Nach dem peinlichen Intermezzo wegen einer fehlenden Toilette, wartet Sonnenblume, die immer für Überraschungen gut ist, mit etwas ganz Anderem auf, das aber Bitterschokolade erneut völlig an seine Grenzen bringen wird...
Nachdem Bitterschokolade beobachtet hatte, dass Sonnenblume normalerweise HINTER den Büschen ihre Notdurft zu verrichten pflegte, sich normalerweise auch ETWAS mehr anzog, wenn sie sich am Morgen mit Hank über die Ereignisse in seiner Familie und die neuen Aufgaben in der Werkstatt unterhielt, kam er ein wenig ins Grübeln.
Ihm dämmerte, dass - wäre er ganz normal hinter dem Gebüsch pinkeln gegangen - sie ihn garantiert in Ruhe gelassen und keine derartige Show veranstaltet hätte. Nur wenn sich Zeichen seiner Verklemmtheit und Prüderie zeigten, wurde ihr inneres Teufelchen geweckt und sie fühlte sich verpflichtet ihn so lange aufs Heftigste zu provozieren, bis er seine Hemmungen überwand.
Sagte er: “Wie, du rauchst…?”, bekam er eine Zigarette ins Gesicht gesteckt, warf er einen pikierten Blick auf ihre freizügige Bekleidung beim Gespräch mit Hank, streckte sie dem armen Mann vor seinen Augen den blanken Arsch ins Gesicht. Wagte er nicht alleine zum Pullern zu gehen…
Bitterschokolade seufzte tief auf. Was würde sie als nächstes drehen, um seinen in langen Jahren immer weiter ausgebildeten Schutzpanzer zu knacken und ihn den Gefahren des wirklichen Lebens auszusetzen, vor denen er sich so sehr fürchtete?
Leider wusste man das vorher nie so genau. Und außerdem hatte er nicht im Geringsten die Absicht, den leidigen Schutzpanzer nun durch einen Anderen gegenüber den Attentaten Sonnenblumes zu ersetzen. Falls das überhaupt möglich war.
Nun, aber gegen eine Sache konnte er sich wappnen: Heute würde der Ferrari fertig werden, und Hank hatte versprochen, dass sie auf dem privaten Gelände hundert Meter hinter der Werkstatt ein paar Runden drehen durften. Mit Sonnenblume am Steuer versteht sich.
Er selber hatte ja im Gegensatz zu Sonnenblume das Geld für den Führerschein gehabt, war aber zwei Mal durch die praktische Prüfung gefallen. Die theoretische Prüfung hatte er jedes Mal mit null Fehlern bestande, das war kein Problem für ihn.
Aber wenn ihn jemand beobachtete und kontrollierte, wie das in der Fahrprüfung der Fall war, wurde er derart unsicher und nervös, dass er einen Fehler nach dem Anderen machte.
Auf keinen Fall würde er sich beschwatzen lassen, sich hinter das Steuer von so einem Monstrum zu setzen, ihm hatte die kleine Zündholzschachtel schon gereicht, in der er die Fahrstunden genommen hatte.
All diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er auf Sonnenblume wartete, die mit Hank zur Werkstatt rüber gegangen war um die letzten Details am Rennauto zu feilen.
Gestern hatte er mit dabei sein dürfen, wie die Beiden, zusammen mit Hanks älterem Sohn Bertram, dem knallrot lackierten, windschnittigen Fahrzeug die Eingeweide herausgenommen und wieder eingesetzt hatten: Hier ein Tröpfchen Öl, und da eine neue Dichtung und dieses da gereinigt… Ihm schwirrte der Kopf, doch Sonnenblume konnte sich jeden Vorgang und jede Einzelheit nach einmal Sehen und Erklären sofort merken. Hank erzählte lachend, dass sie ein kleines Wunderkind sei: Nach drei Tagen in der Werkstatt habe sie alleine einen Motor ausgebaut und wieder eingesetzt, Bremsen repariert und Reifen gewechselt ohne mit der Wimper zu zucken oder einmal wegen etwas nach zu fragen.
Anscheinend hatte Gott, der vor hatte ihr durch ihre Krankheit ihre Intelligenz und Merkfähigkeit zu nehmen, ihr in den paar Jahren die sie noch gesund war, derart viel davon gegeben, dass es den Rest ihres später geistig umnachteten Lebens ausgleichen sollte.
Bei Bitterschokolade ging das Lernen im praktischen Bereich eher sehr langsam von statten. Er musste - peinlicher Weise - sehr oft nachfragen, und machte dennoch vieles falsch, wenn er vor die Lösung von handwerklichen Problemen gestellt wurde.
Deshalb bewunderte und vergötterte er Sonnenblume grenzenlos, die - ohne je eine Ausbildung zur Kfz-Mechanikerin erhalten zu haben, um den rotglänzenden Schlitten wieselte und konzentriert und zielgerichtet alle Arbeiten zu Hanks Zufriedenheit erledigte. Manchmal hatte sogar SIE Ideen, wie man etwas besser anpacken könne, wusste wo sich ein Werkzeug befand, das Hank gerade verzweifelt suchte oder konnte eine Schraube schneller lösen, als der stämmige, einige Jahre ältere Bertram.
Von ihm erfuhr Bitterschokolade während des Zuschauens, dass es nicht Hank gewesen war, der Sonnenblume keinen Arbeitslohn zahlen wollte, sondern dass sich Sonnenblume geweigert hatte Geld entgegen zu nehmen, oder auch ein richtiges Zimmer in der Wohnung seiner ältesten Tochter zu beziehen, wie Hank es ihr angeboten hatte.
Den Schlafplatz im Schuppen, das Motorrad, Pizza und Kaffee for free - das waren ihre Bedingungen gewesen, und dabei blieb sie. Dabei arbeitete sie oft für zwei, sprang sogar an ihren freien Tagen ein, wenn Not am Mann war, ohne sich zu beklagen.
Dafür nahm sie sich die Freiheit heraus, wenn sie mal keine Lust hatte, sich einfach einen schönen Lenz zu machen, ohne dass sie sich je dafür rechtfertigte oder entschuldigte.
Hank hütete sich, ihr deswegen Vorhaltungen zu machen, er kannte und fürchtete ihre aufbrausende Art, wenn sie unter Druck gesetzt oder kritisiert wurde. Und wo hätte er eine billigere und bessere Arbeitskraft gefunden, die zudem noch die allgemeine Stimmung in der Werkstatt dauerhaft auf Sonnenschein hielt?
Er wusste: Sonnenblume war im Inneren eine Zigeunerin, ein Wandervogel. Irgendwann - wahrscheinlich wenn ihr Motorrad fertig war, würde sie weiter ziehen. Darum versuchte er diesen Zeitpunkt so lange wie möglich heraus zu schieben, indem ihm immer wieder irgendwelche Extras und tollen Tunings für die alte Maschine einfielen. Sonnenblume hatte das natürlich auch bemerkt und nutzte dies weidlich aus, um ihren Feuerstuhl bis zur schieren Unmöglichkeit hoch zu pimpen. Das Fahren hatte sie, wie das Autofahren auch, erst auf Hanks Gelände geübt, war dann aber auch heimlich nachts herum gefahren und hatte die Diskotheken rund um den See unsicher gemacht. Dafür hatte sie sich getürkte Numernschilder gemacht und als sie die Polizei einmal verfolgte, war sie kurzerhand von der Straße in ein Feld gefahren und hatte den Streifenwagen abgehängt. Auf Hanks Drängen hin, das eigentlich von dessen energischer Frau ausging, hatte Sonnenblume jetzt doch auf seine Kosten Fahrstunden genommen, die Prüfung sollte nächste Woche sein.
Bertram erzählte unter Lachtränen, dass der arme Fahrlehrer mit ihr beinahe einen Herzinfarkt bekommen habe, da sie bereits in der ersten Autofahrstunde fuhr wie der Teufel persönlich, und ihm mit dem Motorrad einfach davon brauste, so dass er mit dem Überwachungsauto nicht hinterher kam. Eine halbe Stunde später rief sie ihn aus einer Pizzeria auf der anderen Seite des Sees an, ob er denn nicht bald nachkomme, und ob er lieber Margarita oder Funghi möge.
Bitterschokolade blickte erstaunt auf, als er die orange blinkenen Lichter des Abschleppwagens vor der Werkstatt sah, und Sonnenblumes schrillen Pfiff hörte, mit dem sie ihn herüber rief.
Die wollten doch nicht die hundert Meter bis zum Gebrauchtwagenparkplatz den Ferrari auf den Lkw hieven?
Bitterschokolade rannte los, denn er sah Sonnenblume schon aus der herunter gekurbelten  Scheibe des Auto-Transporters ungeduldig winken. Im Näherkommen sah er, dass der elegante Sportwagen bereits auf der Ladefläche befestigt war, Bertram am Steuer saß und Sonnenblume neben ihm auf der Beifahrerbank. Als er heran gestolpert kam, drückte ihm Sonnenblume mit dem Fuß die Beifahrertüre auf, während Bertram bereits den Gang einlegte.
Er fand, dass sie für ihre Verhältnisse ungewöhnlich aufgeregt war, und wunderte sich über die Hektik, die die beiden sonst so ruhigen Menschen veranstalteten, nur wegen einer Probefahrt.
“Los steig schon ein!”, drängelte Sonnenblume, ergriff seine Hand und zog ihn vom Trittbrett aus hoch. Der Wagen rollte bereits durchs Tor, als Bitterschokolade endlich mit dem Hintern auf der harten Lederbank neben seiner Geliebten landete, die dem erhitzten und heftig schnaufenden Jungen eine gekühlte Cola aus der Tankstelle entgegen hielt. “Hier trink das und cool dich runter, denn gleich wirds heiß!”, kündigte sie mit einem Unheil versprechenden Unterton an.
“Was geht denn ab?”, wunderte sich Bitterschokolade, der bemerkt hatte, dass Bertram längst am Parkplatz vorbei gebraust und die Auffahrt zur Autobahn genommen hatte.
Sonnenblume sagte nichts, grinste nur wie ein Honigkuchenpferd und dopste aufgeregt auf dem Sitz auf und ab, so dass sich die Stahlfedern des durchgesessenen Polsters auf Bitterschokolades Seite schmerzhaft in seinen Hintern bohrten.
Da es seiner Erfahrung nach nichts nutzte, Sonnenblume mit Fragen zu löchern, versuchte er Bertram bettelnde Hundeblicke zu zu schmeißen. Der aber schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf und lachte: “Warts ab, Choco (das war der von Sonnenblume akzeptierte Kürzel seines Spitznamens, den die Leute von der Tankstelle übernommen hatten) mir ist das Reden bei Todesstrafe untersagt!”
Nach einer knappen halben Stunde bogen sie von der Autobahn ab. Bitterschokolade, der aufgepasst hatte, ahnte jetzt etwas Unbestimmtes, denn unter dem Hinweisschild für die Ausfahrt war ein anderes, auf den eine ovale Straße dargestellt war, darunter stand klein: ‘Seeblick-Ring’. Sie fuhren doch wohl nicht auf eine Rennstrecke?
Taten sie doch.
Kurz bevor sie auf die Zufahrt zum Ring abbogen, erklärte es Bertram in kurzen Worten: Hank hatte einen Freund am Ring. Um den Beiden eine Freude zu machen, hatte er dort angerufen, und tatsächlich das Angebot bekommen, zu einer Gratis-Testfahrt für eine halbe Stunde auf den leeren Ring zu dürfen.
Deshalb also die Hektik. Der Termin stand fest, und sie mussten zum vereinbarten Zeitpunkt da sein, damit der Kumpel von Hank ihnen die Tore aufmachen und sie einweisen konnte.
Bitterschokolade klopfte das Herz bis zum Hals. “Also, Blümchen, du weißt was Hank gesagt hat: Nicht mehr als zweihundert Sachen, in den Kurven - vor allem der Todeskurve - langsamer!”
“Ich weiß, ich weiß!”, bestätigte Sonnenblume geistesabwesend und schielte mit weit aufgerissenen, leuchtenden Augen auf das schmucke Auto, das gerade abgeladen wurde. Bertram seufzte und jeder in der Runde wusste genau, dass sie sich niemals an diese Vorgaben halten würde. Bitterschokolade wurde es bei dem Gedanken - einer geschwindigkeitssüchtigen Sonnenblume, hilflos in diese Rennsemmel geklemmt, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein - schon ganz schummerig.
Bertram führte sie in die Umkleidekabine, wo sie sich in feuerfeste und gepolsterte Schutzanzüge quetschen mussten und einen Helm auf den Kopf schnallen.  Darin war  ein Funkgerät  integriert, welches es ihnen ermöglichte während der Fahrt miteinander in Kontakt zu bleiben. Natürlich war das alles nicht unbedingt notwendig, da sie ja vergleichsweise langsam fahren würden, und die ganze breite Bahn für sich hatten.
Zweihundert war für die Karre sicher Spazierfahrgeschwindigkeit. Aber was sein muss, muss sein.
Hanks Kumpel, der sich als Ede irgendwas vorstellte, fuhr den Wagen eigenhändig an den Start.
Dann schaltete er per Fernsteuerung die Anzeigetafel ein und gab den dick vermummten Möchtegernrennfahrern die Anweisung einzusteigen. “Ich bin jetzt schon halb ohnmächtig!”, dachte Bitterschokolade, als die Türen des Wagens sich geräuschlos hoben wie zwei Flügel und er sich in die flache, mit perlweißem Leder dick gepolsterte, Sitzschale klemmte.
Jetzt war auch Sonnenblume drin, schnallte sich ebenfalls an, drehte den Zündschlüssel, kontrollierte die Armaturen, hob den Daumen zum Zeichen das alles in Ordnung sei und ließ den Motor aufheulen um ihn warm laufen zu lassen.
Bitterschokolade ging das tief wummernde Geräusch durch Mark und Bein: Das war kein wilder Araberhengst, den sie da ritten - das war ein brüllender Drache! Wenn das nur gut ging...Er schloss kurz die Augen und atmete tief ein und aus.
Ede hatte ebenfalls draußen den Daumen hoch gehalten und schaltete jetzt den Countdown auf der Anzeigetafel ein, der zur gleichen Zeit auf die Kopfhörer in ihren Helmen übertragen wurde.
zehn...neun...acht….die Zahlen verschwammen in Bitterschokolades Kopf...warum nur hatte er sich auf dieses waghalsige Abenteuer eingelassen? Doch jetzt war es definitiv zu spät für Reue...drei….zwei...eins...Sonnenblume ließ bereits langsam die Kupplung schleifen...Null…
Fortsetzung folgt