Confinium - Grenzen entstehen, Grenzen werden überschritten © by ORD EP 2013 Teil 1 zu lesen unter: http://www.buch-schreiben.net/kurzgeschichte/lesen2.php?story=95954
Heimweh
Geschafft! Die DNS ist in einen Zellkern injiziert und in den Brutschrank verfrachtet. Nach Tagen der Anspannung fühle ich mich erstmals wieder unbeschwert, aber auch erschöpft. Draußen, vor der Schleuse des Schiffes blendet mich das Tageslicht. Die Veränderungen auf dem Planeten sind überwältigend.
Waren es wirklich nur Tage gewesen, die ich im Labor verbrachte? Ich bin froh darüber, mich endlich vom Schreibtisch losgerissen zu haben. In vollen Zügen ziehe ich die frische Luft durch meine Nase. Der Weg durch die Schneise erscheint mir ganz neu und aufregend, wie am Anfang, als ich noch allein hier war. Am Bach wartet Logos auf mich. Er scheint irgendwie traurig zu sein, obwohl er sich doch eigentlich darüber freuen sollte, dass ich ihm endlich Gesellschaft leiste. Er scheint meine Gedanken zu erraten: „Außer uns beiden ist kein Leben hier...", sagt er jetzt tonlos. Er ist einsam! Und ich weiß im Moment nicht, wie ich ihn trösten kann.
Ich bin ja selbst niedergeschlagen von den ewigen Misserfolgen im Labor. Und ob dieser letzte Versuch nun gelingt, der im Brutofen vor sich hin schmort, ist auch sehr ungewiss. Auf jeden Fall vermeide ich es,
damit bei meinem Sohn irgendwelche Hoffnungen wecken zu wollen. Ich versuche, ihn aufzumuntern, indem ich die vielen Einzelheiten bewundere, die er in meiner Abwesenheit geschaffen hat. Aber Logos reagiert gar nicht darauf.
Und allmählich fällt auch mir auf, dass alles, was er geschaffen hat, alles, was ich geschaffen habe und alles, was schon vor meiner Ankunft auf diesem Planeten gewesen war, leblos und tot blieb. Darüber können die Farben und selbst das Plätschern des Wassers nicht hinwegtäuschen. Es fehlen das Rauschen der Blätter an den Bäumen und Vogelgezwitscher. Kein Insektengebrumm, kein Froschquaken oder Grillengezirpe durchbricht das monotone Blubbern und Rauschen zu unseren Füßen.
Und etwas noch viel bedrückenderes wird mir in diesem Moment bewusst: mein Sohn Logos hat dies alles noch nie erlebt. Er kennt andere lebende Wesen als mich nur aus den Bildern und Filmen der Bordbibliothek oder meinen Erzählungen. Er hat nicht einmal eine Mutter, die ihn tröstend in ihre Arme nehmen könnte. Und sein Vater sitzt tagelang im Labor herum,
ist nicht ansprechbar und am Ende kommt doch nichts dabei heraus. Zum ersten Mal seit meinem überstürzten Aufbruch zweifle ich an der Richtigkeit der Entscheidung. Ich denke sogar kurzzeitig über die Rückkehr in meine alte Heimat nach.
Logos reißt mich aus meinen Grübeleien: „Wie ist es auf der Erde, am Abend, wenn die Sonne sinkt?"Ein Spaziergang am Meer fällt mir ein. Ich höre wieder die Wellen gegen die Felsen klatschen. Möwen kreischen über mir und blutrot glitzert das Wasser - dort, wo die Sonne den Horizont berührt. Violette Wolken ziehen über den Himmel. Es wird langsam kühl und ich schließe den Reißverschluss meiner Thermojacke. Möwen kreisen über dem Wasser und ab und an lässt sich eine von ihnen wie ein Stein ins Wasser fallen, um mit einem zappelnden Fisch im Schnabel wieder zu entschwinden. So sind die Abende auf der Erde. Hier ist alles anders. Die Temperaturen sind ausgeglichener und die Sonnenuntergänge jeden Tag gleich. Es gibt keine violetten Wolken und keinen Ozean mit Ebbe und Flut. Es gibt nicht einmal Apfelbäume. Am Besten wird es wirklich sein, wir packen unsere Sachen und fliegen heim. „Was hälts du davon Logos, wenn wir zur Erde fliegen?", frage ich meinen Sohn? Überrascht sieht er mich an und schüttelt dann langsam seinen Kopf.
„Nein, Vater, so habe ich das nicht gemeint. Ich wollte dir bloß sagen, was hier noch fehlt. Du hast schon eine tolle Idee, aber wir sollten sie jetzt auch verwirklichen. Lass uns einen Plan für die Gestaltung dieser Welt machen." Nun war es an mir, ihn verdutzt anzuschauen. Schon lange hatten wir nicht mehr so vertraut miteinander gesprochen. In der letzten Zeit war es oft bei allgemeinen Floskeln über das Essen oder das stets gleichbleibende Wetter geblieben. Das sollte sich nun grundlegend ändern! Gemeinsam mit Logos gehe ich zum Schiff zurück. Ich habe neue Energie getankt, fühle mich wieder munter und voller Tatendrang. Auch mein Sohn sieht nicht mehr so traurig aus und überholt mich kurz vor der Schleuse mit energischen Schritten. In der Kombüse räumen wir den großen Esstisch ab, auf dem sich noch das Geschirr der letzten Mahlzeit türmt. Erstaunt verfolge ich dann, wie zielsicher Logos direkt auf die Tischplatte eine Landkarte unseres Planeten zeichnet. Alles ist haargenau vermerkt, von den blauweißen Bergen im Westen bis zum Fluss, der sich östlich unserer Oase in einer geschwungenen Linie darstellte. Selbst meine Schneise und den gepolsterten Stein hat Logos nicht vergessen. Logos zeichnet und zeichnet. Immer mehr Einzelheiten erscheinen auf unserem Küchentisch.
Dinge, die ich schon längst nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte und Gegenstände, die ich noch nie gesehen habe, weil Logos sie erst in den Tagen meiner Laborarbeit neu schuf. Dann gerät mein Sohn ins Schwärmen. Ich merke, dass er schon lange diese Ideen entwickelt und mit sich herum getragen haben muss. Er hat wohl die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gewartet, mit mir darüber zu reden. Bestürzt mache ich mir Vorwürfe, weil ich das nicht schon früher bemerkt hatte. Aber es ist noch nicht zu spät und in Zukunft will ich auf jeden Fall besser auf meinen Logos aufpassen.
Aus dem Labor dringt ein gedämpftes Kling-klong herüber. Fast hätte ich vergessen, dass dort im Brutschrank noch eine Zellkultur bearbeitet wird. Nun zeigt das akustische Signal den erfolgreichen Abschluss der Zucht an. Einen kurzen Moment lang starren Logos und ich uns erstaunt an. Dann drängen wir beide gleichzeitig durch die engen Flure und lachen übermütig, als wir uns im Schott zum Steuerraum ineinander verkeilen. Im Brutschrank lächelt uns das rosige Gesicht eines winzigen Geschöpfes entgegen.
Immer wieder bin ich gerührt, wenn ich die Tür des Brutschrankes öffne: Es ist wie eine Geburt.
Neues Leben wird ans Tageslicht geholt. Und ich habe dieses Leben geschaffen! Es ist sozusagen ein Kind von mir. Bei Logos traf dies ja schon deshab zu, weil die genetische Substanz meine eigene war. Jetzt war das neue Lebewesen mit allen seinen Eigenschaften und seiner körperlichen Konstitution so entstanden, weil ich es so geplant und entwickelt hatte. Stolz nehme ich ihn in den Arm. Es ist ein Junge und er lebt! Endlich! Ich habe es geschafft. Nach meinen Plänen ist ein autonomes lebensfähiges Wesen entstanden. Stolz reiche ich den neuen Bewohner unserer Welt an Logos weiter. Er ist ja wohl so etwas wie ein großer Bruder für unseren Neuankömmling.
Immer wieder geht mir nur ein Wort durch den Kopf: Er lebt! So soll sein Name sein: „LIVED". So, wie ich es schon bei Logos erlebt habe, wächst auch mein zweiter Sohn rasch heran und entwickelt beachtliche Fähigkeiten. Zuweilen beobachte ich Begabungen, von denen ich neidlos weder bei Logos noch mir selbst etwas wahrnehme. Lived kann zum Beispiel spielend leicht andere nachahmen. Er ist in der Lage, seine Mimik, Gestik und sogar das Äußere von einem Moment zum Anderen zu verändern. Er ist äußerst willensstark. Das hatte ich ja schon am gentischen Grundmaterial erkannt. Aber in der Realität ist es
noch wesentlich beeindruckender. Wie sein Bruder betrachtet auch Lived den Planeten als den seinen.
Auch er streift tagelang durch die Täler und kehrt nur zum Schiff zurück, wenn ihn der Hunger allzusehr plagt. Angst muss ich mir um die beiden keine machen. Wer soll sie bedrohen in dieser friedlichen, leblosen Welt? Sicher, in der Zwischenzeit haben wir einige Gräser gezüchtet und auf dem Kontinent angesiedelt. Sogar eine Baumzüchtung ist mir gelungen, dessen Früchte an Äpfel erinnern. Die Bäume wachsen am Bachufer und ich erfreue mich an ihnen, wenn die Jungen mal wieder unterwegs sind. An manchen Abenden sitzen wir um den großen Tisch in der Kombüse und spielen Halma. Ein wunderbares Spiel, bei dem man nur gewinnen kann, wenn man mit den anderen Spielern in gewisser Weise kooperiert. Darin ist Logos einfach unschlagbar. Oft aber erzürnt gerade dieser Umstand meinen jüngeren Sohn.
LIVED
Eines Abends geschieht dann das Unausweichliche: Wieder einmal hat Logos die Halmapartie gewonnen. Ausgelassen bedankt er sich bei uns für die Mithilfe. Da springt Lived auf, wuchtet mit unbeschreiblicher Kraft den Tisch aus seiner Halterung und schleudert ihn durch den Raum. Logos und ich sind gleichermaßen erschrocken. So etwas haben wir noch nie erlebt. Ganz hinten in meinem Bewusstsein dämmert mir, dass dies nur ein Beginn von unvorstellbaren Geschehnissen sei. Und wirklich, von diesem Tage an ist in unserem Miteinander nichts mehr so, wie es vorher war. Lived kapselt sich ab, wird störrisch und eigensinnig. Logos dagegen schließt sich um so fester an mich an. Die beiden Brüder verhalten sich zueinander wie Feuer und Wasser. Bald ist es unzumutbar, beide in einem Raum miteinander zu lassen. Das geht nie ohne gefährliche Auseinandersetzungen ab.
Irgendwie tut Lived mir sogar leid, denn ich empfinde, dass er in seinem Starrsinn hilflos feststeckt. Aber immer wieder versperrt er sich all meinen Versuchen, ihn sanft zu uns zurück zu holen. Immer ausgedehnter werden seine Expeditionen durch die Täler unserer kleinen Welt. Aus Ästen und Gräsern hat er sich eine
Art Tragegestell gebaut, mit dessen Hilfe er regelrecht die Vorratslager in der Kombüse plündert. Dann verschwindet er wochenlang und weder Logos noch ich weiß, wo er sich in dieser Zeit herumtreibt, oder womit er sich beschäftigt.
Allmählich gewöhnen wir uns an diesen Zustand. Wir sind wieder allein und bis auf die gelegentlichen Besuche von Lived ist es friedlich wie vor dem denkwürdigen Halmaspiel. Inzwischen haben wir uns gemeinschaftlich an die Züchtung von kleineren Tieren herangewagt. Und neidlos muss ich anerkennen, dass Logos auch darin ein wahrer Meister ist. Wofür ich trotz jahrelanger Studien und reichhaltiger Erfahrungen aus dem heimatlichen Institut mehrere Versuche benötige, das schafft mein Sohn scheinbar spielerisch auf Anhieb. Die niedlichen Springfische zum Beispiel: sie schillern in allen Regenbogenfarben und fächeln mit den Flossen klitzekleine Luftbläschen an die Oberfläche des Wassers. Extra für dieses imposante Schauspiel haben wir einen hübschen Teich angelegt, in dem die Fische munter plantschen. Endlich ist die Eintönigkeit durchbrochen. Wenn wir nun nach getaner Arbeit auf unserem Stein sitzen, dann hören wir das sanfte Rascheln der Blätter im Abendwind.
Zu unseren Füßen plätschern die Fische im Teich und ab und zu tschilpt ein kleiner Vogel im hohen Gras am Bachufer. Diese Züchtung ist übrigens mir gelungen, auch wenn die Stimme etwas feiner hätte sein können. Aber im Großen und Ganzen ist das Vögelchen gut geraten. Hin und wieder erzähle ich meinem Sohn vom Leben auf der Erde. Interessiert fragt er danach, was mich damals bewog, hierher zu kommen. Darüber muss ich lange nachdenken. In dieses Nachdenken hinein plautzt Lived mit ungestümen Schritten. „Was redest du nur für einen Müll, alter Mann!"
Mit funkelnden Augen bleibt er vor mir stehen und giftet mich an:"Belaste uns nicht ständig mit diesen Lügengeschichten von einer anderen Welt! Es ist nicht auszuhalten mit euch. Seht euch doch nur mal an, wie ihr hier hockt - Was ist das hier schon gegen all die großartigen Dinge, die ich in der Zwischenzeit auf dem Planeten geschafft habe. Seht, dort hinten, einen Vulkan habe ich ausbrechen lassen. Das ist Energie!" Jetzt bemerke ich auch am Horizont den feinen Rauchschleier. „Ich sehe, auch du bist begabt, mein Sohn.", will ich ihn loben. „Paperlapap, begabt. Es war ein Kinderspiel." Irgendwie konnte ich nicht an ihn heran kommen.
Ständig wich er mir aus. Logos war inzwischen ganz still geworden. Er wusste, dass jedes Wort von ihm die Spannung noch weiter treiben würde. So versuche ich es noch einmal: „Weißt du, Lived, dies alles hier habe ich geschaffen. Gemeinsam mit deinem Bruder Logos. Auch, wenn es nicht so gewaltig erscheint, wie dein Vulkan, braucht es doch eine Menge Phantasie und Geschick. Sieh zum Beispiel diese niedlichen Fische. Sind sie nicht wunderschön?"
„Sind sie nicht wunderschööön?", äfft Lived mich nach:"Sind sie nicht wunderwunderschön? Sind sie nicht! Ihr werdet sehen, was wunderschön ist! Ich verspreche es euch!" Damit verschwindet er in Richtung Schiff und holt sich die übliche Ration unserer Vorräte.
Eine Weile hören wir ihn im Innern des Schiffes poltern und dann stiefelt er mir Riesenschritten am Bach entlang davon. Dabei stößt er immer wieder kräftig mit dem Fuß gegen die Baumstämme der Bäumchen, dass sie bedrohlich wanken und knacken. Einige Tage nach diesem unschönen Zwischenfall beobachten wir etwas ganz Eigenartiges. Einer der Singvögel stürzt wie ein Stein vom Himmel geradewegs in den Teich hinein. Im ersten Moment denken wir sogar, es sei ein Stein
gewesen, aber wer sollte hier mit Steinen werfen?
Dann, im nächsten Augenblick taucht der Vogel wieder auf: diesmal mit einem der Springfische im Schnabel. Logos ist bestürzt. Für ihn ist so etwas unvorstellbar. Er hat ja noch nie eine jagende Möwe beobachtet. Aber auch ich bin ratlos. Was sollte das denn? Das war doch im genetischen Programm gar nicht vorgesehen! Sorgfältig haben wir bei all unseren Schöpfungen darauf geachtet, dass nur Pflanzenfressende Tiere entstehen. Fassungslos starren wir dem flügelschlagenden Vogel hinterher.
„Ist er nicht wunderschön?" Wie ein Peitschenhieb hallt diese Frage aus dem Ufergras zu uns herüber. Lived! Er hat seine Hände im Spiel! Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Aber wie? Wie hat erdas angestellt? „Es war ein Kinderspiel für mich!" Scheinbar kann Lived inzwischen schon meine Gedanken lesen. Er bringt meine ganze Welt durcheinander! „Du bist unmöglich!" Das ist das Einzige, was ich auf dieses unfassbare Verhalten im Moment erwidern kann. „Du bist ein Durcheinanderbringer! Du sollst nicht mehr LIVED heißen, denn das Leben hast du zerstört. Von nun an nennen wir dich Durcheinanderbringer! DEVIL!" Darüber lacht mein Sohn lauthals los, dass es weithin
durch unser Tal hallt. Es ist ein schauriges Lachen. Dieses Lachen soll ich von nun an öfter hören. Mal direkt hinter mir, dann wieder fern als Echo von den blauweißen Bergen her. Und immer verbindet sich mit diesem Lachen der Gedanke an eine neue widerliche Schandtat meines Sohnes Devil.
Immer, wenn Logos und ich etwas neues geschaffen haben, müssen wir kurze Zeit später feststellen, dass Devil irgend etwas daran verändert hat. Er bringt den grasfressenden Löwen das Jagen bei. Er dressiert Schlangen, so dass sie andere Tiere hypnotisieren können. Einmal erwische ich ihn dabei, wie er auf dem Bauch liegend einer Spinne zeigt, wie sie aus klebrigem Sekret ein Netz weben kann, in dem sich kleine Insekten verfangen. Woher hat er nur all diese Ideen?
Tintoletto So ist also der Teufel entstanden - wirklich tolle Zukunftsvisionen ... eine sehr spannende Geschichte Mister Spock! L.G. Tinto |
EagleWriter Schöpfungsgeschichte mal anders ? lg E:W |