Budenzauber
Sonnenblume und Bitterschokolade näherten sich dem Werkstattgelände von hinten, nicht von der Straßenseite, wo sich die Tankstelle befand. Bitterschokolade war das sehr recht, schließlich legte er keinen gesteigerten Wert darauf dem Tankstellen-heini über den Weg zu laufen, von dem er nicht wusste ob er mit Sonnenblume … ach, war ja auch egal. Jetzt jedenfalls war sie SEINE Sonnenblume, auch wenn sie natürlich zuallererst sich selbst ganz allein gehörte. Danach kam aber sofort er, und dann ungefähr ein ganzes Universum lang nix mehr, und dahinter konnte sich der Tankstellen-heini auf einer Warteliste eintragen, würde aber nie dran kommen. Bitterschokolade grinste zufrieden bei diesem Gedanken, als Sonnenblume ihm anwies durch ein Loch unter dem hohen Maschendrahtzaun hindurch in das Gelände zu schlüpfen. “Darf man das denn?”, fragte er sicherheitshalber, damit seinem Gewissen Genüge getan war. Natürlich wusste er, dass man das nicht durfte.
Sonnenblume schielte als Antwort so grausig mit beiden Augen, dass Bitterschokolade sich ohne zu Zögern auf den Boden warf und unter dem von ihr hochgehaltenen Zaun hindurch robbte.
Stolz auf der anderen Seite angekommen, rappelte er sich auf, klopfte sich die Erde aus der Kleidung und besah kritisch Sonnenblume und den schmalen Schlitz, durch den er sich gerade gezwängt hatte.
Ihre Formen waren bedeutend gerundeter, als die Seinen und er fragte sich, wie sie ihren wunderschönen, aber durchaus stattlichen … “Kommst Du da auch durch?”, fragte er zweifelnd.
“Nein - mit Sicherheit nicht!”, bestätigte Sonnenblume entschlossen, lief drei Meter weiter, schob eine lose angelehnte Zauntüre auf, marschierte hindurch und warf sich neben Bitterschokolade auf den Boden vor Lachen, als sie sein verdattertes Gesicht sah.
“Man darf auch...durch ...die…Türe!”, prustete sie zwischen ihren immer wieder kehrenden Lachkrämpfen. “Hab ich…vergessen...das zu...erwähnen?”
“Ich bin sicher, Du hast es erwähnt!”, antwortete Bitterschokolade, und bewarf Sonnenblume mit herum liegenden Erdklumpen, “das war mir bloß zu spießig! Darf ich jetzt das Dornröschenschloß sehen, nachdem ich tapfer durch die Hecke bin?”
“Darfst Du!”, erlaubte Sonnenblume gnädig, nachdem sie ausgiebig zurück geworfen und sich mit Bitterschokolade im Dreck gewälzt hatte. “Wenn Dir die Türe wieder zu spießig ist, kannst Du gerne das Fenster nehmen!”
Das war allerdings zugenagelt und außerdem hoch oben angebracht, so dass sich Bitterschokolade dann doch dafür entschied den Haupteingang durch eine schief in den Angeln hängende Bretter-Tür zu nehmen.
Das Dornröschenschloß erinnerte Bitterschokolade beim Eintreten eher an das Verlies des Grafen von Monte Christo.
Weiter hinten im Raum waren ein paar Tische und Werkbänke zusammengeschoben, darauf und darunter waren alte Auto und Motorradteile, Werkzeuge, Farbdosen, Ölkanister, und jeder andere erdenkliche Krempel gestapelt. Vorne bei der Türe, wo er herein gekommen war, war ein Quadrat von ca. zwei mal zwei Metern Fußbodenfläche frei geblieben. Auf den rauhen von Erde und Öl grau schwarz gefärbten Bohlen, lagen rechts von der Türe zwei schmutzige, verfilzte Schaffelle, darauf der ihm bekannte Armeeschlafsack, den sie wohl am morgen vor dem Segeltörn mit genommen hatte. Links stand ein wackliger dreieinhalbbeiniger Hocker, auf dem eine ausgetrunkene Weinflasche stand, die wohl seit geraumer Zeit als Kerzenhalter diente. Ein Stumpen saß noch oben drauf, darum war das herunter geflossene Wachs auf allen Seiten über die Flasche gelaufen und hatte diese auch auf dem Stühlchen fest gebacken. Neben dem ‘Kerzenhalter’ lagen ein paar Streichholzbriefchen mit dem Logo der Tankstelle und eine halbleere Marlboro-Packung.
“Du rauchst?”, entfuhr es Bitterschokolades Mund, ehe er es verhindern konnte. Er hätte sich für diese Dummheit am liebsten sofort die Zunge abgebissen. Aber leider war es so, dass seine strenge Mutter, die ihn nun fast zwei Jahrzehnte lang am Schlafittchen gehabt hatte, ihm so einiges unnütze Zeug derart fest eingetrichtert hatte, dass es sich nun auch ein Jahr nach seinem Weggehen von Zuhause noch hartnäckig in seinem Gehirn einnistete, und sein Leben und Denken bestimmte. Darunter auch die Botschaft, dass man Sex erst nach der Heirat haben dürfe, und dass Raucher schlechte Menschen seien, genau so wie Leute die Alkohol tranken.
“I wo, Gott bewahre!”, antwortete Sonnenblume leichthin, ich rauche doch nicht, die muss meine Großmutter letzthin liegen gelassen haben, als sie meine Bierkisten entsorgt hat. Na ja, jedenfalls keine Zigaretten. Aber wenn Du ein wenig Marihuana ziehen willst, dann muss ich mal kurz meine Topfpflanzen ernten…!”
“Mari…?” Angestrengt überlegte er, dann fiel ihm ein, dass sie in evangelischer Religion mal so einen Drogenaufklärungsfilm gesehen hatten, in dem ein Haufen Jugendliche in einem Keller zusammen saßen und so eine Art große spitze Zigarette im Kreis weiter gaben. Das war ein Joint, hatte er sich gemerkt, und darin befand sich - wie später im Film noch einmal gezeigt wurde, die gefährliche Mari...dingsda-droge. Hinterher waren die Jugendlichen zusammen in einem Bus heim gefahren und hatten wegen der Droge einen tödlichen Unfall gebaut.
Ihm ging auf, dass Sonnenblume ihn wieder an der Nase herum führte, wegen seiner Verklemmtheit. “Das Mari...bluppszeugs, das ziehen wir uns später rein!”, gab er in selbstsicherem Tonfall bekannt, jetzt will ich mich erst mal umsehen, und ein wenig auf dem Sofa abhängen!”
Das Umsehen war schnell erledigt. Außer dem besagten Hocker gab es an der rückwärtigen Wand noch ein verdrecktes Waschbecken, auf dessen Rand eine dieser italienischen Espressomaschinen balancierte, die man auf den Herd stellen kann. Am Hahn baumelte eine Blechtasse. Auf dem Fußboden unter dem Becken stand ein Campinggasbrenner, eine aufgerissene Kaffe-packung, Sahne und Zuckerpäckchen aus der Tankstelle. Sonnenblume folgte seinen Blicken und erläuterte: “Morgens Kaffee muss, sonst tot und nix Arbeit!”
Kaffee stand auch auf Muttis ‘no go -Liste’, aber die konnte er getrost in den Müll katapultieren. Bei Sonnenblume stand sowieso ALLES auf dieser Liste, und das war Bitterschokolade inzwischen so was von scheissegal.
In der rechten hinteren Ecke der Hütte stand ein großer, widerstandsfähig aussehender Rucksack in Armee-Tarnfarbe. So wie er aussah, war Sonnenblume mit dem Ding sicher schon durch dick und dünn gegangen. Oben ragten Socken und andere zerknüllte Wäschestücke heraus. An einer Stange, die irgendwie in dem Werkzeugwust steckte, hingen ein paar Kleiderbügel mit Hemden. In der Ecke darunter ein Turm von Pizzakartons, im obersten, der halb offen war, noch ein angebissenes Stück. Das wars. Mehr Zimmereinrichtung gab es nicht.
“Das ist mit Abstand mein luxuriösestes Heim bisher!”, versuchte Sonnenblume Bitterschokolade aufzumuntern, “auch wenns kein soundsoviel Sterne-Hotel ist. Aber wenns Dir nicht gefällt, können wir auch umziehen. Ich pack dann mal schnell meine Sachen…!”
“Nein, nein!”, entgegnete Bitterschokolade hastig, bevor Sonnenblume ihre Drohung wahr machen konnte. “Es ist sehr gemütlich, und den Schlafsack kenne ich ja schon, und an die verschiedenen Drogen gewöhne ich mich sicher rasch. Auf welcher Seite schläfst Du?”
Sonnenblume prustete los, als er das mit den Drogen sagte. “Ich schlafe an DEINER Seite, darling und jetzt muss ich Dir noch was zeigen!” Damit packte sie Bitterschokolade am Handgelenk und schleifte ihn hinter sich her aus der Bude heraus quer über den  gekiesten und mit Reifentürmen dekorierten Platz bis zum eigentlichen Werkstattgebäude. Bitterschokolade sah schon von der Ferne, worauf Sonnenblume zu steuerte: Ein metallisch blinkendes Etwas, das unter dem vorgezogenen Dach der Werkstatt an der Wand lehnte.
Es war die Erfüllung der Träume, das Vehikel der unendlichen Weite, das Pferd Winnetous, der Sound of freedom, zu deutsch: Es war Sonnenblumes MOTORRAD!
Jedenfalls ihr Zukünftiges, denn ganz offensichtlich musste sie die einzeln verstreut herum liegenden, aber schon penibel blank polierten und frisch gesprühten, Einzelteile noch irgendwie zu einem Ganzen zusammen setzen. Wie - davon hatte Bitterschokolade nicht die geringste Ahnung. Dennoch  war er tief beeindruckt - auch wenn Motorräder auf einer Liste, die sich bereits auf dem Weg in die Müllverbrennunsgsanlage befand, an einer der obersten Stellen standen. Er  war sich sicher, dass dies das himmlischste, um nicht zu sagen: das geilste - Motorrad der Welt werden würde, wenn es erst einmal fertig war.
Sonnenblume wartet mit Augen, die so sehr strahlten, dass Bitterschokolade fürchtete sie könnten Löcher in ihn hinein bohren, auf seine Reaktion.
“Das…!”, flüsterte er, und stellte sich vor, wie sie zusammen auf dem Feuer-ross über die Pisten bügeln würden - a la Werner - “das ist entschieden das Geilste, was ich je gesehen habe!” Er sah ihr in die Augen. “Dich natürlich ausgenommen, versteht sich!”
Fortsetzung folgt