die Winterhexe
Der Wind gehorchte dem Kind.
Als er heftig und bitterkalt über die Anhöhe brauste, rief es laut: "Wind, hör auf!"
Die Ohren des Kindes waren rot von der Kälte. Die Wangen leuchteten blutrot, und auch das kleine Stupsnäschen war nicht mehr zu übersehen. Wirr hingen die Haare und zerzaust, vor dem kleinen, schmalen Gesichtchen.
Den Wind störte das nicht. Aber als das Kind ihm den Frieden gebot, hielt er inne.
Ohne sein Getöse war die Luft fast milde. Jedenfalls gut verträglich, und
das Kind rannte fröhlich dem spielenden Hund hinterher, den es zu seinen Freund erklärt hatte.
Der Wind wollte auch spielen. Fast zärtlich blies er wieder die blonden Haare des Kindes auf, ließ die Wangen noch roter leuchten.
Der kleine Freund Hund hatte das herannahende Kind entdeckt, schnappte sich einen winzigen Ast, um damit vor dem Kind davon zu laufen. So tobten sie wild den Feldweg entlang, der nur hier und da eine braune Stelle, durch den glitzernden Schnee, schimmern ließ. Mal auf die verschneite Wiese, mal eine Böschung entlang, erreichten die Drei den
Waldrand.
Als der Wind durch die Äste der hohen Bäume blies, war es dem Kind, als hörte es von Ferne her ein Rufen und Singen.
Sein kleiner Hund war neben ihm stehen geblieben, hob eine Pfote und lauschte in den Wald hinein.
"Wind, hast du das auch gehört? Was war das?" fragte das Kind, und schaute hinauf zu den Wipfeln der Bäume und weiter dahin, wo es den Wind geben musste.
Das Rufen wurde lauter, das Singen wurde stärker. Aber der Wind war still geblieben. Hatte gelauscht, genauso, wie seine kleinen Freunde.
Plötzlich drehte er um und blies einen
Wall Schnee auf, der direkt hinter dem Kind lag, blies weiter und weiter und blies ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Als das Kind nicht folgte, kam er zurück, wirbelte um die kleine Gestalt herum, dass sie sich mitdrehte und schob das Kind auf den Weg, der nach Hause führte.
Vom Wind gedrängt, erreichten sie bald darauf das kleine Häuschen.
Mutter hatte schon ein warmes Essen zubereitet und hielt dem Kind einen Becher hin. Sie sagte nichts, sah die roten Wangen und die leuchtenden Augen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Als das Kind den Becher mit der dampfenden Flüssigkeit zwischen den gefrorenen Händen hielt, spürte es die wohlige Wärme. Und wie aufgetaut begann es zu erzählen. Nachdem es gierig noch einen Schluck aus dem dampfenden Becher nahm, erzählte es vom Wind, und wie der mit ihnen gespielt hatte.
Mutter hörte aufmerksam zu. Sie hatte sich einen Stuhl an den Tisch heran gezogen, sich hingesetzt.
Das Kind erzählte alles, was es getrieben hatte. Wie es mit dem Hund gespielt hatte, wie der Wind so stürmisch war. Und wie aus dem Wald seltsame
Geräusche kamen.
Da blickte Mutter erschrocken auf. Sie zog ihr Kind an sich heran und hielt es fest in ihre Arme.
"Aber der Wind hat nicht gewollt, dass ich weiter gehe," tröstete das Kind. "Es war so kalt, und ich lief ganz schnell wieder nach Hause."
Ein Knarren von alten Dielen war zu hören.
"Das war die Eishexe!" ächzte die Oma, die in einer dunklen Ecke des Zimmers gesessen und zugehört hatte. "Die verruchte Winterhexe. Ist sie wieder unterwegs!"
Oma stand von ihrem Bett auf und kam ins Licht.
"Sie kann dich nicht sehen. Aber sie hat deine Wärme gespürt. Deine Stimme gehört." Oma stützte sich mit beiden Händen am Esstisch auf, und ihre Worte klangen bitter.
Eine hohe Kerze auf der Kommode flackerte unruhig hin und her. Wie zur Bestätigung klapperte der Wind draußen an den Fensterläden.
"Wenn uns das Feuer nicht ausgeht, kann sie nicht herein," murmelte Oma wie zu sich selbst.
Es war längst dunkel geworden. Der kurze Wintertag hatte sich verabschiedet, und Mutter war aufgestanden, hatte noch mehr Kerzen angezündet.
Sie setzten sich alle an den Tisch, nahmen schweigend das duftende Essen zu sich, das Mutter bereitet hatte, und lauschten ängstlich den Geräuschen, die von draußen kamen.
Das Kind hatte wohl gemerkt, wie ernst es Oma mit ihren Worten war. Immer wieder sah es zum Fenster hin. Die Läden waren noch nicht geschlossen, und heute traute sich niemand mehr hinaus zu gehen, um sie vor die Fenster zu legen.
`Wind, passt du auf uns auf?´ sandte das Kind den Gedanken vor das Haus. Da, wo der Wind sein musste.
`Wind, kannst du mich hören?´ fragte es auf selbe Weise.
Oma blickte auf, sah das Kind nachdenklich an.
Als das Feuer auf der Kochstelle dünner wurde, stand sie auf und legte ein Holzscheit nach.
Es war wohlig warm in dem kleinen Häuschen. Trotzdem bildeten sich mehr und mehr Eisblumen auf den Fensterscheiben.
"Sie kommt!" flüsterte Oma. Mutter stand auf und holte ein paar Decken. Mit Omas Hilfe wurden diese vor die Fenster und Türspalten gelegt.
Ein Heulen, Rufen und Wimmern drang sofort zu ihnen hinein. Es klang schauerlich und doch so traurig, wie
wenn ein Mensch draußen in der Kälte wäre und jämmerlich um Einlass bat.
Mutter nahm das Kind, hielt es fest in ihren Armen. Oma sah besorgt auf den kleinen Holzstapel neben der Kochstelle.
`Sie kommt dahin, wo Wärme ist, aber sie kann nicht herein, so lange das Feuer brennt,´ dachte da das Kind.
"Wenn der Wind von ihr gefangen wird, kommt sie durch den Kamin. Dann gebietet sie dem Wind, das Feuer auszublasen," erklärte Oma, als hätte sie die Gedanken des Kindes gehört. Und das Kind wusste nun, weshalb ihm der Wind nicht geantwortet hatte.
Er hatte sich versteckt!
Das Heulen und Wimmern vor dem Haus
war leiser geworden, dafür erklang ein immer deutlicher werdendes Rufen.
Es klang so echt, so eindringlich, so bittend und flehend, dass sicher dort ein Mensch vor dem Erfrieren war.
Immer und immer wieder rief da jemand, bat darum, doch herein gelassen zu werden. So jämmerlich, so eindringlich, so bittend.
Das Kind riss sich von den Armen der Mutter los, nahm sich eine der brennenden Kerzen und lief damit zur Türe. Es sollte niemand draußen erfrieren müssen! Niemand von der Hexe verschlungen werden!
Als es die Türe öffnete, wurde es aber sogleich von einer gefrorenen Wand, aus
weiß und blau schimmernden Eis, getroffen.
Doch es hielt eine brennende Kerze in der Hand, und es war kein Wind da, der sie ausblasen sollte.
Sofort war das flehende Rufen verstummt. Und eine schrill lachende Stimme höhnte:
"Willst du mich mit dem Flämmchen verbrennen, du kleiner Narr?"
Das Kind spürte, wie es von der eisigen Wand in das Häuschen zurück gedrängt wurde. Und es begriff, dass das Feuer auf der Kerze und in der Kochstelle viel zu klein war, um den ganzen Raum vor der Eiseskälte zu schützen.
Oma hatte Mutter eine Kerze in die Hand
gedrückt. Sie selber hielt auch eine in der zitternden Hand. Und das Kind lief schnell zu ihnen hin.
Mit großen Schrecken in den Gliedern, standen sie alle Drei reglos da. Das Kind sah mit Entsetzen, wie sein kleiner Hund von der Eiswand verschlungen wurde. Es musste schlucken, um nicht lauf aufzuschreien.
"Feuer, geh nicht aus!" rief es verzweifelt. So laut es konnte, wiederholte es immer wieder diesen Satz.
Und das Feuer auf der Kochstelle reckte sich auf, loderte heller. Die Kerzenlichter alle rundherum leuchteten so warm und hell, als hätte sie ein ferner
Stern geboren.
Da wurde das böse Lachen der Winterhexe zum drohenden Grollen. Erbarmungslos rückte ihre Eiswand weiter in den Raum, warf Tische und Stühle um, ruckelte an der Kommode, darauf sich eine hoch erhobene, flackernde Kerze befand. Die Hexe polterte und tat alles, um die drei Bewohner so sehr in Angst und Schrecken zu versetzen, dass diese ihre wärmenden Kerzen doch fallen ließen.
Doch die eine Kommode, darauf sich die hohe Kerze befand, konnte sie nicht umwerfen, nicht bewegen.
Als hätte dies Möbel sich mit dem Boden verschmolzen, rückte es keinen
Millimeter von der Stelle. Und alle hielten ihre Kerze fest bei sich.
"Feuer brenne weiter so!" rief das Kind tapfer.
Und als die Eiswand im Raum war, als sie begann, schon an den Kleidern von Mutter und Oma zu zerren, zog plötzlich und mit wilden Brausen, der Wind durch den Kamin.
Tosend blies er das Feuer noch weiter auf und schleuderte sprühenden Funken gegen die Eiswand und gegen die Winterhexe selbst.
Mit einem schrillen Schrei ließ die Eiswand von den Kleidern ab, zog sich zurück, um sich im nächsten Moment wieder in spitze Eiskristalle und rollende
Eisbrocken zu verwandeln, die von der unsichtbaren Hexe durch den Raum geschleudert wurden.
Der Wind machte kehrt, baute sich schützend vor die drei zitternden Menschlein auf, hob ein Feuer auf die Holzscheite neben der Kochstelle und blies diese hell auf gegen die Geschosse der Hexe. Mit heftigen Brausen wirbelte er um Feuer und brennende Kerzen, schleuderte mit ganzer Wucht die züngelnde Hitze gegen die entsetzte Eishexe in der berstenden Eiseswand.
Sie erkannte, dass sie den Wind vergessen hatte, sie hatte dies nicht kommen sehen!
Sie fluchte und sie brüllte fürchterlich,
zersplitterte innerlich mit gellendem Schrei, dass es in den Ohren schmerzte.
Doch es half ihr nichts und niemand mehr, denn der Wind war diesmal nicht ihr Gefangener, nicht ihr Sklave.
Sie wurde immer leiser, immer kleiner. Sie schmolz dahin.
Eine Wasserlache bildete sich auf dem Fußboden, der rasch zu einer Pfütze wurde.
Da gab Oma ihre letzte Kerze in die Kochstelle und warf ihre Schürze dazu. Und das Feuer loderte erneut hell auf!
Der Wind sah das, wirbelte um die brennenden Eiskristalle herum zur offenstehenden Türe hinaus. Er selbst warf die Türe zu, und machte so, dass
alle Wärme im Häuschen bleiben konnte.
Da kamen verirrte, zuckende Blitze aus Eis über die Kälte und die Wärme.
Sie zersplitterten die letzten dicken Eisbrocken und ließen das Feuer noch heftiger lodern.
Und die Hexe steckte im brodelnden Eis, gefangen in ihrem Element. Das dampfte, klirrte und zerlief, wurde Wasser durch und durch, bis dieses sich, mit dem verstreuten Feuer, restlos in Dunst und Nebel auflöste.
Nun, als endlich die Ruhe in das kleine Häuschen wieder kam, sich in alle Winkel verteilte, sprang dem Kind, aus dem Nebel, ein kleiner Hund bellend
entgegen.
Lebendig und munter wie eh!
Und auch Mutter begann zu reden, und sie sprach mit bebender Stimme:
"Hab Dank, lieber Wind! Hab Dank, liebes Feuer!" Denn sie war ja stumm gewesen, weil die Eishexe sie einst verwünscht und ihren geliebten Ehemann in die Eiswüste entführt hatte.
Niemand wusste je, was aus ihm geworden war. Doch aber jetzt war Mutter endlich von diesen bitteren Fluch erlöst! Sie konnte wieder sprechen, konnte wieder singen und lachen.
Fortan lebten sie alle glücklich und in Frieden noch viele, viele Jahre in ihrem kleinen Häuschen am Wegesrand zu Feld und Wald.
Aber die Winterhexe hatte seit dem niemand mehr gesehen.
Die Geschichten um sie wurden mit den Jahren zu einer Legende, die man sich gern in heimlich kalten, dunklen Winternächten erzählte.
Manche Menschen glaubten sie - manche nicht…