Kapitel 4
Leeman starrte mich an. Vielleicht erwartete er eine Reaktion meinerseits, doch ich musste meine Gedanken erst einmal ordnen. Dieser kranke Typ am Telefon schien vor gar nichts zurück zu schrecken und ich war mir nicht sicher wie weit er gehen würde,um das zu bekommen, was er verlangte.
Ich wählte Linas Nummer, doch sie ging nicht ran. Vielleicht würde sie zurück rufen, wenn sie meinen Anruf auf dem Display sah.
Jon winkte mir von Weitem zu.
„Halten Sie die Stellung, Leeman, ich bin gleich wieder da!“ wies ich ihn an.
Leeman nickte. Eigentlich erhoffte ich mir mehr von ihm, aber anscheinend war seine Auffassung im Moment nicht die Beste. Lag vielleicht am Schock oder einfach an der Tatsache, dass er als erstes mit am Tatort war und die Kontrolle übernehmen musste.
Seit über dreißig Jahren war er im Dienst, doch wenn es darum ging, die Führung eines Falles zu übernehmen, drückte er sich immer. Das erklärte natürlich auch, warum er noch nicht zum Detective befördert wurde.
„Ryan konnte den Anruf nicht zurück verfolgen!“ sagte er mir, als ich an dem schwarzen Van ankam. Durch die offene Seitentür sah ich Ryan an seinem Laptop sitzen. Er sah kurz auf und nickte mir zu.
„Das hat er am Telefon schon gesagt!“
Jon runzelte die Stirn.
„Wer ist der Kerl?“
„Es sagt, er wäre Erin Dexter!!“
„Wie bitte? Sitzt der nicht im Knast?“
Ich massierte mit den Fingern meine Schläfen, denn ein leichter Kopfschmerz schien sich anzubahnen. Und die konnte ich nicht gebrauchen, nicht jetzt.
„Ryan, Sie haben die Zugangsdaten für das System, nicht wahr?“
„Ja, Detective. Was wollen Sie wissen?“
„Erin Dexter. Schauen Sie nach, was in seiner Akte steht.“
Ryan tippte den Namen ein und es dauerte ein paar Minuten, bis der Computer die Daten ausspuckte.
„Wenn dieser Kerl tatsächlich wieder auf freiem Fuß ist, haben wir ein echtes Problem!“
„Ja, aber dann haben wir wenigstens einen Namen zu unserem Kartenschreiber.“
„Hey warte mal, was willst du mir denn jetzt damit sagen? Dass dieser Mann da drin der gleiche ist, den wir suchen? Der dieses Mädchen umgebracht hat und dir seit über drei Monaten irgendwelche Drohungen zusteckt? Ich wusste es, Mason, ich wusste es schon, seit wir hier in diese scheiß Straße gebogen sind. Verdammt, das ist doch Wahnsinn.“
„Es hätte ein Zufall sein können, aber so ist es nicht. Dexter ist gefährlich und ich bin ehrlich gesagt sehr froh darüber, dass mein Sohn in Sicherheit ist!“
Jon stimmte mir zu.
„Hast du Lina schon erreicht?“ fragte er nach.
„Nein, noch nicht. Sie wird sicher zurück rufen!“
„Sehr ungewöhnlich, findest du nicht? Hat sie dir nicht extra aufgetragen, das du sie sofort anrufen sollst?“
„Ich bin drin!“ platzte Ryan dazwischen.
Ich beugte mich ein Stück nach vorn, um alles sehen zu können.
„Das gibt’s nicht!“ murmelte ich vor mich hin.
„Was hast du?“
„Ich würde sagen: Ein Problem! Das wir sehr schnell lösen müssen!“
Jon schaute mich erwartungsvoll an. Er hasste es, wenn ich nicht auf den Punkt kam.
„Du erinnerst dich an den Holly Allister Fall?“
„Die Kleine wurde umgebracht! Ja, sicher.“
Ich brauchte keine weiteren Worte, denn in den nächsten Sekunden ging Jon ein Licht auf. Das mochte ich an seiner Art. Er dachte immer mit.
„Erin Dexter bekam zehn Jahre für den Mord an der Kleinen. Jetzt sag mir bitte nicht, dass er sich dafür rächen will!?“
„Ganz falsch liegst du nicht. Er will, dass der Fall neu aufgerollt wird, weil er der Meinung ist...“
„... dass er es nicht wahr!“ vollendete Jon meinen Satz.
„Ja, so sieht es aus!“
„Die Beweise lagen damals doch klar auf der Hand. Ist dieser Typ noch bei Sinnen? Welches Gericht würde diesen Fall noch einmal aufnehmen? Das ist unmöglich!“
„Scheinbar weiß er etwas, das wir nicht wissen. Dieser Mensch ist mir nicht geheuer Jon.“
Mein Handy vibrierte.
„Jennings!“ meldete ich mich.
Stille am anderen Ende.
„Hallo?“
„Es ist an der Zeit, Abschied zu nehmen, Detective.“
Dexter.
„Was haben Sie vor?“
„Ich muss Sie ein wenig animieren. Sonst werden Sie meinen Anweisungen nicht folgen!“
Leichte Wut stieg in mir auf. Was hatte er nun schon wieder ausgeheckt?
„Ich hab Ihre Spielchen langsam satt, hören Sie? Glauben Sie denn, dass Sie mit ihren Drohungen irgendetwas erreichen?“
Stille.
„Hey, ich rede mit Ihnen, Arschloch!“
„Ich schätze, Sie haben noch knapp zwanzig Minuten, dann wird Lina ersticken. Es sei denn, es gelingt Ihnen, Sie zu retten! Was meinen Sie? Versuchen Sie es?“
„Was...!“
„Halten Sie den Mund, Jennings. Sie haben mich soeben sehr verärgert und ihre Worte haben mich tief getroffen. Ich bin kein schlechter Mensch, wirklich, ich will nur ein wenig Gerechtigkeit.
Und nun machen Sie sich auf den Weg zu Linas Haus. Bevor es zu spät ist.“
Er legte auf.
„Jon. Ich muss kurz weg. Warte hier auf mich.“
Jon merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?“
Doch seine Worte hörte ich schon gar nicht mehr. Ich stieg in meinen Wagen und fuhr los.
Ich brauchte gerade mal eine Viertelstunde bis zu Linas Haus. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit.
Ich parkte genau davor und stieg aus. Langsam zog ich die Waffe aus dem Halfter. Das Haus sah von außen ganz friedlich aus. Das konnte gut, aber auch schlecht sein.
Ich stieg die Treppen hinauf zur Veranda. So gut es eben ging, versuchte ich, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Meine Hand berührte den Türknauf und drehte ihn leicht nach links. Mit einem kurzen Knarren ging die Tür nach innen auf.
Ich hielt die Luft an. Vor mir auf dem Boden sah ich überall Blutflecken. An der Wand rechts von mir waren ebenfalls Spuren von Blut zu sehen. Ich schluckte kurz.
Mein Weg führte mich geradewegs in die Küche. Mit beiden Händen hielt ich die Waffe in der Hand.
Ich blieb im Türrahmen stehen und der Anblick, der sich mir bot, ließ mich auf die Knie sinken. In diesem Moment kam ich mir so hilflos vor. Ich musste mich übergeben. Auf beide Hände gestützt, versuchte ich, nicht komplett die Fassung zu verlieren. Tränen rannen mir übers Gesicht.
Dafür würde er büßen. Das war der einzige Gedanke, den ich hatte. Rache.