Wolfgang öffnete sein Postfach. Sein Gemütszustand schloss Brüderschaft mit den Nebelschwaden vor dem Fenster.
„Unser heiß geliebter Ostberliner Fernsehturm liegt in Watte gepackt“
„Wie deine Laune“, pflichtete Claudia ihm bei. Eine schläfrige Stille kroch durch den Redaktionsraum.
„Mich hat Satan geritten, freiwillig hier anzutreten. An solch einem Feiertag.“ Lustlos überflog er seine Faxnachrichten.
„Was Besonderes?“ Claudia schaute nicht mal auf.
„Nein! Unsere Bullen hatten eine gemütliche Nacht. Und dies vor so einem denkwürdigen Tag.“
Wolfgang setzte seine Tasse auf den Schreibtisch. „Zehn Einbrüche. Einige Kneipenschlägereien. Ein Verkehrsunfall. Einer ist besoffen gefahren. War ein Ossi.“ Häme mit Neid mischten in seinen Worten mit.
„Lies vor“, forderte Claudia ihn auf. „Vielleicht kommt ein Lückenfüller für die morgige Ausgabe raus.“
Wolfgang schob seine Füße vom Schreibtisch. „ „Um vier Uhr Morgens kam auf der Bundesstraße fünf Richtung Nauen ein Porsche 911 von der Kurve. Ungebremst prallte gegen einen Baum. Der zwanzigjährige Steffen Schneiders verstarb noch am Unfallort. Alkohol schloss der Notarzt aus.“ Im Redaktionsgebäude blieb es still. Zu Still, zu lange.
„Was ist?“ Rosi schaute auf.
„Steffen ... Mein Gott!“
Seine Kollegin setzte ihre Tasse ab. Kaffee kippte auf ihren Tisch. „Du kennst den Fahrer?“
Wolfgang antwortete nicht. Er nahm sein Telefon. Ungeduldig trommelte er mit einem Bleistift auf seinen Schreibtisch. Minuten erschienen in Stunden verwandelt. Die Zeit blieb stehen. Ja es schien als trete sie den Weg in ihre eigene Vergangenheit an.
Wollte Geschehenes ungeschehen machen.
„Wolfgang am Apparat.“ seine Stimme klang krächzend als presste er sie mit Gewalt durch den Hörer. Nach einer gefühlten Stunde schweigen legte er auf.
„Es ist ... es war mein Neffe.“
„Wir ahnten dass es so Enden wird. Mein Bruder gestand mir, Steffen ist uns fremd geworden. Mein Sohn hat seine eigene Mauer vergessen abzureißen.“
Wolfgang setzte mehrmals zum Sprechen an. „Der Junge schwelgte im Geschwindigkeitsrausch. Für unsre Worte blieb er taub.“ Seine Gedanken verschwanden im Nebel. Der Fernsehturm, eine Errungenschaft deutscher Diktatur verduftete endgültig im Dunst des Herbsttages.
„Was haben wir uns gefreut als die Mauer fiel“, fuhr er fort. „Ich bin zwei Tage später nach Nauen gefahren. Meinen Bruder mit seiner Familie besuchen. Steffen kannte ich nur von Fotos.“ Sein Lachen knallte kurz auf. „Als Republik flüchtiger Reporter einer klassenfeindlichen Zeitung wollte mich dieser real existierenden Arbeiter und Bauerstaat nicht.“
Zum ersten Mal an diesem Tag schaute er seine Kollegin an. „Frei, frei, frei, frei, hat mein Neffe gejubelt. Diese verfluchte Mauer ist weg, ich werde bald achtzehn.“
Wolfgang seufzte. Wir warnten ihn vor diesem Auto. Alles Betteln war vergebens." Steffen lachte nur.
Claudias Blick wandert von ihrem Kollegen auf den Kalender. „Nun ist er tot."
Donnerstag, 03. Oktober 1991
Tag der deutschen Einheit.
„Freiheit liegt hinter den Mauern, die wir uns selbst errichten.“