Stefan öffnete die Tür zur Veranda und ging die altbekannten Stufen empor zur Küchentür. Sie war verschlossen, und so klopfte er an. Ein altes, weißhaariges Mütterchen schlurfte aus der Stube kommend heran, mit den Augen blinzelnd, als sähe sie gegen die Sonne, denn sie hatte Schwierigkeiten, den Ankommenden zu erkennen.
»Oma, ich bin es, mache auf!« Das Szenario erinnerte irgendwie an den Wolf und die sieben Geißlein, doch hatte Stefan nicht im Entferntesten die Ähnlichkeit mit diesem Bösewicht. Umständlich schloss die Greisin die Tür auf. Erst in diesem Augenblick erkannte sie ihren Enkel und umarmte ihn in aller Herzlichkeit.
»Oma, wo hast du denn deine Zähne gelassen?«, fragte Stefan besorgt, als er merkte, dass seine Großmutter nur auf der Felge kaute.
»Junge, die habe ich ganz vergessen«, flugs eilte sie ins Bad und kehrte als neuer Mensch wieder.
»Mach dir doch einen Kaffee, mein lieber Stefan, du weißt doch, dass ich nicht mehr so kann«, forderte sie ihn mit gütiger Stimme auf und setzte sich auf ihren Platz in der Küche, an den Tisch, an dem sie seit fünfundzwanzig Jahren saß.
Nachdem Stefan die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, setzte er sich zu seiner Oma an den Tisch.
»Wie geht es dir, Oma«, fragte er besorgt.
»Ach, wenn du nicht einmal kommen würdest, dann wäre ich ganz allein«, entgegnete ihm die traurig die alte Frau.
»Oma«, Stefan Stimme nahm einen leicht vorwurfsvollen Klang an, so etwa, als wollte er einem Kind etwas ausreden, »Mutti war doch gestern erst bei dir und du gehst doch nachher sicher noch zu deinem Martchen, stimmt’s?«
»Wir werden wieder Mensch-ärgere-dich-nicht spielen«, entgegnete die Oma, ohne auf Stefans Einwand einzugehen. Plötzlich wanderten ihre Gedanken in die weite Welt hinaus, ganz allein, und sie ließ keinen daran teilhaben.
Stefan betrachtete seine Oma, eine greise Frau, die auf die neunzig zuging. Er sah ein eingefallenes Gesicht mit einer Nase wie eine verschrumpelte Kartoffel vor sich sitzen, die Haare silberweiß, mit frisch gedrehten Locken, die Augen überzog ein zarter Schleier, sie schienen ein wenig wie die eines verängstigten Ferkels zu blicken, der Mund arbeitet ständig, die Zunge schnalzte, Sekunde für Sekunde, dmscht, dmscht, dmscht. Die Hände, schmal, fahrig, ließen die blauen Adern hervortreten. Die Haut war zart wie die eines Babys, doch schien sie zwei Nummern zu groß für den zu klein gewordenen Körper; der selbst, einst voller Spannkraft, war eingesunken.
»Ach, wenn mich der liebe Gott nur zu sich rufen würde...«, sprach sie vor sich hin.
»Oma, sag nicht immer so etwas, wenn er es wollte, hätte er es längst getan«, beschwichtigte Stefan die alte Frau. Er war zwar ihr Enkel, doch war er in einem Alter, in dem er selbst bald einen Enkel bekommen könnte.
»Ich fühle mich so einsam, wenn du nicht wärst, dann wäre ich schon lange beim Herrn«, beharrte die Greisin.
»Erzähl doch bitte keinen Unsinn, Oma, du wirst noch hundert Jahre alt«, entgegnete der Enkel.
»Weißt du noch, Oma, wie ich vor vielen, vielen, Jahren bei dir war, die Zwiebeln auf dem großen Feld gezogen habe und die anderen Frauen dir erzählt haben, was du für einen fleißigen Enkel du hättest, oder wie wir beide Frühlingszwiebeln gebündelt haben und danach zum See gefahren sind, um zu baden?«, erinnerte sie Stefan.
»Ich war so gerne bei dir. Es machte immer Spaß. Als junger Frechdachs spürte ich die Freiheit auf deinem Bauernhof. Ich konnte machen, was ich wollte. Einmal habe ich dein Fahrrad lindgrün angestrichen. Das fand ich toll, dann habe ich den Stall mit einer Feder weiß getüncht, Schiffe aus Brettern gebaut, Viermaster, mit vielen Segeln, habe sie auf dem Ententeich schwimmen lassen, mit einer langen Schnur. Dann habe ich sie wieder an Land gezogen. Es waren herrliche Erlebnisse für mich. Denkst du noch manchmal daran, wie ich dir ein paar Leberwurstbrote auf den Acker gebracht habe? Ich habe mich so sehr angestrengt, die Scheiben von dem Brot abzuschneiden. Weißt du noch, wie sie dir geschmeckt haben?«
Die Großmutter lächelte verträumt. Tränen der Rührung rollten ihr aus den Augenrändern.
»Weißt du noch, wie der Kleine und ich mit dem Trabbi vorfuhren, das ist bald zehn Jahre her. Du hast uns aufgenommen und wie deine eigenen Kinder behandelt, hast uns ein Bett gegeben, hast für uns gekocht, hast unsere Wäsche gewaschen«, sinnierte Stefan.
»Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ihr um die Ecke kamt. Plötzlich standet ihr vor meiner Tür, ich war so überrascht, so voller Freude«, das Gesicht der alten Dame hellte sich auf.
»Doch nun will ich sterben. Ich habe mein Leben gelebt und der Herr soll mich holen«, urplötzlich sank ihr Gesicht wieder ein.
»Erinnerst du dich, wie ich zu dir kam, als du in der Medizinischen Akademie arbeitetest, und ich dich um ein paar Pfennige bat, für Mutti, für den Muttertag?«, fing Stefan wieder an, die Erinnerungen aufzufrischen.
Voller Mitgefühl nahm er ihre kleine schmale Hand und streichelte sie. Und während die Kaffeemaschine röchelte, erinnerte er sich an die alten Geschichten, die ihm die Oma erzählt hatte, damals als sie noch keinen Fernseher hatte und er sie in Ferien auf dem kleinen Dorf in der Börde besuchte. Vor seinem geistigen Auge sah er sich aus dem Bus steigen, der ihn aus der nahen Stadt dorthin gebracht hatte, sah die Oma auf ihn warten. Dann gingen sie auf dem Weg zum Bauernhof erst einmal beim Köhlerbäcker vorbei, kauften ein paar leckere Pfannkuchen, natürlich mit Zucker betreut und mit Marmelade gefüllt, liefen über das holprige Pflaster weiter zum Hof, öffneten das alte Holztor, das durch Sonne und Regen gebleicht war und dadurch eine graue Farbe angenommen hatte, spazierten über den Hof, begrüßten Enten, Gänse und Hühner; und dann gab es Muckefuck und diese herrlichen Pfannkuchen. Noch schmackhafter waren sie natürlich, wenn die Oma die Pfannkuchen selber gebacken und mit Pflaumenmus gefüllt hatte. Schon bei dem Gedanken daran schoss Stefan der Speichel in den Mund.
Er erinnerte sich noch all der Geschichten, die sie ihm einst am wärmenden Kohleofen erzählte, wie sie als junges Mädchen mit langem Rock bei den Reichsjugendwettkämpfen siegte, wie sie einmal Streuselkuchen naschte und von ihrem Vater erwischt wurde und dafür mit der Peitsche verprügelt wurde, wie sie als große Bauernfamilie sechsundneunzig Klöße am Sonntag verdrückten – sie hatte sechs Brüder und eine Schwester, wie sie einst beim Tanz in den Mai ihren Robert, einen strammen Bäckerburschen kennengelernt hatte, wie sie mit ihm die harten Jahre der Depression erlebt hatte, wo sie aus Muttermilch Brei für die Familie gekocht hatte, wie sie die Flucht mit den Kindern und ihren Eltern aus Schlesien überlebte, wie sie den Opa zur Hebamme nach Ziehgläsern geschickt hatte, weil ihre Brüste überquollen vor Milch, der Sportfanatiker aber nicht am Fußballplatz vorbei kam und seinen Auftrag vollkommen vergessen hatte, wie sie allein in der schweren Nachkriegszeit ihre beiden Mädchen großzog, während der Opa noch in russischer Gefangenschaft verbrachte, wie der Opa monatelang im Ruhrpott gearbeitet hatte, um die Familie zu versorgen, wie sie Schweine geschlachtet hatten, der Lieblingsziege einen Namen gegeben hatten, wie sie immer für alle da war, für ihre kranke Schwester, für die Verwandten, die oft kamen, um sich auf dem Lande einmal wieder richtig satt zu essen, wie sie Stefans Geburt miterlebt hatte, bei der Stefans Mutter, Omas Tochter, selbst fast ihr Leben verloren hatte, wie der Opa die Mütze in die Luft warf, als er erfuhr, das der winzige Mensch, sein erster Enkel, einen kleinen Piephahn hatte und wie sie im Garten und auf dem Feld Zeit ihres Lebens schwer gearbeitet hatte. Und immer wenn eine Geschichte zu Ende war, bat Stefan sie: »Oma, erzähl mir noch etwas von früher!«
Sie war geschafft von der Arbeit, früh um fünf mit dem ersten Hahnenschrei war sie aufgestanden, war in den Schrebergarten gegangen, kam dann zurück, fütterte das Vieh, verbrachte danach ihre Zeit bis nach dem Mittag bei Feldarbeit. Damals war es so, dass die Bauern mit den Hühnern aufstanden und mit ihnen zu Bett gingen. Doch für ihren Enkel nahm sie sich immer noch genügend Zeit. Gerade deshalb fühlte sich Stefan immer so wohl in ihrer Gegenwart, auch spürte er ihre innige Liebe zu ihm und ihre wohlige Herzenswärme, ihre unendliche Güte. Nie konnte sie ihm böse sein, immer hatte sie ein Lächeln für ihn übrig.
Auch seine kindliche Hilfsbereitschaft kannte keine Grenzen, aus Liebe zur Oma tat er alles, was in seinen Kräften stand, was sein schmächtiger Körper hergab; mit großer Begeisterung trug er die schweren Wassereimer von der Pumpe bis ins Haus, er hackte Holz, holte die Kohlen und die Kartoffeln aus dem Keller, half ihr, den Garten umzugraben und die Birnen zu pflücken, sang dabei aus vollster Kinderseele Oh mein Darling vom Birnbaum hinab, ging zum Milchmann, sammelte die noch dampfenden Pferdeäpfel für die Erdbeeren auf, kochte, wenn es sein musste Eingeplocktes oder Gehacktesstippe, brachte die Kuchenbleche zum Bäcker und holte sie wieder ab, heizte den Ofen, wenn die Oma mitten in der Nacht zur Frühschicht in die Stadt fuhr. Ja all das tat er aus freien Stücken, und er tat es aus Liebe zu ihr.
Nun saß Stefan vor dieser alten Frau, schlürfte seinen Kaffee und dachte darüber nach, wie aus einer vitalen Oma so ein greisenhafter, zusammengefallener Mensch werden konnte. Er überdachte ihr kindliches Verhalten der letzten Monate, fand aber nicht heraus, was und vor allem wie die Natur diese Metamorphose bewerkstelligte. Es war, als stürben ihre Zellen einzeln ab, die Fettzellen, die Hautzellen, die Nervenzellen. Doch, obwohl ihre Seele mit dem Leben ihren Frieden geschlossen hatte, beharrte ihr Körper auf sein irdisches Dasein. Und ihm kam es so vor wie in dem Film, in dem die Geliebte immer älter wurde, der Liebhaber von unsterblicher Jugend war, ihre gemeinsame Liebe aber von Bestand blieb. Auf einmal fühlte sich Stefan schuldig. Er wusste nicht woher das Gefühl kam, aber es war urplötzlich da. Sein Gewissen meldete sich mit beißenden Fragen: Bringst du dieser hilflosen alten Frau wirklich die Aufmerksamkeit entgegen, die sie verdient? Bist du wirklich immer für sie da, pflegst sie, hilfst ihr und stehst ihr bei? Bringst du ihr wahrlich die Liebe entgegen, die sie dir ihr ganzes Leben entgegen gebracht hat? Warum nervt dich es nur, wenn sie immer und immer fragt, was für ein Tag heute ist? Weshalb bist du so ungeduldig, wenn sie dich fragt, ob du nun morgen oder übermorgen oder an irgendeinem Tag wieder zu Besuch kommen wirst? Weshalb gehst du nicht einfach darüber hinweg, wenn sie dich dreimal innerhalb einer halben Stunde anruft? Weißt du denn nicht, dass du auch einmal in dieses Alter kommen könntest und dieselbe Senilität an den Tag legen könntest? Und ihm fiel die alte Geschichte wieder ein von dem alten Mann und seinem Enkel.
Ein uralter Greis konnte kaum noch sehen und hören. Die Knie und Hände zitterten ihm. Beim Essen lief ihm die Suppe wieder aus den Mundwinkeln. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor. Sie setzten den Alten hinter den Ofen in die Ecke. Eines Tages zerbrach er einen Teller. Man gab ihm einen Holzteller.
Nicht lange, da beobachtete der Sohn und dessen Frau, wie ihr kleiner Sohn von vier Jahren Holzbrettchen zusammentrug. »Was machst du da?«, fragte der Vater. »Ich mache ein Tröglein«, antwortete das Kind, »daraus sollt ihr essen, wenn ich groß bin.« Da schauten sich Vater und Mutter stumm an und holten den Großvater wieder an den Tisch.
Wie wohl fühlten wir uns als Kinder, wenn uns die Eltern oder Großeltern umsorgten. Doch wie schnell vergessen wir das. Erstaunlicherweise fällt es den meisten schwer, sich mit der gleichen Intensität um ihre Eltern und Großeltern zu kümmern, wie es die Eltern und Großeltern einst für sie taten. Ist das nicht schizophren?
Und das Herz Stefans klopfte bei diesem Gedanken. Eine innere Wärme bemächtigte sich seiner Gedanken. Er sah in dieses, ihm so bekannte Gesicht, sah in diese traurigen Augen, sah das silberweiße Haar, sah diese Hände. Er spürte eine tiefe, unbeschreibliche Liebe in sich und zu ihr. Ja, es war etwas Besonderes in ihrer Beziehung, etwas Einmaliges, etwas, was er später, wenn sie nicht mehr da wäre, vermissen würde. Und er schämte sich seiner üblen Gedanken und wünschte sich, etwas Gutes für sie zu tun.
Als Stefan sagte, dass er Abschied nehmen müsse, erschrak die alte Frau geradezu, tat verdrossen wie ein eigensinniges Kind. Als sie sich endlich nach verzweifeltem Widerstand gefügte hatte, wurde ihre Stimme wieder ganz weich. Sie nahm Stefans Hände, und ihre Finger glitten liebkosend mit der ganzen Ausdrucksfähigkeit einer Halbblinden an ihnen entlang bis zu den Gelenken, als wollten sie mehr von ihm wissen und sie ihm mehr Liebe sagen, als es Worte vermochten. »Du hast mir mit deinem Besuch eine große Freude gemacht«, begann sie von innen her mit einer aufgewühlten Gefühlsregung, die Stefan so schnell nicht vergessen wird. »Ich danke dir, dass du wieder einmal zu mir gekommen bist«, wie heiß in Tränen, wie strömend vor Dankbarkeit strahlten ihre Blicke ihn an. Ganz betäubt von diesem Gefühl tastete sich Stefan wieder die Treppe der Veranda hinunter.
Eigentlich schämte er sich: da war er wie das Rotkäppchen in die Stube der lieben Großmutter getreten, hatte gedanklichen Kuchen und ideellen Wein mitgebracht. Was er aber mitnahm, war mehr, war Freude, war Dankbarkeit, war Großmut, war Liebe.
Schon stand er auf der Straße, schloss das Auto auf, da klappte oben ein Fenster, und er hörte seinen Namen rufen: in der Tat, die greise Frau wollte es sich nicht nehmen lassen, mit ihren halbblinden Augen ihm der Richtung nachzusehen, in der sie Stefan vermutete. Sie beugte sich weit vor, so dass der Enkel Angst bekam, sie stürze aus dem Fenster, winkte mit ihrer zarten Hand und rief mit der heiteren, aufgefrischten Stimme eines Mädchens: »Komm gut nach Hause, grüße deine Frau und vergiss deine alte Oma nicht!« Unvergesslich blieb ihm der Blick dieser silberfarbenen Greisin da am Fenster mit der unvergleichlichen Güte in den Augen.