hat.
Die zweite Frage aber ist überflüssig, wie Schuppen fällt es ihm von den Augen: „Ich bin ihr doch schon als kleines Kind begegnet und traf sie auch als Jugendlicher und später als Erwachsener in meinem Leben immer wieder an. Sie hat mich nicht vergessen, mich stets begleitet, obwohl ich zeitweise nicht mehr an sie glaubte.“

Der Zug verliert an Geschwindigkeit und fährt langsam in einen Bahnhof ein. Neugierig schaut Georg durchs Fenster

und will unbedingt wissen, wo er ist. Die Stationstafel ist durch eine Säule halb verdeckt, nur „–Zentrum“ ist noch zu lesen.

Sogleich wird ihm bewusst, dass er angekommen ist.

Strahlend steigt er aus dem Waggon und steht auf dem Bahnsteig inmitten seiner selbst.

Er schaut sich um. Weit vorne in der Menschenmenge glaubt er die wiedergefundene Liebe zu erkennen, zuversichtlich läuft er ihr entgegen…