Kurzgeschichte
The old voice

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"The old voice"
Veröffentlicht am 10. September 2013, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Though much is taken, much abides; and though. We are not now that strength which in old days moved earth and heaven, that which we are, we are; one equal temper of heroic hearts, made weak by time and fate, but strong in will to strive, to seek, to find, and not to yield. ~ Alfred Tennyson
The old voice

The old voice

 

30. Um mich herum warten die anderen Passagiere. Sie warten in stiller Übereinkunft. Ich bin mir sicher, dass wir nicht auf dasselbe warten. Zu sicher. 29. 28. 27. 26. Ein kurzer, scheuer Blick zur Bahnhofsuhr. 25. 24. 23. 22. 21. 20. 19. Meine Schuhe werden einer gründlichen Musterung unterzogen. 18. 17. 16. 15. Als Kind habe ich immer bei 30 angefangen und dann runter gezählt. Und wenn es dann immer noch nicht soweit war, hab ich einfach von vorne angefangen. 14. 13. 12.

„Linda!“ Da ist diese Stimme, die nicht loslassen will. Das würde sie nie. Ich weiß, wer es ist. Nur einer spricht meinen Namen so aus. So, als wäre er etwas Besonderes - etwas, das sich von den mit Farben plakatierten Gesichtern abhebt. Ich entscheide, mich umzudrehen.

Mit offenen Augen blicke ich durch ihn hindurch auf einen kiffenden Schönling.

 

Pechschwarze, voluminöse Haare, die meine Aufmerksamkeit  auf sich ziehen. Der dichte Qualm lässt die schmalen Lippen nur noch sinnlicher wirken und gibt seinem Äußeren einen Tick Verruchtheit. Ein Zungenpiercing blitzt auf. Mit viel Mühe reiße ich mich von dem Anblick los, zwinge mir einen desinteressierten Ausdruck auf und sehe auf die schlaksige Gestalt, die sich vor mir aufgebaut hat. „Sven“, erwidere ich knapp.

So viele Bilder, intensive Momente und Erinnerungen, die mit seinem Namen aufblühen. An meiner Haltung ändert sich trotzdem nichts. Kühl mustere ich ihn. Auch wenn er mich beträchtlich überragt - es ist immer noch derselbe kleine Sven, der mir im Unterricht die Stifte geklaut hat. Der leichtgläubige Junge, der mir eine Rose zum Valentinstag geschenkt - oder mir ein Gedicht zum Geburtstag geschrieben hat.

 

 

 

Sven bleibt Sven, auch wenn sein kindlicher Speck mit den Pickeln weg ist. Ich bin vier Tage älter als er und ich schwöre, dass man das auch sieht. Ich erinnere mich an „Kussfangerles“, daran, dass ich immer flinker gewesen bin. Dass ich ihn immer abgewiesen habe.

„Linda. Was auch immer du vorhast“ Seine Augen treffen hart und ehrlich auf die meinen. „Lass es sein.“ Ich schlucke. „Bitte“, bekräftigt er. Meine Finger streifen immer wieder über meine Jeans, reiben so lange, bis sie rot werden. Er kennt mich gut genug um zu wissen, dass ich an mir selbst zweifle, an der Existenz Gottes und dem Sinn meines Lebens, und schaut mich mitleidsvoll an. Fragend berührt seine Hand die meine, sanft, als wolle er mich nicht erschrecken, mich nur um Einlass bitten. Ich runzle die Stirn und ziehe sie zornig weg.

 

Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen von früher, das er trösten kann. Oder das er beeindruckt. Er wird mir nicht helfen können, wie er es so oft getan hat. Meine Schuld bei ihm kann ich nicht mehr begleichen. Ich will es nicht. Nicht einmal für ein belustigtes Grinsen verantwortlich sein.

Sven ist schon immer Teil meines Lebens gewesen, gestehe ich mir ein.

Egal, als was er sich verkleidet oder welche Rolle er gewählt hat. Sven war immer da. Ich verstecke mich hinter dem Vorhang brauner Haare, der mir dick ins Gesicht fällt. Ich brauche Zeit für mich.

Ich will nicht, dass er mir nah ist. Ich kann ihn atmen. Ich sehe seine Hakennase vor mir, die volle Mundpartie. Ich registriere, dass sich Zug um Zug auf seiner Miene härter abzeichnet. Wie die blauen Augen um die Wette funkeln.

 

 

„Sven“, nuschle ich, von dem Rauschen einer abfahrenden Bahn wieder zur Besinnung gebracht, „Sven, aus dieser Scheiße komme ich nicht mehr raus. Geh weg. Geh!“ Er soll verschwinden, er darf mir nicht noch mehr Gründe geben, hierzubleiben. Allmählich werde ich müde. Tiefe Trägheit versteift meinen Körper und plötzlich nehme ich alles wie durch ein Milchglas wahr.

Es tut weh, schlecht zu sehen. Zu hören, wie die Leute angeregt streiten oder leise tuscheln, ohne ihre Mimik dabei zu beobachten. Ich versetze mich in diese Situation hinein: Wie viele sich hier auf einem Haufen tummeln und es für alle immer noch dasselbe ist. Eine Abfolge von Bildern, mal schneller, mal langsamer. Meistens hektisch, begleitet von einem surrenden Ticken. Und doch herrscht in jedem Kopf ein eigener Rhythmus. Faszinierende Sache.

 

 

Mit einem perfekten, aufgezwungenen Lächeln wende ich mich von ihm ab und betrachte die Turmuhr. Mein Blick fixiert sich auf den Sekundenzeiger. Er ist mein Anhaltspunkt.

Farbige Tüten, abgelaufene Plakate, Dosen, die sich in urinverschmutzten Ecken stapeln. Der Geruch frischer Brezeln weht zu mir herüber und sticht klein, aber duftend aus der grauen Kulisse heraus.

Ich denke an Mum und schäme mich dafür, dass meine Erinnerungen nachlassen. Sie ist klein und schmal gewesen und hat immer gestrahlt. Pfefferminzaugen, die mit Humor und Energie in die Welt geguckt haben. Die Blicke der Männer hafteten immer länger an ihr, als Papa lieb war. Wir haben eine Sehnsucht geteilt und sie hat mir versprochen, dass wir, sobald ich 18 bin, in den Wilden Westen fahren.

 

Jetzt bin ich neunzehn und sie war gestorben, noch bevor ich zum Teenager wurde. Ein bitterer Geschmack setzt sich auf meiner Zunge fest. Ich habe viel gesehen und mehr gefühlt, als in mich passt. Ich habe gelitten, wie ein Schwein, als Papa gelitten hat. Ich habe mich mit ihm gefreut, als er neu heiratete. Und ich habe mich verliebt. Einmal und endgültig.

Langsam erwache ich aus meiner Starre. Mit Tränen in den Augen flüstere ich in die Luft: „Irgendwann hab ich mich getraut. Ich hab mich getraut ihm zu sagen, was ich für ihn fühle!“ Ich verstumme. „Und er - dieses Arschloch - hat mich eiskalt abserviert.“ Ich lasse den gefauchten Satz in der Luft hängen. Mit feindseligem Blick wende ich mich an Sven: „Er kriegt jede Sexbombe, die er will. Jede!-", wiederhole ich, um meinen Worten Ausdruck zu verleihen. „Und ich verstehe ihn sogar“, murmle ich wieder zu mir selbst.

 

Ich hänge an ihm wie ein Witwer, der jede Nacht mit dem Bild seiner verstorbenen Liebe einschläft und jeden Morgen mit dem Gedanken an diese erwacht. Eine große Hand packt mich am Kinn und ich werde unsanft dazu gezwungen, in Svens Gesicht aufzuschauen. „Linda, jemand wie er würde dich gar nicht schätzen können, so, wie du es verdienst!“

Seine Stimme wird mit jedem Wort lauter und ich hoffe, dass sich nicht allzu viele Leute zu uns umdrehen. „Pscht!“ Dabei presse ich meinen Zeigefinger auf seinen Mund. „Halt‘ die Klappe.“ Seine rechte Augenbraue schießt nach oben und ich mache mich von seiner Hand los. 

Mein Blick wandert zur Abfahrtstafel. In drei Minuten fährt der nächste Zug ein.

„Wohin willst du?“, frage ich ihn. „Hm?“, kommt es verständnislos zurück.

 

„Na, du stehst hier nicht umsonst rum, oder? Irgendwohin wirst du wohl wollen, wenn du auf einem Bahnsteig stehst.“
„Weg“, antwortet er schließlich, nach kurzem Zögern. „Ach so. Natürlich. Weil dich deine Familie immer noch nervt, hab ich recht?“  Verachtung, die sich in mir angestaut hat, bahnt sich einen Weg nach außen. „So in der Art, ja“, erwidert er knapp. Ich lache trocken. „Aber ansonsten geht’s dir gut, oder?“, vergewissere ich mich bei ihm. „Ja.“

Ja. In Gedanken zerlege ich die Silbe, versuche sie zu verdrehen -  und etwas anderes mit ihr anzustellen. Ja. Ja, ihm geht es gut. Ja, eine Antwort um andere zu umgehen. Ja kann so vieles bedeuten. Dabei belasse ich's.

Es gibt interessantere Dinge zu hinterfragen, zum Beispiel Svens Mütze, die einen Großteil seiner dunkelblonden Haare verdeckt.

 

Wieso ist sie in einem so aggressiven Rot? Das Rot perlt in verdünnter Version auf mich ab und verleiht mir einen natürlicheren Teint als die fahle Blässe, die mich seit Jahren schon verfolgt.   

Ich nicke, nicke für mich und für Sven - für uns beide - und merke, dass mit der aufkommenden Wehe auch der letzte Funken Wut erloschen ist.

Wider Erwarten ist da keine Trauer. Es ist ein Raum, ein großer, leerer Raum.  Ohne Licht, ohne Schatten. Mit groben Linien skizziert. Das war’s.

Ich glaube, meine Augen  sehen genauso dumpf aus, wie ich mich fühle. Nichts ist mehr da. Nicht der Wunsch, mich an seiner Schulter auszuweinen und zu sagen, dass alles gut geworden ist. Keine Narben, die es sich aufzureißen lohnen würde. Ein Schmerz, der längst keiner mehr ist.

 

 

 

Ein gleichmäßiges Rattern ertönt aus der Ferne. Ich beschließe, wieder mit dem Zählen anzufangen.

 30. 29. 28. 27. 26. Mein Kopf wippt im Takt. 25. 24. Ein müdes Schnaufen. 23. Auf Svens Stirn bilden sich unschöne Falten. 22. 21. 20.

19. 18. „Es geht dir gut“, raune ich. 17. 16. 15. 14. 13. 12. 11. 10.

Das Rattern wird immer lauter. 9. 8. 7. Ich atme tief aus. 6. Der Umriss eines langen Zuges nimmt Gestalt an. 5. 4. Neben mir sind Svens Augen eisern auf mich gerichtet; ich grüble, ob die Kristalle in ihnen vor Kälte erstarrt sind. 3. Gleich wird er da sein, gleich wird eine Ewigkeit zu Ende gehen.

2. Noch ein letztes Mal durchströmt mich Adrenalin, ein aufgeregtes Zucken erfüllt meinen schlaffen Körper.

 1.

 

 

 

Abrupt reiße ich mich nach vorne und springe. Es wird schneller als Einschlafen sein. Meine Fußballen berühren zärtlich die schmalen Schienen unter mir. Ich vernehme  bereits das kreischende Quietschen, male mir die kommenden Albträume des Lokführers aus. Ich stelle mir ein verzerrtes Gesicht vor, das hässlich und wunderschön zugleich ist. 

„Linda!“ Da ist diese Stimme, die nicht loslassen will. Das würde sie nie. Ein großer Ruck, grobes Schubsen und ein zusätzlicher Tritt. Alles in mir dreht und windet sich. Ich blicke verwirrt auf, verstehe nicht, was passiert ist. Was meinem felsenfesten Plan im Weg stand.

 „Sven“, schreit alles in mir, doch meinen Lippen entflieht kein einziger Laut. Ich möchte „Ich liebe dich“ rufen, es kribbelt in meinen Fingern - doch das wäre gelogen.

 

 

Er würde es wissen.

 Ich kann es nicht fassen, dass er an meiner Stelle dort liegt und sterben muss. Wieso hat er mich auf die parallel verlaufenden Schienen geschubst? Damit ich lebe. Weiterleben kann, ergänzt eine Stimme in mir.

Ein undeutliches „Linda“ sagt es noch, das lächelnde Gesicht. 0, zähle ich schluckend zu Ende und starre auf ihn, als sähe ich ihn zum ersten Mal.

Seine Lider flattern fragend - ich möchte den Kopf schütteln, abwehrend, denn es ist nichts. Glaube ich. Doch der Moment ist vorbei, ehe ich mir Gedanken über dieses fremdartige Gefühl in mir machen könnte. Laute Stimmen nähern sich.

Dann ist alles still.

 

Nur ein Mund hat sich verzogen, als wolle er noch etwas sagen; doch der ist schon in eine tiefe Dunkelheit geglitten. Sven bedeutet Junge, rufe ich mir ins Gedächtnis. Und anstatt loszuheulen oder über Ungerechtigkeit zu philosophieren, frage ich mich unwillkürlich, ob es tatsächlich die Worte eines Jungen gewesen wären.

 

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gedichteengel
Though much is taken, much abides; and though. We are not now that strength which in old days moved earth and heaven, that which we are, we are; one equal temper of heroic hearts, made weak by time and fate, but strong in will to strive, to seek, to find, and not to yield.

~ Alfred Tennyson

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Sandelholz Eine herrausragend gute Erzählung liebe gedichteengel,
danke fürs teilen,
San.
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