DIE HARZTRÄNEN
Überall auf unserem blauen Planeten gibt es wunderbare Wälder, Urwälder und einsam wachsende Baumriesen, die viel erlebt haben. Es gibt Menschen, die durch geschickte Anpassung in diesen Wäldern eine Heimat und ihren Lebensraum gefunden haben. Es gibt aber auch viele tausend Menschen, die nur durch den Wald ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie sind Forstleute, die die Natur beobachten und die Wälder pflegen oder Ranger, die sich dem Naturschutz widmen und in Nationalparks Besucher in die Geheimnisse eines natürlichen Waldes einführen. Auf der anderen Seite gehören aber auch die Holzfäller zu denjenigen, die durch den Wald ihr Brot verdienen und damit ihre Familien ernähren. Einer von ihnen erzählt seinen Enkeln die folgende Geschichte:
„Es ist schon sehr lange her und ich bin damals noch ein junger Mann gewesen. Mein ganzes Glück war die Arbeit als Holzfäller. Ich war immer draußen und das Abenteuer war mein bester Freund. Gut ausgestattet mit dem modernsten Werkzeug ging ich am liebsten allein meiner Arbeit nach. Weil ich ein bisschen verrückt war, liebte ich es besonders, an den alten Riesen der Wälder meine Kräfte zu messen. Wenn sie mit einem Ächzen oder einem anderen, gar schaurig klingenden Klagelaut zu Boden stürzten, schlug mein Herz wild vor Freude.“
„Opa, schreien denn die Bäume immer, wenn man sie abschlägt? Sie müssen doch sterben, nicht wahr? Und tut ihnen das denn wirklich weh?“ Solche Fragen hat der Großvater nicht erwartet und er weiß auch keine wirkliche Antwort darauf. Da mischt sich seine Tochter ein, die ausgebildete Rangerin, ist und antwortet an seiner Stelle: „Wisst ihr, alle Lebewesen haben Angst, wenn sie gewaltsam sterben müssen. Und weil Bäume Lebewesen sind wie wir, so ächzen und klagen sie in dem Moment, wenn sie fallen.“ Die Enkelkinder sind mit dieser Antwort zufrieden und Großvater erzählt weiter.
„Eines Tages stand ich vor einem gewaltigen Baumriesen. Das Ende seiner Krone konnte ich nicht einmal erahnen. Und den gewaltigen Stamm hätten vier Menschen mit ausgestreckten Armen nicht umfassen können. Ich stand sprachlos mit offenem Mund da, staunte über dieses Wunder des Waldes und lehnte meine Axt an seine Wurzeln. Doch plötzlich trieb mich die Gier und ich sprach zu mir selbst: „Was wäre, wenn ich dich besiegen könnte? Wie viel Geld würde ich verdienen, wenn mein Arbeitgeber das gesamte Holz deines Stammes verkaufen könnte? Oder noch besser, wenn dein Stamm aus purem Gold wäre und ich könnte es behalten? Die ganze Welt könnte ich mir kaufen, viele Holzfäller für mich arbeiten lassen und ich würde noch reicher werden als der aller- reichste Mann der Welt!“ Eine Weile träumte ich noch so vor mich hin, dann beschloss ich, meine Arbeit zu beginnen. Morgen wollte ich dann noch mehrere Holzfäller mitbringen, weil ich erkannt hatte, dass ich alleine die Arbeit nicht leisten konnte.
Dann ergriff ich meine riesige Axt, prüfte noch einmal die Schärfe ihrer Schneide und schliff sie ein wenig nach. Ich musste zuerst an einer günstigen Stelle eine große Kerbe mit der Axt vorschlagen, damit die Säge später besser Halt fand und eine noch größere Kerbe geschnitten werden konnte, über welche der Baum dann stürzen sollte. Die Stelle war bald gefunden und ich holte zu einem gewaltigen Hieb aus. Als die Schneide meiner Axt den Stamm traf, zerbrach sie und ein metallisch scharfer Ton zerschnitt die Luft. Entsetzt blickte ich auf Stamm und Axt. Dann sah ich es und wollte es doch nicht glauben. Der Stamm, der vorher eine schwarze Rinde getragen hatte, schimmerte jetzt wie pures Gold. Gold, wohin ich auch blickte. Der gesamte Baumriese bestand aus reinem Gold.
Als ich mir dessen bewusst wurde, stockte mir der Atem, ich setzte mich nieder, lehnte mich an den Stamm und begann bitterlich zu weinen.“
 „Aber Opa, warum warst du denn nicht glücklich? Du hattest es dir doch sogar gewünscht?“ „Wisst ihr, Kinder“, antwortet da der Großvater, „sich etwas wünschen ist eines, aber einen Wunsch erfüllt bekommen ist etwas ganz anderes.“ Dann wischt er sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel und erzählt weiter.
„Nachdem ich mich ein wenig beruhigt hatte, hörte ich über mir eine leise Stimme, die sprach: „Höre, ich bin der Weltenbaum. Noch ehe es eine Erde gab, war ich schon da. Zwischen meinen Wurzeln ist die Erde entstanden. Ich trage sie seit ewiger Zeit durch das All. Aus meiner Krone ist der Himmel gemacht, der sich über alles spannt. Himmel und Erde halte ich zusammen seit Ewigkeiten. Dazwischen ist alles Leben geworden. Meine Krone schenkt allem Leben, welches atmet, den Stoff dazu. Sie verdunstet das köstliche Nass, das alles gedeihen und wachsen lässt. Sie schützt euer kleines Leben vor der Glut der Sonne, indem sie kühlen Schatten spendet. Mit meinen Wurzeln halte ich den Boden fest, der sonst schon lange ein Opfer der Winde geworden wäre.“
Eine Weile blieb der Baum still und ich hatte Zeit, über seine Worte nachzudenken. Von dieser Seite hatte ich es noch nie betrachtet. Als ich mich umdrehte und mit meinen Fingern zart über die goldene Rinde strich, begann der riesige Baum zu erbeben. Deutlich hörte ich ihn flüstern: „Seit Ewigkeiten schon hat ein Mensch mich nicht mehr so zart berührt. Erinnerungen hast du geweckt an eine Zeit, als die Menschen die Bäume als Heilige und Götter verehrten. Rituale feierten sie unter meiner Krone, Gebete sprachen sie bei ihren Zeremonien und Gold schenkten sie mir zum Dank für alles, was ich für sie tat. Und ich diente ihnen in Liebe.“ Wieder schwieg der Baumriese.
Ich hatte mich an seinen Stamm gelehnt, schaute in meine Gedanken versunken in seine riesige Krone und hätte nie geglaubt, dass mich dieses Wesen zu Tränen rühren könnte. Plötzlich bekam ich Schuldgefühle, weil ich als Holzfäller zum Tode so vieler seiner Genossen beigetragen hatte. Wieder fühlte ich, wie dieser Urweltbaum erschauerte. Offensichtlich hatte er meine Gedanken gespürt. Da fasste ich mir ein Herz und sprach zu ihm: „Verzeih, dass wir Menschen dir und deinen Genossen schon so viel Leid zugefügt haben.“ Plötzlich tropfte wie goldene Tränen Harz in meinen Schoß. „Oh Gott, der Baum weint. Was habe ich jetzt bloß angestellt?“ Das dachte ich bei mir und dann weinten wir gemeinsam. Schließlich vernahm ich aus der Krone das leise Raunen wie von Blättern, in denen ein leiser Wind säuselt: „Noch nie hat ein Mensch um mich geweint, schon gar nicht ein Mensch, der bereits die Axt an meine Wurzel gelegt hatte. Du sollst wissen, dass kein Gold der Erde so wertvoll ist wie das grüne Gold der Bäume, die aus meinem Herzen tief in meinem Stamm geboren sind. Sie können das gleiche, das ich schon immer für die Welt und alles Leben getan habe.“ Wieder schwieg der ewige Riese.
Ich aber trocknete meine Tränen, denn ich hatte eine Entscheidung getroffen. Aber darüber wollte ich noch mit dem Weltenbaum sprechen. So fasste ich mir ein Herz, umarmte seinen riesigen Stamm so gut es eben ging und sprach: „Ich habe mich entschlossen, nie mehr einen Baum zu töten. Ich werde mir eine andere Arbeit suchen und meine Familie wird es verstehen.“ Aber da unterbrach mich der Riese und mit weicher Stimme erwiderte er: „Ich habe im Überfluss des Lebens für reichlich Nachkommen gesorgt. Auch meine Kinder tun es. Wenn ihr den Gesetzen der Natur folgt und auf stete Nachkommenschaft achtet, niemals alles vernichtet, was euch Atem und Leben schenkt, so opfern sich gerne gar viele selbst. Denn dem Gesetz des Lebens ist das "Stirb und werde" heilig. Nur so kann im großen Reigen des Lebens alles friedlich und neben einander gedeihen.“ Wieder schwieg der Weltenbaum.
Golden glänzte seine Rinde im Licht einiger Sonnenstrahlen. Noch einmal streichelten meine Hände seine raue Hülle mit Schorf und Narben.“
 „Großvater, und was ist dann geschehen? Hat er dir noch mehr erzählt? Hast du vielleicht einen Auftrag von ihm erhalten? Ach, Großvater, bitte erzähle doch weiter! Dein Gesicht sagt doch, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist. Ja bitte, Großvater, erzähle doch fertig.“ Leise lächelnd setzt sich Großvater in seinem Sessel zurecht, dann nimmt er den Faden seiner Erzählung wieder auf.
„Während ich den Baumriesen wieder streichelte, sah ich zu meinen Füßen die Harztränen liegen. Ich stieß ein wenig mit dem Fuß daran, dann entdeckte ich, dass sie wie Glas geworden waren. Morgen wollte ich zu meinem Chef sagen: „Ich werde nicht länger für Sie arbeiten, weil nichts dafür getan wird, dass neue Bäume gepflanzt werden. Wir können nicht nur abholzen, wir müssen sogar viel wieder aufforsten. Wir brauchen das grüne Gold der Natur besonders für unsere Kinder und Enkel, damit sie überleben können. Mit Geld allein geht das nicht.“ Der Baum musste wieder meine Gedanken erraten haben, denn erneut erbebte er sanft. Dann hörte ich ihn murmeln: „Mein Sohn, du bist auf dem richtigen Weg. Nur du kannst deinen Chef überzeugen. Die goldenen Tränen, die ich vergossen habe, ich schenke sie dir zur Erinnerung.“ Noch einmal schimmerte sein Stamm wie pures Gold, als ich zum letzten Mal seine raue Rinde streichelte.
Am nächsten Tag stand ich wirklich vor meinem Chef und reichte meine Kündigung ein. Doch er nahm sie nicht an. Stattdessen schickte er mich zur Ausbildung, damit ich später die gesamten Wiederaufforstungsprojekte im In- und Ausland leiten konnte.“
 „Hast du die Harztränen noch?“ Da lacht der Großvater, deutet auf die Kette seiner Tochter und antwortet: „Seht, eure Mutter trägt die Harztränen als Schmuckstück immer um den Hals, denn sie hat jetzt meine Aufgaben übernommen.  Â
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Diese Geschichte ist meinem Büchlein ELDORADO - Gedanken zu den Kunstwerken der ORTUNG VII in Schwabach entnommen. Das Büchlein ist nur im BOD-Shop erhältlich.
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