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Als er das Taxi wegfahren sah, trat ein Lächeln auf sein Gesicht.
„ Endlich ist es vorbei“, dachte er bei sich und wandte sich von der Straße ab.
Die Straße, die ihn so lange gefangen hielt.
Er wusste nicht , wie lange es her war, dass er sein vertrautes Leben verlassen hatte. Er hatte auf der Straße jegliches Zeitgefühl verloren. Ja, jede Erinnerung an sein früheres Leben.
Alles begann damit, dass er seiner Frau zu rief, er ginge noch schnell Zigaretten holen und zum Geldautomat. Er warf sich seine Jacke über, nahm sich die Wohnungsschlüssel und hastete die
Treppen hinab.
Als die Tür des Hauses ins Schloss fiel, dachte er, wie oft wohl eine Frau diesen Spruch hört. „Schatz, ich geh noch Zigaretten holen.“ und dann nie mehr etwas von diesem Mann sieht.
Was für ein blödes Klischee.
Aber, dann überkam ihn ein anderer Gedanke. Welche Zigaretten? Welche Marke? Hatte er überhaupt jemals geraucht?
Angestrengt überlegte er, ob und wann er das letzte mal geraucht hatte. Ihm fiel es partout nicht ein, während er die menschenleere Straße entlang ging. Diese verfluchte Straße, die für die nächste Zeit sein Zu hause sein würde, was er aber zu
dem Zeitpunkt noch nicht wusste.
„Gut, geh ich eben zuerst zum Geldautomat“, sagte er zu sich selbst. Er kramte seine Brieftasche hervor um die Kreditkarte heraus zu holen.
Geschockt sah er auf die Karte. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Er kannte auch die Bank nicht, die auf der Karte aufgedruckt war. Und wie, zum Teufel lautete die Geheimzahl?
Kalter Schweiß ran ihm von der Stirn. Er konnte sich an keine einzige Ziffer erinnern.
Er beschloss, nach Hause zu gehen. Er drehte sich in die Richtung um, aus der er gekommen war.
Die Gegend war ihm vollkommen fremd.
Straßen, deren Namen er nie zuvor gehört hatte. Häuser, die er nie gesehen hatte. Schaufenster, an denen er nie zuvor vorbei gegangen war.
Seine Geburtsstadt, in der er jetzt 40 Jahre lebte ( es waren doch 40 Jahre?) , war zu einer fremden Stadt geworden.
Er ließ sich auf einer Parkbank nieder. Mit gesengtem Kopf flüsterte er immer wieder. „Das kann doch nicht sein.“ Er lehnte sich zurück und strich mit den Händen seine Haare nach hinten. „Ich bin doch eben erst aus dem Haus gegangen.“
Dann dachte er wieder nach. Welches Haus? Hatte er ein eigenes Haus, wohnte er zur Miete oder in einer Eigentumswohnung? Es fiel ihm nicht ein.
Ein neuer Gedanke kam ihm. Vielleicht hatte er gar keine Wohnung. Vielleicht war er ein Obdachloser, der geträumt hatte, er hätte ein normales Leben.
„Das muss es sein“, stellte er fest. Daher auch die Brieftasche mit der fremden Karte. Er hatte wahrscheinlich letzte Nacht einen so granaten mäßigen Vollrausch, dass er das mit dem anderen Leben nur geträumt hatte und er jetzt nicht mehr wusste, wo er war. Er hielt seine hohle Hand vor seinen Mund und hauchte hinein. Es roch nach Pfefferminz. So als ob er sich soeben die Zähne geputzt hätte. Ein Geruch, den man von einem Penner, der eben aus seinem Vollrausch erwacht war, nicht erwartet. Er sah an sich herab.
Seine Kleidung war tadellos.
Gar nichts von einem Penner.
„Ey, Bruder.“ Ein ziemlich heruntergekommener Jugendlicher sprach ihn an. „Hast ma nen Euro?“
Er hob seinen Kopf und sah den Jungen an. „Was?“, fragte er irritiert. Obs`t ma nen Euro hast. Alde !“, lallte der. Er ignorierte die Frage. „Wo bin ich hier? In welcher Stadt?“ Er erhob sich, um auf Augenhöhe mit dem Jungen zu sein, was aber nicht ganz klappte, denn er war einen Kopf größer als dieser. Von oben herab fragte er ihn nun in einem etwas zu lautem Ton. „In welchem Jahr?“ Der Junge wich leicht verunsichert zurück. „Ey, ruhig Mann. War nur ne Frage. Wie bist du`n drauf, Alde.“
Der Junge zog es vor, das Weite zu suchen.
Er war wieder allein.
Hier konnte er nicht bleiben. Irgendwo musste er die Nacht verbringen. Vielleicht sah das Ganze am nächsten Tag schon anders aus. Vielleicht war er dann nicht mehr so verwirrt. Er sah ein Feuer unter der Brücke am Fluss und ging darauf zu. Ein paar Obdachlose hatten es sich dort gemütlich gemacht und nahmen ihn herzlich auf. Sie teilten ihr rares Essen mit ihm und gaben ihm das Gefühl, nicht alleine zu sein. Jeden Tag irrte er von nun an durch die Straßen dieser fremden Stadt, auf der Suche nach seiner Identität. Abends kehrte er zurück, unter die Brücke, zu seinen
einzigen Freunden, die er in dieser Welt hatte.
Bis er eines Tages auf eine Gruppe Jugendlicher traf. „Seht mal den Penner dort“, rief einer von ihnen. Die anderen lachten. Ihm überkam ein mulmiges Gefühl. Die Jung`s sahen nicht gerade so aus, als ob man mit ihnen über ernste Themen diskutieren könnte. Er zog es vor, lieber etwas Abstand von ihnen zu gewinnen. „Kommt! Den mischen wir auf!“, rief der Größte von ihnen, wahrscheinlich der Anführer, der sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche schlug.
Er beschloss, entschieden mehr Abstand zu gewinnen. Doch je mehr er sich von der Horde entfernte, desto näher rückten sie
auf. Sie verfolgten ihn und er rannte vor ihnen davon.
Als er die Straße, diese verfluchte Straße überquerte, hörte, fühlte, spürte er diesen fürchterlichen Knall, der ihn einige Meter durch die Luft wirbelte.
Er hörte noch das Quietschen der Reifen, des Autos, das ihn erfasst hatte. Dann war alles schwarz.
Als er die Augen wieder öffnete, standen eine Menge Leute um ihn herum. Sie fragten, wie es ihm geht , ob er verletzt sei, Hilfe braucht. Einer fragte ihn nach seinem Namen. Er überlegte kurz und sagte dann. „Richard.“ Er war selbst überrascht, nach all den Tagen ohne Erinnerung, dass ihm sein Name so spontan
einfiel. Und es kamen ihm noch mehr Erinnerungen zurück ins Gedächtnis. Er rappelte sich auf und packte den Mann, der ihn nach seinem Namen fragte an den Schultern. „Und ich wohne.“ Noch einmal musste er nur ganz kurz überlegen. „Lessingstrasse 25 dritter Stock.“ Er lachte, als ob er den Verstand verloren hätte. Dabei hatte er ihn soeben wiedergefunden. Die umstehenden Passanten konnten das natürlich nicht wissen. Dann entdeckte er den Taxistand auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Er stieg in das erste Taxi der Reihe und sagte zum Fahrer. „Lessingstrasse 25 dritter Stock.“ Der Fahrer lachte. „In die Lessingstrasse kann ich sie bringen, doch
in den dritten Stock müssen sie schon selber gehen.“
Je näher sie der Lessingstrasse kamen, desto glücklicher fühlte er sich. Endlich konnte er seine Frau wieder in die Arme schließen. Endlich hatte er sein altes Leben wieder.
„Da sind wir. Lessingstrasse 25“, sagte der Taxifahrer.
Er bezahlte den Fahrer und stieg aus.
Als er das Taxi wegfahren sah, trat ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Endlich ist es vorbei“, dachte er bei sich und wandte sich von der Straße ab.