Schneewittchensarg
Als Sonnenblume erwachte, wusste sie sofort was passiert war: Sie war wieder bei IHM gelandet.
Der Raum in dem sie sich befand bestach durch seine Kälte und Klarheit, so dass ihr keine Flucht ins Unbewusste möglich war,  wie es Bitterschokolade mit seinen Fieberträumen versucht hatte.
Sie wusste, dass sie IHM nicht entfliehen konnte, ihr außerirdischer Cyborg-Zuhälter würde sie überall aufspüren, und es war nur eine Frage der Zeit, wann er ihr das Gehirn so weit heraus gesaugt hatte, dass sie sich - dumm und einfältig geworden - von selber den Wölfen zum Fraß vorwarf, so wie es ihre Mutter getan hatte.
In der Mitte des linsenförmigen Raumschiffes, dessen vollkommen  ebenmäßige Ummantelung in metallischem silber-weiß schimmerte, war das kristallene, ovale Podest befestigt auf dem Sonnenblumes nackter Körper aufgebahrt war. Mittels eines Netzes hin- und her- huschender hellblauer Energiefäden, die acht Generatoren am Rande der Plattform entströmten, wurde sie wehr- und bewegungslos an diesen Alien-Präsentierteller fest genagelt. Die Generatoren in Form von faustgroßen Diamantspitzen flackerten gleichfalls in gleißendem Blau und warfen einen gespenstischen Schein über den unterkühlt wirkenden Labor-Container.Dieser war, für die Dauer des Experimentes, vom Mutterschiff in eine stabile erdnahe Umlaufbahn gebracht worden, deren Fixpunkt sich genau über dem Krankenzimmer befand zu dem sich der frisch entlassene Bitterschokolade gerade aufmachte.
Sonnenblumes schweißnasse Haut glänzte künstlich wie ein Latex-anzug, der mit tausenden von funkelnden Straßsteinchen ihrer Schweißtropfen verziert war. In ihrer vollkommenen Bewegungslosigkeit, die Lider über die strahlenden Aquamarin-Augen gesenkt, glich sie mehr einer Schaufensterpuppe aus einem Beate-Uhse-Laden, als einem wirklichen, lebendigen Menschen.
Hätten sich nicht ihre, sonst unter weiten, rauhen Männerhemden verborgenen, Brüste in regelmäßigen Abständen auf und ab bewegt, wie eigenständige Urzeitlebewesen - man hätte Sonnenblume für eine in Kunstharz eingegossene Leiche halten können. Durch die halbkugelförmige gläserne Unterlage wurde ihr, gegen ihren Willen entblößter, Leib in einer überstreckten Lage fixiert. So wirkte dieser sonst all zu begehrlichen Blicken weitgehend entzogene Bereich ihres Oberkörpers - nun in seiner vollen Größe und Schönheit ins Rampenlicht gerückt - unwirklich überdimensional. Aufdringlich und mit einem Gefühl unterschwelligen Aufforderungscharakters schien er dem etwas aufmerksameren Betrachter wie ein Köder, der von einem findigen Raubtier ausgelegt worden war um eine willensschwache Beute einzufangen, die sich von dieser gekonnten Inszenierung täuschen ließ.
Genau das war auch der Fall. Das metallene Maschinenmonster, welches hinter dem Kopfteil von Sonnenblumes ‘Krankenbett’ aufragte hatte exakt diese perfide Wirkung beabsichtigt und perfekt auf die Bühne gebracht.
Sonnenblume wusste das aus den vorangegangenen Malen in ihrer Kindheit und Jugendzeit, als sie aufgrund ihrer erblichen, schubweise entstehenden Demenz monatelang in einem ähnlichen Koma gelegen hatte. Immer war sie sich ihres Körpers und der um sie im Krankenzimmer ablaufenden Vorgänge vollkommen bewusst gewesen, nur war ihre Wahrnehmung an diesen Alptraum gefesselt gewesen, von dem sie bis heute nicht sicher wusste, ob der ihr von ihrem maroden Gehirn vorgegaukelt wurde, oder - was sie nach außen hin strikt  ablehnte - einen Zusammenhang zu einer tatsächlich existierenden Wirklichkeit hatte.
Was sie jahrelang gequält hatte, war die Ungewissheit, ob die Dinge die sie während dieser Zeit gefühlt und gesehen hatte, in einer anderen realen Form, wirklich passiert waren, oder ob alles nur komplette Einbildung ihres sich selbst zersetzenden Gehirns gewesen war.
Immer war es die gleiche Szenerie gewesen: Leute, die sie kannte oder die im Krankenhaus arbeiteten betraten das Krankenzimmer, das von ihr als der oben beschriebene Laborcontainer des Alien-Monsters wahrgenommen wurde.
Waren es Frauen - wie beispielsweise die eine Krankenschwester, die mit dem behandelnden Arzt liiert war, und ihre leibliche Mutter - so fügten sie ihr Schmerzen zu, in dem sie sie schlugen, zwickten oder sogar einmal mit einem spitzen Gegenstand in ihre Haut stachen. Sie lachten sie aus, weil sie nichts dagegen tun konnte, und nannten sie eine schamlose Hure und ähnlich Schlimmes.
Offensichtlich waren sie sehr wütend, ohne dass Sonnenblume genau wusste mit was sie die Menschen gegen sich aufgebracht hatte.
Waren es Männer, wie der behandelnde Arzt - dem später zwei anderere mit ihm befreundete Kollegen und ein Krankenpfleger folgte, und später bei ihrem Zuhause-Aufenthalt ihr Vater - dann begannen sie Sonnenblume anzufassen, sie herum zu schubsen und zu zerren wie eine Puppe, und Dinge mit ihr anzustellen, die kein Arzt oder Vater tun sollte und an die sich Sonnenblume lieber nicht mehr erinnern wollte.
Aus diesem Grunde war sie mit dreizehn von Zuhause fort gelaufen.
Erst hatte sie das alles vollkommen als die Wahnvorstellungen abgetan, die die teuflische Krankheit ihr vorgetäuscht hatte. Doch dann ließ ihre, inzwischen durch den selben Horror debil gewordene, Mutter einmal einen Satz fallen, der sie spontan in der nächsten halben Stunde ihren kleinen Rucksack packen und für immer aus dem Elternhaus verschwinden ließ:
Der Vater hatte mit ihrer Mutter, die er daheim pflegte und die sich wie ein dreijähriges Kind verhielt, immer rüdere Umgangsweisen an den Tag gelegt. Daran war sie mittlerweile schon irgendwie gewöhnt. Am Anfang war es ihm peinlich gewesen, dass seine Frau sich vor seiner Tochter oben frei machte und von ihm forderte mit ihm zu schlafen. Er hatte sie hastig wieder angezogen, mit sich ins Schlafzimmer geschleift und die Türe hinter sich zu geschmissen.
Natürlich war Sonnenblume viel zu alt um nicht zu wissen, was da drinnen gespielt wurde.
Eklig wurde es nur dann, als der Vater ihrer Mutter - von der Pflege seiner langsam dahin siechenden Frau überfordert - langsam keinen Widerstand mehr entgegen setzte. Im Gegenteil fing er irgendwann an, sie zu behandeln, als sei sie seine persönliche Straßendirne. Jetzt war es Sonnenblume, die aufgebracht und peinlich berührt das Feld verließ und die Türen hinter sich zu knallte.
Eines Tages - Sonnenblume hatte gerade in der inzwischen ziemlich herunter gekommenen Wohnküche den hohen, antiken Eisschrank geöffnet um sich eine Cola zu holen - sah sie im Augenwinkel, wie ihr Vater der, idiotisch dabei kichernden, Mutter an den Hintern grabschte.
Sie verdrehte angewidert die Augen und wollte gerade die Kühlschranktür mit Caracho zu werfen, als sie mitten in der Bewegung zur Salzsäule erstarrte.
Sie spürte von hinten die Augen der Mutter sich in ihren Rücken bohren. Sie wusste, so starrte sie Carolyn (so hiess sie damals) immer nur an, wenn sie zwischendurch einen ihrer helleren Momente hatte. “Kullerchen…(das war ihr Kosename, den sie noch mehr hasste, als den Anderen) ...kleine Schlampe...willst Du nicht mit machen?...Hast es doch…”
Ihr Vater versuchte ihr mit aller Macht die Hand auf den Mund zu legen, und raunte Carolyn zu: “Du weißt ja wie sie ist, hör einfach nicht hin!”
Carolyn drehte langsam den Hals ihres versteinerten Körpers, dass sie jeden einzelnen Wirbel dabei knacken hörte und sah ihrer Mutter gerade in die Augen: “Sprich weiter!”, knarrte eine ihr bis dahin unbekannte Stimme, tonlos und mit dem Charme einer anlaufenden Kreissäge, aus ihrem Mund.
Ihre Mutter, die in ihrer Infantilität unglaubliche Kräfte entwickelte, befreite sich rasch aus dem Griff ihres schwächeren Mannes und grinste ihre Tochter schamlos an:
“Hast es Dir doch auch immer gern gefallen lassen, oder… als Du so rum gelegen bist ...weißt schon…!”
Das genügte.
Carolyn war gestorben - für immer. Ihre Eltern waren gestorben. Ihre Kindheit war gestorben.
Das Mädchen, das sich später Sonnenblume nennen würde beobachtete fasziniert, wie sich die Colaflasche in ihrer Hand scheinbar wie von selbst aus dieser löste, auf ihren Vater zu schoss, wie eine kleine Atomrakete, und an dessen Kopf zerschellte - Wrumm!
Ihre Augen vernebelten sich in roter Wut, als säße sie im Inneren eines gerade ausbrechenden Vulkans.
Sie wusste nur noch, dass sie ein paar Habseligkeiten, Geld und ihren Ausweis in ihr Rucksäckchen gestopft, ihre Petroleumlampe über ihrem Bett ausgeschüttet und beim Aussteigen aus dem Fenster das entflammte Zippo ihres Vaters darauf geworfen hatte.
Endlose,graue Straßen an denen sie verfroren in stinkender, durchgeschwitzter und oft durchnässter Kleidung gestanden hatte, den Daumen raus gehalten, eingestiegen, ausgestiegen. Wie oft und wie lange wusste sie nicht mehr. In einer weit entfernten, fremden, großen Stadt war dann ihre erste Bleibe gewesen, wo sie noch am Bahnhof gebettelt und in den Läden gestohlen hatte um zu überleben. Wo sie in ihrem Bretterverschlag unter einer verfallenen Steintreppe endlos geweint hatte, wo… egal, es war vergessen, es war vorbei.
Wichtig war nur das ‘jetzt’. Denn mit einem Mal dämmerte es ihr was der grausame, aus einem emotionalen Vakuum bestehende Cyborg vorhatte, dessen Tentakeln in Form von Kabeln und Schläuchen tief in ihrem von ihm in Besitz genommenen Körper steckten:
Er wollte Bitterschokolade, IHRE Bitterschokolade -  umpolen, verdrehen, verhexen, so wie er es mit all den Anderen gemacht hatte, um so an den süßen Lebenssaft aus ihrem Hirn zu gelangen, der ihm erst durch ihr gebrochenes Herz zugänglich wurde.
“Nein!”, wollte sie schreien, “Nein, das schaffst Du nie, du nutzloser Furzsack, mit all Deinen fiesen Jahrmarktgaukler-Tricks nicht!”
Doch ihre Lippen waren wie zugetackert. Und auch wenn sie es nicht sehen konnte, fühlte sie das piepsende und zischende Monster aus Blech, Knöpfen und Tastaturen, Bildschirmen und Kabelsalat, seinen Kopf neigen und triumphierend mit seinem viel zu kleinen Mund grinsen.
In diesem Moment öffnete sich vorsichtig und leise das Schott des Containers auf der extraterristischen Intensivstation und schüchtern trat ein junger Mann ein und sah sich um - es war ihr Geliebter Bitterschokolade.
Fortsetzung folgt