eine nacht im moor
Auf der Sohle des flachen Hochtales breitete sich eine Moorlandschaft aus, welche den Bewohnern der Dörfer an den Abhängen der umliegenden Berge nicht geheuer war. Jeder, der schon einmal das Moor überquert hatte, wusste die schauerlichsten Geschichten zu erzählen.
Eines Tages saß eine bunte Gesellschaft junger Burschen in der Dorfschänke „Zu den drei Tannen“. Sie wollten hier Urlaub machen und natürlich auch etwas erleben. Von den seltsamen Geschichten, die man sich hier erzählte, hielten sie nicht viel. Einer von ihnen
nannte das alles sogar Kinderschreck. Sicher war es nicht ratsam für einen Fremden, sich allein ins Moor zu wagen. Doch nachdem alle dem kräftigen Rotwein aus den Talniederungen tüchtig zugesprochen hatten, riskierte einer eine große Lippe und sagte:
„Ich kenne keine Angst. An Geister glaube ich nicht, denn das sind nur Naturerscheinungen, die man erklären kann. Ich wage es, in der Nacht das Moor zu durchqueren.“
„Aber doch nicht mehr heute Nacht!“, protestierte einer. „Wir haben alle viel zu viel Wein getrunken und morgen wollen wir sowieso durch das Moor zum nächsten Dorf
wandern und dort für drei Nächte im Gasthof "Tanne" bleiben.“
Aber der Einspruch nützte nichts. Der Mann ohne Angst, er hieß Joseph, wollte sofort losziehen. Auch noch vor der Gaststätte versuchten die Freunde ihn zurückzuhalten. Dann gingen sie noch ein Stück mit ihm mit, immer in der Hoffnung, er werde zur Vernunft kommen. Der Weg führte vom Gasthof direkt dorthin, wo der Pfad durchs Moor begann.
Vorher ging es noch durch ein kleines Fichtenwäldchen. Ein leichter Wind säuselte in den Zweigen der hohen Bäume. Die alten Stämme ächzten leise, wenn sich ihre Zweige
aneinander rieben und in der Ferne hörte man den Ruf eines Käuzchens. Ein schwacher Mond konnte ab und an einen Strahl seines bleichen Lichtes auf den schmalen Pfad werfen. Die oberen Fichtenäste ragten wie Spinnenfinger in den nachtdunklen Himmel.
Joseph bemerkte von alledem nichts, denn der Alkohol hatte ihn gut im Griff. Als alle aus der Fichtengruppe hinausgetreten waren, braute und wogte weißer Nebel über dem Moor. Es lag eine mehr als gespenstische Stimmung über dieser eigenartigen Landschaft. Noch einmal baten die Kameraden Joseph, nicht leichtsinnig zu sein und diese Wanderung hier abzubrechen.
Doch Joseph drängte es nur noch vorwärts.
Da alles gute Zureden bis hierher den jungen Mann nicht umstimmen konnte, ließen ihn schließlich seine Begleiter ziehen.
Letztlich hatten sie alles versucht, ihn von einer großen Dummheit abzubringen, ohne Erfolg. So bemühten sie sich jetzt wenigstens, ihm noch zu zeigen, dass der Weg durch das Moor mit Hilfe langer, in den Boden gerammter Stangen gekennzeichnet war und sie drückten ihm einen sehr langen Stecken in die Hände, sozusagen als Wanderstab. Dann war er wirklich auf sich allein gestellt.
Zunächst versuchte Joseph, auf den Beinen zu bleiben, doch das misslang gründlich. So kniete er nieder, bekreuzigte sich und begann, auf Knien weiterzurutschen. Die Nässe machte ihm sehr zu schaffen und er rappelte sich schließlich doch auf die Füße.
In den Nebelschwaden konnte er die langen Stangen nur ahnen. Plötzlich stand ein schwarzweißer Hund vor ihm und knurrte ihn lautstark an.
„Hau ab, du Köter! Lass mich bloß in Ruhe, du Biest!“
Joseph schrie es, so laut er nur konnte. Doch der Hund stand unverwandt vor ihm und hörte
nicht mit seinem Geknurre auf. Da wollte Joseph nach ihm greifen, um ihn aus dem Weg zu schieben. Zu seinem Schrecken griff er ins Leere. Doch der Hund stand nach wie vor da und versperrte ihm den Weg. Da merkte Joseph, dass er die Weglinie verlassen hatte und ordnete sich neu ein.
Der Hund war verschwunden. Kopfschüttelnd tastete sich der junge Mann weiter voran. Plötzlich vernahm er lautes Schnauben hinter sich. Dann wurde er sanft in den Rücken gestupst. Ein leises Plätschern des schwarzen Wassers verriet ihm, dass irgendetwas hinter ihm sein musste. Wieder ein sanfter Stüber und dann hörte der Bursche deutlich eine Stimme, die sagte:
„Joseph, willst du wirklich durch das Moor gehen? Es ist doch schon am Tage gefährlich und erst recht in der Nacht.“
Als der junge Mann sich umdrehte, konnte er nichts erkennen außer wabernden Nebeln. Zuerst versuchte er seine Sinne zusammenzubringen, was ihm wegen der großen Menge Wein im Körper kaum gelang. Dann wollte er das Pferd am Halfter fassen. Wieder griff er ins Leere. Doch das Pferd, das er sogar riechen konnte, sagte nur:
„Ich hätte dich gerne über das Moor getragen. Dann hätte ich auch für immer dir gehört.“
Mit einem lauten Schreckensschrei stürzte der junge Mann. Aber unter sich fühlte er feste Polster, auf denen er sich wiederum aufrappeln konnte. Das Pferd war und blieb verschwunden.
Neben seinen Füßen stiegen aus den schwarzen Wassern laut blubbernd Gasblasen auf, die mit einem kleinen Blobb wieder zerplatzten. Aus den Nebelschleiern tönten immer wieder die Rufe der Käuzchen mit ihrem Kwiwitt, kwiwitt, kwiwitt und lautlose Vogelschwingen streiften fast sein Haupt.
Eine Gänsehaut begann ihm über den Rücken zu kriechen. Die ersten Tropfen
kalten Schweißes erschienen auf seiner Stirn. Seltsam heulende Töne drangen plötzlich durch das Nebelgrau. Dann rissen die Nebelschleier ein wenig auf, bleiches Mondlicht ergoss sich über das Moor. Der junge Mann konnte eben noch einen Blick auf die Stangen erhaschen, dann hüllte ihn der Nebel wieder lautlos ein.
Flackerte nicht plötzlich hier und dort ein bläuliches Flämmchen auf und tanzte wirbelnd über das Moor? Oder blieb es gerade neben einer der Stangen stehen, die als Wegweiser dienen sollten? Was hatte er eben noch zu seinen Trinkbrüdern gesagt? Alle Geschichten nur Kinderschreck? Wieder bekreuzigte sich der Moorwanderer. Was war
er doch leichtsinnig gewesen! Hoffentlich gab es wirklich Schutzengel. Davon könnte er jetzt mindestens zwei dringend brauchen.
Die Nebelschwaden stiegen ein wenig höher und die Stangen, die die Wegmarkierung waren, bildeten sich deutlicher im Grau ab.
„Maria sei Dank, ich bin noch auf dem richtigen Weg!“
Hörbar seufzte der junge Mann auf. Da verschluckte der Nebel schon wieder alles. Sein Kopf war langsam klarer geworden, sodass Joseph diese Art der Moordurchquerung schon sehr bereute. Aber das half jetzt nicht weiter.
Vorsichtig tastete er sich mit Hilfe seiner Stange weiter. Fühlte er Grund, setzte er einen Fuß vor den anderen, fühlte er nur weichen Sumpf, musste er immer wieder neu tasten und feste Moospolster suchen. Es war sehr beschwerlich.
Wieder riss der Nebel ein wenig auf und vor ihm streckten sich Knochenfinger aus dem schwarzen Moorwasser und ein bleicher Schädel zeichnete sich grausig auf einem nahen Moospolster ab. Vor Schreck stolperte Joseph, verlor den Halt und stand plötzlich bis zu den Knien in einem Moorwasserloch.
Sein langer Stab hatte Schlimmeres verhindert. Als er wieder festeren Untergrund spürte, stand urplötzlich ein Weib vor ihm. Ihre schneeweiße Haut leuchtete gespenstisch im fahlen Mondlicht, das sich gerade durch die Nebelschleier kämpfte. Ihr Antlitz war schön zu nennen, aber die wehenden, blutroten Haare wollten nicht dazu passen. Auch ihr Gewand, das nur einem Schleier ähnelte, zeigte mehr als es verhüllte. Da streckte sie auch schon begehrlich die Hände nach ihm aus und sprach mit schmeichelnder Stimme:
„Joseph, lieber Joseph mein, was treibst du hier? Komm mit mir in mein Bettlein klein, du weißt wie sehr ich frier!“
Näher und näher kam sie Joseph, wollte ihn schon umarmen, während ihr Gewand seinen Leib umfloss.
Eiskalt wurde es dem armen Wanderer. Ihre roten Haare umwehten ihn. Doch plötzlich war er mutig geworden und fragte sie:
„Wer bist du überhaupt und was willst du von mir?“
Das Weib antwortete ihm: „Ich bin das Moorweib und hier zuhause. Und du sollst mit mir kommen und bei mir bleiben, bis der nächste Wanderer nachts das Moor durchquert. Du wirst es gut haben bei mir.“
Wieder versuchte sie, ihn zu umgarnen. Als sie schließlich seine Lippen küssen wollte, erwachte er mit einem Schrei aus seiner Erstarrung:
„Maria, Mutter Gottes, hilf mir!“
Dann stürzte er, versank im Moor und war einer Ohnmacht nahe. Die Gestalt war verschwunden. Die Nebelschleier begannen dünner zu werden, der Mond schien heller. Joseph kam wieder zu sich, suchte Halt, konnte die langen Stangen der Wegmarkierung erkennen. Mühsam zog er seine Beine aus dem hier nur knietiefen Moor. Dann stand er wieder auf dem
markierten Pfad.
Vor ihm ragten die dürren Äste von abgestorbenen Erlen gespenstisch wie Geisterfinger in den Nebel. Andere waren vom Wetter entrindet und sahen aus wie Knochen. Es war schaurig. Wieder kreiste eine Eule über ihm im lautlosen Flug. Endlich! Nur noch wenige Schritte und er hatte es geschafft und wieder festen Wiesenboden unter den Füßen.
Nur noch ein paar Schritte, um ganz sicher zu sein. Dann ließ sich Joseph ins Gras fallen. Ein Mann, der ganz früh seine Joggingrunden lief, fand Joseph tief schlafend
mit total verschmutzten Kleidern auf der Wiese liegend. Er sorgte dafür, dass Joseph ins „Gasthaus Tanne“ gebracht wurde und ein Bett erhielt.
Kurz vor dem Mittagessen trafen seine anderen Mitwanderer ein und fanden ihn schlafend und wohlbehalten vor. Aber seine Kleider sprachen eine deutliche Sprache. Zum Glück fragte ihn niemand nach seinen Erlebnissen bei der nächtlichen Moordurchquerung.
© HeiO 04-08-2013