Rettung
Meine Kurzgeschichte in dieser Anthologie:
Rettung
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
„Gerettet“, murmelte er leise. „Sie ist gerettet. Zum Schluss habe ich selbst nicht mehr daran geglaubt.“ Es war erst gestern, da war sie hier am Bahnhof aus dem Zug gestiegen. Nur durch Zufall
bemerkte er sie. Wie jeden Tag seit einem Jahr stand er am Gleis und schaute den Zügen nach. Ein großer Mann. Wenn man genau hin sah, konnte man noch erkennen, dass er vor langer Zeit einmal ziemlich durchtrainiert war. Der Bauchansatz, sein speckiger Ledermantel und das ungepflegte Äußere hatten aber inzwischen deutlich die Vorherrschaft übernommen. Zu Füßen des Mannes lag ein riesiger Hund. Bewegungslos wie der Mann. Lemmys Alkoholpegel lag schon locker bei zwei Promille.
Er hatte einen tiefen Fall hinter sich. Seit seine Familie ums Leben gekommen war, hatte er kaum noch geschlafen. Ernährt hatte er sich seitdem vorwiegend
von Whisky und Fastfood. Sein Ritual wurde der Bahnhof. „Hätte ich mich nur nicht ans Steuer gesetzt. Sie würden alle noch Leben sein.“ Der Gedanke nahm immer wieder von ihm Besitz, vor allem nachts. Dann trank er. Manchmal bis zur Bewusstlosigkeit.
„Hallo, Fremder.“ Die Frau aus dem Zug. Sie schaute ihm ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen. Den Hund beachtete sie gar nicht. „Wo finde ich hier ein sauberes Zimmer?“
Lemmy musste erst den Alkoholschleier verdrängen. „Die Straße runter. Bei „Mario“. Der Name hängt groß über der Tür. Können Sie gar nicht verfehlen.“ Die Frau war eine Schönheit. Mindestens
1,75m groß, schwarze Haare, braune Augen, tief wie Seen. Die allerdings, wie er erst jetzt bemerkte, leicht flackerten. Auch ihre gepflegten Hände zitterten. „Irgendwas stimmt nicht“, dachte er.
„Soll ich Sie hinbringen?“
„Ja, gerne.“
„Sind Sie sicher? Ich gelte nicht gerade als gesellschaftsfähig.“
„Ja, bin ich. Ich erkenne sofort, wenn jemand nett ist. An dem Rest kann man ja arbeiten.“ Ihr Lächeln bei diesen Worten ließ ihn schlagartig nüchtern werden.
Sie hakte sich bei ihm ein. Von dieser Sekunde an war Lemmy ihr verfallen. „Odin, komm!“ Der achtzig Kilo schwere
Germanische Bärenhund erhob sich völlig lautlos, schien den Kopf zu schütteln und trottete hinter ihnen her.
„Sie reisen ganz ohne Gepäck?“, wunderte sich Lemmy.
„Ich heiße Julia, lassen wir das doch mit dem Sie. Ja, ich musste ziemlich plötzlich aufbrechen.“
In der Hotelbar lud Julia ihn zu einem Kaffee ein. Dabei erzählte sie ihm eine haarsträubende Geschichte. Alles in allem hatte sie hunderttausend Euro dabei, die sie einem Wetthai abgeluchst hatte. Nun folgten ihr fünf Typen, die ihr das Geld wieder abnehmen wollten. Einmal wurde sie bereits von ihnen zusammengeschlagen, konnte aber
entkommen.
„Wenn du Hilfe brauchst …“ Für Lemmy war das keine Frage.
„Brauch ich. Aber sei mir nicht böse. Nach einer großen Hilfe siehst du mir nicht aus.“
„Vertrau mir. Ich war nicht immer so. Nur, wenn ich dich beschützen soll, müssen wir zu mir.“
„Okay!“ Ohne weiteren Kommentar nahm sie seine Hand.
Bei ihm zu Hause gab er ihr das sicherste Zimmer, das nur eine Tür hatte. „Odin, wach!“ Der riesige Hund ließ sich vor dem Eingang nieder. Lemmy zog sich einen Stuhl dazu, und zusammen wachten sie über die ungewöhnliche Frau. Und es
kam Lemmy nicht einmal seltsam vor. Am nächsten Tag verbrachte er einen wunderschönen Morgen mit Julia. Erst gegen Mittag, als der nächste Zug in dem kleinen westfälischen Dorf ankam, schickte er sie ins Haus. „Odin, wach!“ Lemmy ließ den Hund aufpassen, während er sich im Dorf umsah. Seit zwölf Stunden hatte er schon keinen Whisky mehr getrunken. Er fühlte sich gut. Bei „Mario“ sah er sie dann. Fünf Mann, alle Jeans, weiße Hemden, durchtrainiert.
Nur die Gesichter unterschieden sich. Drei russisch, zwei arabisch. Mario erklärte ihnen gerade den Weg zu seinem Haus.
„Idiot“, knurrte Lemmy und ging auf die Fremden zu. „Schönen guten Tag. Kann ich euch helfen?“ Lemmy war schon immer für den direkten Weg. „Ich glaube, Julia will euch nicht sehen. Am besten, ihr verschwindet.“
Die Reaktion fiel wie erwartet aus. Die drei Russen kreisten ihn ein, die beiden Araber gingen weiter. „Was willst du Penner denn?“ Beim Reden zog der Wortführer einen Totschläger aus der Tasche. Gleichzeitig mit den beiden anderen. „Wirklich wie Zwillinge.“, dachte Lemmy. „Aufpassen!“, rief der Wortführer, der die plötzliche Veränderung bei Lemmy bemerkte. Doch es war bereits zu spät. Lemmys
gespreizte Hand schlug bereits im Kehlkopf des Wortführers ein. Fast zeitgleich krachte sein Fuß ins Kniegelenk des zweiten Russen. Aus derselben Bewegung erwischte er ihn mit dem Ellenbogen an der Schläfe. Erst jetzt hatte sein dritter Gegner Zeit zu reagieren: Wie ein Irrer drosch er mit seinem Totschläger zu. Lemmy tauchte unter den Schlägen weg, kam im Rücken des Russen wieder hoch und hämmerte ihm die hohlen Handflächen auf die Ohren. Der Fremde ging in die Knie. Blut sickerte aus seinen Ohren. Ein trockener Schlag gegen die Schläfe gab ihm den Rest. „Nicht schön, aber wirkungsvoll“, dachte Lemmy.
Er machte dem Wortführer noch schnell eine kurze Ansage und lief dann besorgt nach Hause. „Odin ist nicht mehr der Jüngste. Und zwei bewaffnete Gegner. Das wird eng“, dachte er. Seine Sorge erwies sich aber als unnötig. Bei seinem Haus angekommen, fand er zwei jammernde Schläger vor. Einer saß in der Ecke und hielt sich den blutenden Arm, der zweite lag unter Odin. Mit dem riesigen Germanischen Bärenhund auf sich war ihm jegliche Aggressivität vergangen. Nachdem Lemmy auch die zwei Schläger verjagt hatte, ging er zu Julia.
„Danke.“ Zärtlich hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Morgen muss ich
das Geld zu meinem Bruder bringen. Wenn du möchtest, komme ich wieder.“ Das Versprechen in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Unbedingt!“ Viele Worte waren noch nie sein Ding. „Komm, ich bring dich zum Bahnhof.“