1.
Der Junge hatte Blumen mitgebracht.
Weiße Rosen, passend zum Anlass.
Sie erinnerten ihn an die Leichenblässe von Nikolas Bane, dem Mann, der vor seinen Augen gestorben war.
Zu seiner Beerdigung schien niemand gekommen zu sein. Vielleicht weil der Regen seit den frühen Morgenstunden nicht mehr enden wollte. Vielleicht aber auch nur, weil es niemanden interessierte. Ihre Familie war nicht da, aber das war ihm schon vorher klar gewesen.
Es hatte keine Messe gegeben. Ein Selbstmord verdiente es nicht, auch noch so geachtet zu werden. Niemand außer ihm, der Frau und dem Mann wusste, dass dieser Selbstmord es wert gewesen wäre. Der Junge schritt durch den Friedhof und blickte zu den Gräbern links und rechts vom Weg. Sie waren in Kriegen gefallen oder an Altersschwäche gestorben, bei der
Geburt eines Kindes, durch Krankheit.
Gestorben, weil ein Gott es so wollte.
Weiter hinten gab es die Gräber der Opfer von Überfällen und wahllosen Morden. Diese Menschen starben, weil ein Mensch es so wollte. Ein Mensch, der auf Gottes Schöpfungen spuckte. Menschen sind herzlos, durchfuhr es den Jungen. Sie gönnen einem anderen Menschen kein Glück. Es hatte für alle ein glückliches Ende nehmen können. Aber so kam es nicht. Damals nicht. Und als Nikolas versucht hatte, all seine Fehler zu verbessern und das wieder gutzumachen, was er damals nicht konnte, musste es ein zweites Mal scheitern. Der Junge verließ den Friedhof durch eine kleine Seitentür und betrat den ungeweihten Grund. Einer der frisch aufgeschichteten Erdhaufen musste derjenige sein, den er suchte, aber er war sich nicht sicher, welcher. Dann erblickten seine Augen den Strauß aus
wilden Veilchen und ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Also hatte sie sich seiner erbarmt. Vielleicht war es die einzige Person, die Nikolas selbst für wichtig gehalten hätte. Wahrscheinlich hätte er eine große Trauergemeinde auch für unnötig befunden. Aber jetzt, als der Junge vor dem Erdhaufen stand und der Regen schon Teile des Bodens davongeschwemmt hatte, wünschte er sich plötzlich, dass es einen Grabstein gegeben hätte. Dass es jemanden gegeben hätte, der diesen Mann die letzte Ehre erwies. "Das hätte nicht so enden sollen", flüsterte er dem Grab zu. "Wir hätten es ändern können. Dass Ihr ein Mensch wart, der es verdient hätte zu leben, scheint ohne Bedeutung zu sein. Dass Ihr ein Mensch wart, der es verdient hätte, dass seine Träume erfüllt würden... Aber jetzt ist die Hoffnung für euch beide tot. Wenn ich derjenige gewesen wäre, der jetzt hier liegt, dann hätte die Zukunft noch in den Sternen gestanden.
Damals habt Ihr mich gefragt, ob ich bereue,
Euch begleitet zu haben. Ich wusste damals nicht, was ich antworten sollte. Ich glaube, jetzt habe ich eine Antwort gefunden. Es gibt nichts, was ich jetzt noch bereuen könnte. Wir taten das Richtige."
Der Junge legte die weißen Rosen behutsam auf die Erde. Er stand eine Weile am Grab des Mannes, der ihn nicht nur vor einer schrecklichen Zukunft bewahrt hatte, sondern viel mehr für ihn getan hatte, als dieser sich selbst ausmalen konnte. Gemeinsam hatten sie eine Geschichte erlebt, die niemand jemals erzählen würde. "Ich werde sie auch für mich behalten", flüsterte der Junge. "Und niemand soll sie jemals erfahren. Weil Ihr wolltet, dass niemals jemand erfährt, was für ein großherziger Mann Ihr gewesen seid.
***
Manchmal kommt es vor, dass Dinge nicht so laufen wie sie sollten. Unglückliche Zufälle. Durch einen dieser Zufälle kam es dazu, dass ein Brief, der eigentlich in den Ofen kommen sollte, doch den Weg zu dem fand, an den er adressiert war. Wenn dieser Brief verbrannt wäre, dann wäre Nikolas Bane vielleicht erst in einigen Jahrzehnten gestorben. Doch der Brief erreichte den Empfänger – und beendete damit eine Geschichte, die noch nicht geschrieben war. Eine Geschichte, von der nur fünf Personen jemals erfahren sollten, dass sie jemals passiert war. Man vertuschte die Affäre, begrub den Helden und ließ die anderen Betroffenen schwören, die Dinge geheim zu halten. Niemand sollte wissen, dass Nikolas Bane eine Tote wieder zurück ins Leben geholt hatte – und niemand sollte wissen, wie er dafür hatte zahlen müssen.
Aber der Botenjunge, der diesen Brief versendete, ahnte von all dem nichts. Er hatte sich auch nichts dabei gedacht, als er den Umschlag auf dem kleinen Tisch neben dem Kamin sah, abseits von dem Stapel Briefen, die er versenden sollte. Er hielt es für eine Unachtsamkeit des Hausherren. Der Brief landete im Sack und als der Hausherr den Brief nicht mehr auf dem Tisch fand, so dachte er, seine Gattin hatte ihn bereits verbrannt. Sie war ja auch der Grund gewesen, dass dieser Brief überhaupt existierte – ein schwächlicher Anfall von Gefühlen. Doch hatte sie wohl eingesehen, dass ihre Hoffnung unbegründet gewesen war. So dachte er. Der Hausherr vergaß den Brief, während er sich auf das große Ereignis vorbereitete. Der Brief suchte weiter seinen Weg. *** Nikolas Bane war gefühlte zwei Jahre alt,
obwohl er bereits in einigen Wochen seinen zwanzigsten Geburtstag feiern würde. Ihn schien eine seltsame Krankheit zu plagen, die ihn vergessen ließ, was vor seinem achtzehnten Lebensjahr passiert war. Manche nannten es geistige Umnachtung, ausgelöst durch einen Schockzustand. Manche nannten es Wahnsinn, der ihm bereits in die Wiege gelegt wurde. Er selbst hatte dazu keine Meinung; manche behaupteten spöttisch, er habe sie vergessen. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand, war Nikolas doch ein Kind von reichen und einflussreichen Eltern. Natürlich wusste jeder, der alt genug war, was eigentlich mit Nikolas Bane passiert war. Jeder. Sie kannten das Geheimnis, das die Familie Bane umgab. Sie schwiegen es tot. Sie taten es nicht aus Rücksicht auf Nikolas' Gefühle. Dafür interessierte man sich nicht. Aber wenn eine Adelsfamililie demjenigen, der dem jungen Mann von dem Ereignis erzählen würde, eine grausige
Strafe angedroht hatte, dann konnten selbst die schlimmsten Klatschweiber ihre Münder halten. Die Bedenken, dass Nikolas sich jedoch Gedanken machen würde, waren grundlos. Er atmete, er aß und trank, er schlief. Er dachte nicht. Zumindest nicht sehr viel. Selbst ihm war klar, dass ihm etwas fehlte. Etwas, das die meisten anderen zu besitzen schienen. Vielleicht wäre er niemals darauf gekommen, was es war, wenn er nicht diesen Brief in die Hände bekommen hatte. Darauf hin überschlugen sich die Ereignisse. *** Ein sonnendurchfluteter Gang. Eine Mädchenstimme. Ein Satz. Ich verstand sie nicht. Und doch kam es mir so bekannt vor. Sie lacht. Ein glockenhelles Lachen von einer wunderschönen Stimme. Doch die Person, die zu diesem Klang gehörte, konnte ich nicht sehen. Die Stimme wurde schwächer. Draußen verdeckten Gewitterwolken den Himmel. Ein
Sturm. Ein Schrei. Ein jäher Schmerz. Ich … ich kann nicht atmen! Ich kann nicht atmen!!! Keine Luft, keine...
Mit einem Schrei schrak ich hoch. Schweißnass klebte mein Nachthemd an mir. Ein Traum, es war nur ein Traum. Ich presste mir die kühle Hand gegen die Stirn. Schon wieder dieser Alptraum. Und wieder diese Kopfschmerzen, wenn ich erwache. Ich schloß die Augen. Mein Kopf wird explodieren. Es ist nur eine Frage der Zeit. Wann es soweit sein wird, konnte ich nicht sagen. Aber diese Träume, diese schrecklichen Träume... sie würden mich von innen heraus zerstören. Dieses Gefühl, als wäre alles so vertraut, und dann diese Angst... Und ein Schleier, der alles verdeckt. Ich kannte diese Stimme...
***
„Master Bane, ist alles in Ordnung?“ Eine helle Frauenstimme riss Nikolas aus den Gedanken. „in Ordnung?“, fragte er. Die Dienerin deutete einen Knicks an und eilte dann zu seinem Bett. „Habt Ihr nicht gut geschlafen, mein Herr? Gibt es etwas, das ich euch bringen könnte? Oder etwas, dass ich tun könnte... damit Ihr euch besser fühlt?“ Bei diesen Worten errötete sie leicht. Nikolas blickte sie an. Sie war noch nicht lange bei ihnen und sie wusste nicht, was sie zu tun hatte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, eine höfliche Floskel. „Nein, danke. Ich benötige nichts. Mir geht es gut.“ Er hatte Kopfschmerzen. Er hatte jeden
Morgen diese Kopfschmerzen. Als würde der Alptraum sein Gehirn zerfressen. Aber was konnte dieses Mädchen dagegen tun? Absolut nichts. Sie knickste wieder und wollte den Raum verlassen. Da kam Nikolas ein Gedanke. „Warte“, sagte er. Sie blieb stehen und drehte sich um. Er musterte sie prüfend. Hübsch, aber nichts besonderes. Es löste nichts in ihm aus. „Ja?“ Er seufzte. „Nichts, gehen sie einfach.“ Die Dienerin sah ihn irittiert an, dann bemerkte sie, was das für eine „Ungehörigkeit“ war und huschte fluchtartig aus dem Raum. Nikolas seufzte erneut. Vielleicht war es Zeit, aufzustehen. Ein weiterer sinnloser Tag.
Vorsichtig stand er auf und ging zum Fenster. Eine Blumenpracht breitete sich im Garten aus. Es war nicht wichtig. Keine einzige der Blumen löste bei ihm ein Gefühl aus. Nichts. Vor ein paar Tagen hatte er eine Bedienstete geküsst. Die Berührung war ihm unangenehm erschienen, auch wenn das Mädchen gekichert hatte. Sie hatte sein Herz nicht berührt. Nichts schien sein Herz zu erreichen. So als wäre es von einem dichten Nebelschleier umgeben und jeder, der versuchte, es zu erreichen, musste sich hoffnungslos verirren, ohne jemals das Ziel zu erreichen. Er hielt den Atem an. Wartete auf das Ziehen in den Lungen.
Stieß die Luft langsam wieder aus. Er wusste, dass die Leute über ihn redeten. Sie nannten ihn gefühllos, arrogant. Es machte ihm keine Sorgen, sollten sie nur tratschen wie es ihnen beliebte. Ein Bote lief in den Hof ein. Nikolas betrachtete ihn mit einem Funken Interesse. Was brachte dieser Mann wohl für Neuigkeiten? Vielleicht ein Massenmord in der Grafschaft? So etwas war vor einem Jahr schon einmal vorgekommen und hatte seinen Vater in regen Wahnsinn gestürzt, allerdings nur für eine kurze Zeitspanne. Solange, bis sich diese Mordreihe wieder gelgegt
hatte. Jemand war dafür gehängt worden, aber Nikolas war sich nicht sicher, ob dieser Mann auch der Täter gewesen ist. Ein weiterer Mörder... das könnte unter Umständen interessant sein, endlich etwas, dass das Volk etwas aufmischte. Mit der Linken Hand die Schläfe massierend schritt er langsam aus seinem Schlafgemach und über den breiten Flur, die Wendeltreppe hinab bis in die große Eingangshalle. Dort stand der Bote und redete mit den Wachen, die ihn anscheinend nicht einlassen wollten. „Die Banes haben mit dieser Familie nichts mehr zu schaffen!“, knurrte der linke Wachmann gerade und legte die
Hand an seine Waffe. Nikolas kam interessiert näher. „Mir welcher Familie haben die Banes nichts mehr zu schaffen?“, fragte er. „Das geht dich nichts an..“, hob der Wachmann wieder an, dann erkannte er Nikolas und erbleichte. „Ah... vergebt mir, Sir, ich habe Euch nicht erkannt. Dieser Bote spottet über Euch, indem er behauptet, eine Einladung der Mandrakes zu haben.“ In Nikolas flammte kurz ein Zeichen des Widererkennens über das Gesicht. Er kannte den Namen Mandrake doch. Wo hatte er ihn das letzte Mal gehört? Doch dann... war es wieder genauso schnell davon wie es kam. Er kannte diesen Namen wohl doch nicht, es
tauchte kein Bild auf. „Wer sind die Mandrakes?“, fragte er deshalb. Die Wache verneigte sich. „Eine Adelsfamilie wie die Eure, mein Lord, nur, dass sie nicht so bedeutend sind und vor allem kinderlos.“ Nikolas schüttelte den Kopf. „Nein, das sind sie doch nicht, sie...“ Er stutzte. Er kannte die Familie Mandrake doch gar nicht, warum behauptete er dann so etwas? Merkwürdig. „Ich würde diese Einladung doch gern sehen“, sagte er dann. Seine Kopfschmerzen hatten mittlerweile eine kaum noch erträgliche Dimension angenommen, wieder war da die Mädchenstimme, diesmal rief sie leise seinen Namen und kicherte dann
wieder verhalten. Sie hatte so eine schöne Stimme, wenn nur diese Schmerzen nicht wären, diese unerträglichen Schmerzen... Nikolas formte die linke Hand zu einer Faust und versteckte sie hinter seinem Rücken. Er durfte sich keine Blöße geben. „Den Brief, bitte“, sagte er und streckte die rechte Hand aus. Der Bote nickte eifrig und holte den Brief hervor. „Bitte, Sir, und ich danke Euch, dass Ihr mir die Gelegenheit gebt, meine Aufgabe zu erfüllen.“ Nikolas winkte mit dem Brief in der Hand ab. Er drehte sich um und schritt wieder langsam zurück in sein Zimmer.
EwSchrecklich Sehr spannender Anfang auf jeden Fall... - Ich frage mich schon wie es weitergeht ^^ Irgendwie mag ich deinen Schreibstil total, der ist richtig gut. Besonders den Anfang des Anfangs finde ich sehr gelungen. In der Beschreibung ist mir ein kleiner Fehler aufgefallen: "Der schiefe Dachboden" müsste es heißen, und die letzte Seite existiert irgendwie doppelt... lg EwSchrecklich |