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Mittlerweile haben sich ihre Handlungen dem Zweck ihrer Absichten untergeordnet, die sich diametral unterschieden voneinander: Sie, des Abends, sorgt für den Essens- und Abendmahltisch, er, des Morgens, fürs Ab-, Auf- und Zusammenräumen. Sie will sich nicht weiter fortbewegen als dort, wo sie sind, er schneller weg als der Wind dorthin, wo nicht hier und der Süden ist. Immer nur in diese Himmelsrichtung, nach diesem Süden schlägt sein innerer Kompass aus und Magnetfeld ist ganz in diese Richtung induziert.
In Wahrheit ist er mit ihr in einem Stellungskrieg verfangen: drängt es ihn viele Kilometer weiter in den Süden hinunter zu gelangen, bremst sie so sehr entgegen, stemmt sich so sehr gegen ihn, tritt sie so sehr aufs Bremspedal, dass er nur mehr ein paar Kilometer weitergelangt, bis er wiederum zu Stehen und Erliegen kommt, wie ein sich vollgefressenes Tier mit zu schwerem vollgefressenem Bauch. Sie ist ihm das nichtverdaute Essen.
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Vierter Neunter - Delle – Camping-Platz, noch immer da, heute schon den dritten Tag. Sie überlegen, ob sie noch einen weiteren Tag hierblieben sollen oder via Schweiz zum Bodensee fahren.
Ihr Tenor: Bleiben wir doch noch einen Tag da!
Sein Tenor: Aua, meine Waden schmerzen so.
Sie: Das ist doch hier nicht automatisch mit Fahrradfahren verbunden.
Er: Was denn sonst? Mit Laufen etwa?
Sie: Laufen, schwimmen, gehen oder gar nichts tun.
Er: Faulenzen heißt das.
Pause
Er: In die Stadt fahren wollen, schwimmen gehen oder grillen wir halt?
Er: Womit wir den Tag herumgebracht haben.
Sie beugt sich tief in die Landkarte, um den Weg nach und durch die Schweiz auszukundschaften.
Er: Was spricht für den Bodensee?
Sie: Um heute noch an den Bodensee zu kommen, vertun wir einen Tag.
Er: Das spricht dagegen?
Sie: Genau! Allerdings, wenn wir morgen fahren, haben wir das gleiche Problem. - Also, hier zu bleiben bedeutet Ruhe (ein Flugzeug fliegt gerade über sie hinweg) und Erholung (aua, schreit er auf vor Wadenschmerzen).
Er: Aber du hast doch Kreuzschmerzen?
Sie: Ich? Nein!
Er: Dann ist ja alles Okay!
Sie: Ja, möchtest Du am Bodensee noch mal übernachten, am Campingplatz?
Er überlegt: Jedenfalls besser als in einem Hotel!
Sie: Das machen wir dann halt. Heute bleiben wir hier. Morgen fahren wir durch die Schweiz zum Bodensee, übernachten dort und hauen ab, bevor es Wochenende wird.
Er: Aber ich habe heute Nacht wirklich schlecht geschlafen.
Sie: Hast zu wenig Wein getrunken.
Er: Ha, ha, ha.
Sie: Aber vorher, den Tag zuvor, hast doch sehr gut geschlafen.
Er: Ja, ja.
Sie: Na also!
Er: Aber dass ich heute Nacht schlecht geschlafen habe, deutet darauf hin, dass ich diesen Platz schon wieder über habe bzw. mich die Ruhe des Platzes, die Monotonie der Landschaft und so weiter nicht mehr gut tut. Meine Seele verlang nach Abwechslung und Bewegung.
Sie: ... gefahren werden, bisschen durch die Gegend gefahren werden und bisschen umschauen.
Er: Meinst Du das jetzt ironisch?
Sie: Kannst Du Dir jetzt aussuchen.
Er sagt gar nichts dazu.
Pause.
Sie schnauft vernehmlich. Er schaut auf, da er erwartet, dass sie jetzt etwas sagt. Sie beugt sich sogleich wieder über ihre Karte.
Pause. Schweigen beiderseits.
Sie gähnt laut und vernehmlich, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Offenbar fühlt sie sich hier schon wohl und ihre Seele hat sich auf diesen Platz eingestellt.
Er: Was bedeutet Dir dieser Platz?
Sie: Ruhe, keine Nachbarn, kein Kindergeschrei, einen Tisch, sogar Lampe zum Lesen abends. Zelt kann trocknen, Matratzen können ausgelegt werden und das allerschönste: Igel-Besuch am Abend, was will man mehr?
Er: Hm (mehr zustimmend als ablehnend. Das Argument mit dem Igel hat am meisten gezogen.) Er ist sprachlos.
Sie: Bevor wir unsere letzten Kröten zusammenkratzen müssen, um zu bezahlen...
Er: Da geht aber der Schuss nach hinten los!
Sie: ...könnten wir dieses Geld für die Heimfahrt verwenden.
Sie steht auf, kommt zu ihm her und umarmt ihn, massiert dann seinen Hals und geschundenen Nacken und flötet:: Du brauchst doch auch ein bisschen Erholen. Dir gefällt es doch auch hier.
Er: Du könntest doch einstweilen die Matratzen zum Trocknen herauslegen – was übrigens weder für das eine, noch das andere spricht. Das muss so oder so getan werden.
Plötzlich kommt aus der nahen Ferne ein gleichmäßiges Geratter.
Sie: Jetzt kommt gleich wieder der da mit seinem Rasenmäher.
Sie lauscht intensiver.
Sie: In der Tat, wie gestern stundenlang, so auch heute ist zu erwarten, dass der Vormittag mit Gedröhne und Gerattere erfüllt sein wird.
Sie vertieft sich erst einmal in das Tippen ihres Handys, um eine ihrer Freundinnen eine SMS zu schreiben.
Er blättert in seinem Dictonary für Französisch herum, bis ihm kommt, dass er doch die Bettwäsche aus dem Zelt zum Trocknen herauslegen könnte. Die Sonne scheint schon heiß herab an manchen Stellen des Zeltplatzes. Als er dies getan hat, sagt er, sie sollen doch auch die Überplane des Zeltes auslegen, weil die am feuchtesten von allen Teilen sei.
Erschrocken aufblickend, sagt sie: Wirklich, jetzt doch losfahren?!
Er ihr Gesicht zwischen seine Hände begütigend streichelnd: Ja, du musst verstehen, ich habe halt so schlecht geschlafen und außerdem, was kann ich heute schon tun mit meinen Wadenkrämpfen undsoweiter?
Sie schaut ratlos auf die Karte: Aber wohin sollen wir uns wenden?
Er weiß im ersten Moment keine Antwort.
Sie: Und dann das andauernde Zeltab- und -aufbauen. Schau, das müssen wir später heute nicht machen, wenn wir hierbleiben.
Er: Ich weiß.
Sie: Aber lass mich erst einmal meine Nachricht zuende schreiben.
Sie beugt sich wieder über das Display des Handys.
Unterdessen ist er auf die raffinierte Idee gekommen, das herumstehende Geschirr in die Spülschüssel wegzuräumen und zu platzieren, was sie plötzlich bemerkt und mit der Bemerkung quittiert: Du willst mir bloß den Aufbruch vermiesen, nicht wahr?
Er lacht ertappt dazu.
Nach zehn Minuten kommt sie überraschend mit der Frage: Was machen wir jetzt? Haben wir uns entschieden? Obwohl für ihn die Entscheidung vor einer halben Stunde doch schon gefällt worden war, zu fahren. Er muss darüber lachen, lenkt ab, indem er sich ein paar Minuten zum Schreiben erbittet.
Er: Moment, gleich.
Er ergreift den Stift und notiert sich dies hier.