"Tom! Mach Dich fertig und nimm alles mit! Chris wartet schon unten im RTW!", tönte es aus dem Mobilteil. Bevor er noch etwas fragen konnte oder ihr sagen konnte, daß seine Schicht zuende war, hatte Sally schon aufgelegt. Tom ist leitender Arzt in einem großen Krankenhaus und daß er zu Einsätzen mitgenommen wird, kommt nicht so häufig vor. Schnellen Schrittes ging er in eines der Behandlungszimmer, um seine persönlichen Dinge für eine Erstversorgung zu holen. Bevor er mit zwei Koffern und dem Dephirucksack zum Treppenhaus laufen konnte, vergaß er fast, die Krankenhausgummischuhe gegen seine Turnschuhe zu tauschen und zwei Formulare mußten noch unterschrieben werden. Am Treppenhaus angekommen öffnete ihm ein zuvorkommender Patient die Tür. Immer zwei Stufen nehmend, war er die vier Stockwerke schnell hinuntergeklettert und stürmte hinaus zum Rettungswagen. Sein Gepäck legte er hinten in den Sprinter und plumpste Sekunden später leicht außer Atem auf den Beifahrersitz. "Was ist denn los? Wo gehts hin?", fragte er Chris, während er sich anschnallte und dann das Clipboard mit den Einsatzpapieren zur Hand nahm. Chris, ein erfahrener Rettungssanitäter, legte den ersten Gang ein und brauste los. Er schaute rüber zu Tom: "Auf den Zetteln wirst Du nichts finden. Eben bekam ich einen komischen Anruf. Es geht um ehhh um irgendeinen Billy. Kennst Du den?" Tom schaute nachdenklich auf den leeren Berichtszettel, dann lehnte er sich zurück und atmete hörbar schwer aus. "Wo ist er? Was ist denn passiert?", wich er Chris' Frage aus. Der Sani zuckte die Schultern. In der Stadt war einiges los. Berufsverkehr. Es war kurz nach 17 Uhr und alle wollten nach Hause. Doch dank der Sirene und des Blauchlichts kamen sie zügig voran, auch wenn einige Idioten das Gelernte aus der Fahrschule schon wieder vergessen zu haben schienen. Sie fuhren aus der Stadt raus und bogen in einen Feldweg ein. "Die Mühle? Chris, was hat der Anrufer Dir erzählt? Rede doch endlich!" Tom malte sich schon sämtliche Situationen aus, die ihn erwarteten, denn die Erfahrung hat ihn gelehrt, daß ein Anruf von oder wegen seinem Bruder Billy meistens auf seinem OP-Tisch endete. Wie oft hatte er ihn schon zusammengeflickt. Die Kugeln, die er ihm seit einigen Jahren aus seinem durchtrainierten Körper holt, hat er nicht gezählt. Ein paar Mal war es knapp, aber immer wieder hat Billy sich gut erholt, um sich ins nächste Dilämma zu stürtzen.
Tom ist fast auf den Tag genau 3 Jahre älter als Billy und weitaus weniger lebensmüde. Eher der ruhige Typ und schon oft wurde Toms Haus Zufluchtsort für Billy, wenn er in seiner eigenen Bleibe für einen bestimmten Zeitraum nicht mehr sicher war. Meist endete eine solche Phase wieder in einer NotOP, bei der Tom ein, zwei oder mehrere Narben auf Billys Körper hinterließ. Das sind die Spitzen in Toms Leben und er kämpft bis auf den Tod für seinen Bruder, der ihm damals das Leben rettete. Ja, er würde sein Leben lassen, wenn er Billys Leben dadurch erhalten könnte. Daß Tom und Billy Brüder sind, weiß niemand. Es wäre fatal, wenn gewisse Leute davon Wind bekämen. Tom ist Billys einziger Halt, einziger Bezugspunkt und Tom wäre ein guter Köder, wenn Bösewichte Billy aus der Reserve locken wollten.
Chris bog in einen weiteren Feldweg ein und schaltete sogleich die Sirene und das Blaulicht aus. Tom hatte richtig vermutet, daß sie zur alten Mühle fahren würden. "Der Anrufer hat gesagt, daß ein gewisser Billy jetzt schnell Hilfe braucht, er hat viel Blut verloren. Mehr nicht. Ja, und noch, daß er in der Mühle ist natürlich", berichtete Chris und lenkte den Rettungswagen behutsam durch eine schmale Hofeinfahrt auf die Rasenfläche vor der Mühle. Er machte den Motor aus. Die beiden Männer schauten sich kurz an und nickten einander zu. Nachdem sie ausgestiegen waren, holten sie schnell ihre Taschen. Sie gingen auf die Mühle zu. Die große Holztür war einen spaltbreit geöffnet. Es war totenstill. Beide Männer hatten die Hände voll und deshalb schob Chris die Tür mit seinem Fuß auf. Drinnen war es recht finster, aber aus einer Türöffnung drang Licht. Sie steuerten darauf zu und Tom sagte in gedämpftem Ton zu Chris: "Ich hoffe, es ist keiner mehr da außer uns und ... und Billy. Wer weiß eigentlich noch, daß wir hier sind?" Chris drehte sich zu Tom um und erwiderte: "Sally weiß es. Ich habe ihr gesagt, wenn wir in zwei Stunden nicht zurück sind, soll sie die Polizei anrufen." Das reichte Tom als kleine Sicherheit und sie betraten den hell erleuchteten Raum. Das Zimmer war nicht sehr groß. Es war kalt und feucht. Zu ihrer rechten stand ein großer Scheinwerfer. "Tom", erklang Billys Stimme. Kraftlos, aber wach. Beide drehten sich ruckartig in die Richtung, aus der der Ruf kam. Was Tom sah, ließ ihn erschaudern, doch für solche Gefühle war nun keine Zeit. Er mußte professionell handeln, auch wenn es um seinen Bruder ging. Sogleich sprangen sie zu Billy rüber. Sie legten die Taschen ab und zogen ihre Jacken aus. Chris schlüpfte rasch in seine Handschuhe. Tom verzichtete auf die Handschuhe. Es war das gleiche Blut. "Hey, Handschuhe, Tom!", erinnerte Chris ihn. Tom stockte kurz, sagte dann: "Ich erklär dir das nachher!"
Billy kniete aufrecht auf einer Art Podest. Seine Shorts war blutdurchtränkt. Sein Oberkörper nackt. Seine Arme waren an einem Pfahl hinter seinem Rücken festgebunden. Um den Hals hatte er eine dicke Ledermanschette, die ihn in unangenehmer Höhe am Pfahl fixierte. Seine tiefblauen Augen waren wachsam, doch Tom spürte und sah auch, daß ihm diesmal schlimm zugesetzt wurde. Er blutete stark aus einer tiefen Wunde rechts unter dem Rippenbogen. Das Fleisch über seinem linken Schlüsselbein war tiefblau. Der ganze Oberkörper war mit Blut beschmiert, so daß einzelne Verletzungen kaum auszumachen waren. Billy atmete flach und bei jedem Atemzug durchfuhr ihn ein ähnlich starker Schmerz wie der, der seinen Körper durchfuhr, als ihm das Jagdmesser in den Bauch gerammt wurde. Chris war fix bei ihm und drückte eine Kompresse fest auf die große Wunde. Billy stöhnte. Tom kniete sich zu ihm nieder und befreite seinen Hals. Augenblicklich rutschte Billy ganz runter auf die Knie. Er verzog das Gesicht und beugte sich nach vorn, um Blut auszuspucken. Seine Arme waren noch immer gefesselt und Tom wollte, bevor er seine Arme lösen würde, ihn sich erstmal genauer ansehen. Da er nun Billys Rücken sehen konnte, sah er auch die Austrittswunde einer Kugel, sie war schon trocken. "Billy, wie lange bist Du schon hier", fragte Tom, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie viel Blut er schon verloren hat. Billy stöhnte, denn sein linker Arm zerrte schmerzhaft am zerschmetterten Schlüsselbein. Er drückte sich mit Chris' Hilfe wieder hoch. Bevor er etwas sagen konnte, verging eine Weile. Sein Oberkörper brannte. Ihm war kotzübel und sein Kopf würde bald zerspringen. "Ich weiß nicht," presste er heraus, "wie viel Uhr ist es denn?" "6 Uhr abends. Spürst Du Deine Arme noch?", erwiderte Tom während er vorsichtig die Fesseln löste. Er hielt noch eine Weile Billys Hände. Die Kabelbinder hatten tief an den Handgelenken eingeschnitten. "Als ich heute früh joggte, kam James. Das war vielleicht so um 8. Nein, meine Hände sind taub. Außerdem hat der andere Idiot mein Schlüsselbein zertrümmert. Mit dem Gewehrkolben. Kannst Du .... kannst Du meinen linken Arm noch hinten halten, bis ich wieder Gefühl drin habe?", bat Billy. Tom ließ Billys rechten Arm los und tastete dann vorsichtig das kaputte Schlüsselbein ab. Dabei merkte er, wie schwer Billy das Atmen fiel.
Chris verfolgte alles mit ungläubigen Blicken. So einen Einsatz hat er noch nie gehabt. Verkehrsunfälle, abgeschnittene Finger und Arme, gequetschte Beine, Platzwunden, gebrochene Wirbel, Augenverletzungen und noch viel blutigeres hatte er gesehen, aber ein gefolterter Mann war ihm noch nicht untergekommen. Daß dieser Billy noch so dakniete, wach war und ansprechbar und klar bei Verstand bei dem, was er augenscheinlich durchgemacht hatte, faszinierte ihn. Und wie der Doc mit ihm umging, als wäre es nicht das erste Mal... Chris drückte die Kompresse weiterhin auf die Wunde und tauschte sie aus, sobald sie voller Blut war.
"Ich hab solche Kopfschmerzen", klagte Billy, "das ist fast das schlimmste an der ganzen verfickten Scheiße!" "Chris, hol mal die Trage.", bat Tom. "Ich halt die Kompresse," sagte Billy und drückte seine eigene, rechte Hand auf die Wunde. Dabei sah er den Sanitäter an. Da sah er es. Chris sah, was da los war. Billy hatte trotz der Schwere seiner Verletzungen, das gleiche Funkeln in seinen Augen wie Tom. Die Augenfarbe war die gleiche und obwohl das alles nicht zum Lachen war, umspielte ein leichtes Grinsen Billys Mundwinkel - genau wie bei beim Doc. "Ihr seid Brüder!", platze Chris heraus, "jetzt wird mir einiges klar. Die Handschuhe, die Vertrautheit, das seh ich die ganze Zeit und frage mich, was da los ist." "Ja," sagte Billy trocken, "und jetzt hol doch bitte die Trage." Chris machte sich sogleich kopfschüttelnd auf den Weg nach draußen zum Sprinter.
"Ich gebe Dir jetzt was. Wir müssen Dich ja hier weg kriegen. Wer ist denn dieser James und der andere Kerl?", fragte Tom während er Billy half, seinen linken Arm nach vorn zu bringen. Ganz langsam führte er ihn. Ein paar Mal zuckte Billy heftig zusammen. Die Kompresse war nicht mehr so blutig und wurde mit einem festen Verband fixiert. Nachdem das geschafft war, beugte Billy sich vor und hustete noch einmal Blut aus. Dann stützte er sich mit seinem rechten Arm ab, um sich langsam auf den Bauch zu legen. Er atmete auf. Über die rechte Schulter rollte er sich auf den Rücken. In dieser Zeit zog Tom ein Schmerzmittel in einer Spritze auf. Das spritzte er direkt unter das verletzte Schlüsselbein. Billy begann zu erzählen, wer dieser James ist und was in den letzten Stunden passiert war, während Tom die Schußwunde in der Brust säuberte und ihm einen Zugang legte. Die ganzen Schnitte würde er sich im Krankenhaus ansehen.
James war seit je her hinter Billy her. Billy hatte einige Quellen aufgetan, die ihn laufend mit Infos fütterten. James gönnte ihm den Ruhm und den Erfolg nicht und aufgrund seiner beruflichen Mißerfolge, versuchte er die Informationen aus Billy rauszuprügeln, um auch große Fische ins Netz zu kriegen. Beide waren Kopfgeldjäger. Billy war wesentlich erfolgreicher und angesehener in dieser Branche. Da diese Sparte nicht legal war, fochten die zwei ihre Kämpfe meist unter sich aus. Doch James hatte jemanden gefunden, der ihm helfen würde. Tony, der Bruder des Mannes, den Billy vor einem halben Jahr ans Messer geliefert hatte. Oft endeten diese Jagden tötlich, manchmal, wenn es günstig läuft, wandern die Ganoven in den Knast. Billy ist nicht drauf aus, jemanden umzubringen, doch wenn es sein muß, dann kennt er kein Pardon. Dieses Mal war er der Gejagte. James hatte ihn beobachtet. Bei der täglichen Laufrunde, die Billy wöchentlich änderte, hatte James ihn erwischt. Es war noch sehr früh am Morgen. Kaum jemand war unterwegs und diese Chance ließ James sich nicht entgehen. Billy hat ihn gesehen, doch bevor irgendetwas gesagt werden konnte, hatte James seine Pistole gezückt und Billy in die rechte Brust geschossen. Billy sackte auf die Knie und James zückte sogleich sein Telefon, um Tony bescheid zu geben. Billy rappelte sich wieder auf. Sie lieferten sich einen Kampf, der sich gewaschen hatte, doch James war durch Billys Schußwunde im Vorteil. Immer wieder schlug und kickte er Billy auf die Verletzung. James kassierte ebensoviele Tritte und Hiebe. Doch dann kam Tony. Billy war sehr angeschlagen und konnte gegen die beiden Männer nicht viel ausrichten. Gemeinsam schafften sie den blutenden, nun gefesselten Billy zur Mühle. Dort schleiften sie ihn in das alte Gebäude, zwangen ihn vor dem Pfahl auf die Knie und fesselten ihn dort erneut. Die Austrittswunde am Rücken blutete lange stark. Außerdem war Billys rechter Lungenflügel durchbohrt und das Atmen fiel ihm von Minute zu Minute schwerer. Blut sammelte sich in seiner Lunge, das er hin und wieder aushustete. Dann nahm alles seinen Lauf. Billy ertrug es. Er hatte schon so einiges durchgemacht. James wurde immer nervöser, weil ihn seine Folter nicht weiterbrachte und Billy sein Schweigen aufrecht hielt. Tony ging auf und ab und fummelte an seinen Fingernägeln herum. Wenn James ihn das eine Mal nicht aufgehalten hätte, hätte Tony Billy mit seiner Schrotflinte in den Kopf geschossen. Tonys Wut war unermeßlich und so schlug er Billy mit dem Gewehrkolben das Schlüsselbein zu Brei. Billy unterdrückte einen Schrei, doch reden würde er nicht. Als sie einen Wagen auf die Wiese fahren hörten, verschwanden sie durch den Hinterausgang.
Zwischenzeitlich war auch Chris wieder da. Gemeinsam hoben sie Billy auf die Trage. Sie sammelten ihre Sachen ein und schoben Billy in den Rettungswagen. Chris ging noch einmal zurück um nachzusehen, ob sie auch nichts vergessen hatten.
"Ich mach jetzt die Augen zu, Tom. Wir sehen uns dann gleich!" murmelte Billy. Die Schmerzmittel und das Anästhetikum wirkten. Tom hatte Billy an den Herz-Kreislauf-Monitor angeschlossen. Der Blutdruck war sehr niedrig und der Herzschlag schwach. Chris kam zurück, schwang sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. "Los gehts, Doc!", rief er nach hinten. "Ja, mach so schnell, es nur geht. Ich pack vorsichtshalber mal den Dephi aus und intubiere ihn", sagte Tom besorgt.