Segeln und Sterben ist schöner zu zweit zweiter Teil
Sonnenblume und Bitterschokolade wurden jäh aus ihren Träumen und ihrer innigen Umarmung gerissen, als eine unerwartet heftige Windböe mit einem Donnerschlag ins voll gesetzte Segel knallte, und das Boot schräg legte. Im letzten Moment krallte sich die geistesgegenwärtige Sonnenblume an einer der Fußhalterungen an, und Bitterschokolade widerum an Sonnenblume.
Beinahe wären sie über Bord gespült worden, doch bevor sie sich zu ihrer Rettung beglückwünschen und erleichtert aufatmen konnten, war schon mit Jaulen und Heulen die nächste Böe im Anmarsch. Der ausgestandene Schrecken und der Guß eiskalten Wassers, der über die Bordwand gekommen war, hatte die Träumenden in sekundenschnelle hell wach gemacht. “Halt Dich hier fest!”, deutete Sonnenblume auf die Fußhalterungen, “und binde dir das hier um die Hüften!” Damit warf sie ihm ein Seilende zu, welches am anderen Ende an der Reling befestigt war. Normalerweise diente es als Sicherung beim Auslegen. Im nächsten Moment stürzte sie zum Mast um die Grossfall zu lösen. “Das Segel muss runter!”, schrie sie, doch im Brüllen des Windes verstand Bitterschokolade nur: “EEh, uuh, uaah!”
Die Böe traf ein, kam aber aus einer anderen Richtung und riss lediglich wütend am Großsegel, als wolle sie es zerfetzen. Es gelang ihr allerdings, die Schot des Vorsegel los zu reißen, das jetzt hilflos im Wind flatterte, sich um den Großmast wickelte, und mit dem  peitschenden Ende drohte die jungen Menschen zu verletzen.
Die Schwimmwesten waren schon beim ersten Windstoß über Bord gegangen, da Sonnenblume aber kein zweites Seil und auch keine Zeit hatte, band sie sich nicht fest. Sie vertraute auf ihr Glück und ihre Intuition. Sie nahm sich auch nicht die Zeit rundum zu sehen, was da eigentlich um das Boot herum vorging.
Anders war es bei Bitterschokolade. Er bestand förmlich aus Angst, und hatte so schnell er konnte die Füße in die Raster eingeklemmt und sich das Seilende um den Bauch gebunden. Beide waren noch immer splitternackt und er bibberte am ganzen Körper - vor Furcht, oder vor Kälte, konnte er nicht sagen. Aber er musste unbedingt wissen in was für einer Hölle er da gelandet war. Eines war ihm klar: Dies war eine Art jüngstes Gericht, als Strafe dafür, dass er sich haltlos dem Glück und der körperlichen Liebe hingegeben hatte. Er hatte schon immer geahnt, dass das Leben ihn aus diesen Dingen aussparen wollte. Aber Sonnenblume konnte doch nichts dafür! “Lasst sie in Ruhe!”, brüllte er in den johlenden Wind, “sie kann doch nichts dafür!Nehmt doch bitte mich!” Er hatte doch sowieso sterben wollen, darum war es ungerecht, dass der Zorn der erzürnten Götter eine Unschuldige traf. Doch der Wind gab nicht ein einziges Zeichen, dass er ihn gehört hatte.
Rund ums Boot war die ganze Welt in einheitliches Grau getaucht, als hätte jemand die Farben penibel mit einer Art Tintenkiller aus ihr heraus gelöscht. Fort war das tiefe Blau des Sees und das satte Grün der Berge. Verschwunden alle beschwingten schneeweißen Segeldreiecke, und gelöscht das heitere Himmelblau in dem eine goldene Sonne gethront hatte. Diese Sonne gab es nicht mehr. Die einzigen Lichter, die im von tiefhängenden dunkel schwärenden Wolken durchzogenen Äther noch sichtbar waren, leuchteten am Ufer blinkend orange auf: Sturmwarnung, höchste Stufe. Ein Boot, das jetzt noch nicht im Hafen war, dem konnte niemand mehr helfen. Zu gefährlich wäre es für die Helfer.
Bitterschokolade schossen die Geschichten von einer Gruppe Jugendlicher seines Alters durch den Kopf, die auf dem See im Boot gezecht und getanzt hatten und die Warnungen übersehen.
Keiner von ihnen hatte das rettende Ufer lebend erreicht, auch ihr Boot fand man nicht. Nur die fast zur Unkenntlichkeit aufgequollene Leiche eines der blutjungen Mädchen wurde nach Tagen ans Ufer geschwemmt. Die Vögel hatten ihr bereits die Augen ausgepickt und Fische hatten Stücke aus ihrem Körper gerissen. Die Anderen wurden nie gefunden.
Das Bild der gespenstischen Wasserleiche auf dem Zeitungsfoto geisterte durch Bitterschokolades Gehirn, als er mit zusammengekniffenen Lippen und geballten Fäusten zusah, wie Sonnenblume - seine Sonnenblume - versuchte die Fall des Großsegels zu lösen, dessen Schlitten sich aus unerfindlichen Gründen in der innen im Mast verlaufenden Schiene verkantet hatte und nicht herunter kommen wollte. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, sah Bitterschokolade Panik in ihren strahlenden Augen aufflackern. Ihre starken Hände zitterten, und ein unterdrückter Schrei entrang sich ihrer Kehle, als die nächste Böe anrollte. In seiner eigenen Angst, die ihm wie eine eisige Faust Magen, Gedärm und das Gehirn zusammen quetschte, hatte er übersehen, dass sie sich nicht so gesichert hatte, wie sie es ihm befohlen hatte. Jetzt Sekunden vor dem Eintreffen der Böe durchzuckte ihn diese fürchterliche Erkenntnis wie ein Blitzschlag, und ließen ihn den ‘Profi-Zauderer’ sofort handeln, bevor er überhaupt denken konnte. Er sprang aus der Hocke, wo er sich an den Halterungen festgeklammert hatte los in Richtung seiner Geliebten, und breitete noch im Sprung die Arme aus, um sie zu umfassen. Doch auch sie sprang in diesem Augenblick los, in die Höhe um im Fallen das klemmende Segel doch noch herunter zu reißen. Für einen Moment blieb in Bitterschokolade die Zeit still stehen und bewegte sich nur in Zeitlupe weiter.
Er sah die anmutige Bewegung ihres nackten, durchtrainierten Körpers, ihre schwingenden Brüste, die ihr Gesicht umwehenden  Locken, die im Sprung gestreckten Glieder ihrer Arme und Beine. Ihr Bild wurde in der nun von ihm wahrgenommenen vollkommenen Stille vor ihm immer größer, da er ja gleichfalls auf sie zu flog. Beim Lieben hatte er nie gewagt sie anzusehen, und auch als sie vorhin beide nackt im Boot tollten hatte er sich seiner Sehnsucht geschämt, weil er die verborgene Gier in seinen Blicken spürte. Doch jetzt in diesem ins schier Unendliche gezogenen Moment, war er dieser triebhaften Kraft, die Sonnenblume mit ihren Blicken verschlingen wollte hilflos ausgeliefert, da es ihm weder möglich schien sich von sich aus zu bewegen, noch die  Blickrichtung seiner Augen zu verändern. Die Gestalt einer Göttin zog wie eine aufsteigende Mondrakete langsam an ihm vorüber, er berührte fast die Rundungen ihrer Hüften, und bemühte sich umsonst sie zu umschlingen, um Sonnenblume zu retten. Noch während dieses Sprunges erreichte die todbringende Böe die kleine Nussschale, die gewagt hatte zur Unzeit auf der Suppenschüssel des Sees zu tanzen.
Das vom losgerissenen Großbaum herum geschwungene Großsegel, traf auf Sonnenblumes Körper, wie der gezielte Schlag eines Tennisschlägers auf den Ball. Im Davonfliegen drehte sie sich halb und er erblickte was er noch nie gewagt hatte, zu betrachten und was er nun nie wieder sehen oder berühren würde. Die in ihm sich ballende Wut über diese perfide Show, die ihm hier vorgeführt wurde, ließen Bitterschokolades Kräfte anwachsen, es gelang ihm die für ihn kaum wahrnehmbaren Bewegungen seiner Arme, Hände und Finger um ein geringes zu beschleunigen und langsam, unendlich langsam umschloss seine linke bis zum Zerreißen hoch gestreckte Hand den Knöchel ihres entschwindenden Fußes.
Die Zeitrafferwahrnehmung endete abrupt, der Höllenlärm, die Kälte, die Schmerzen der unmenschlichen Anstrengung, dies alles setzte so urplötzlich wieder ein, wie sie verschwunden waren. Bitterschokolade wurde mit Sonnenblume zusammen hoch empor gerissen. Das sich mit einem scharfen Ruck um seinen Bauch  spannende Sicherungsseil, schien ihn exakt  in zwei Hälften zu trennen, was ihm für einen kurzen Moment das Bewusstsein  raubte.
Kurz vor seinem Aufklatschen in die tobende See wurde er wieder wach, tief versank er in den aufgewühlten Wassern und kämpfte verzweifelt darum wieder an die Oberfläche zu gelangen. Unwillkürlich und reflexartig hatte sich dabei seine linke Hand wie eine eiserne Fessel um Sonnenblumes Knöchel gespannt. In der Kälte des Wassers konnte er jedoch weder diese Hand noch einen anderen Körperteil spüren. Er konzentrierte sich darauf zu versuchen zu atmen, sobald er an die Oberfläche kam. Nach vier Atemzügen war er wieder besser bei sich, es gelang ihm oben zu bleiben und auf der Welle zu reiten, entdeckte Sonnenblume an ihn gekettet und zog sie zu sich heran, sich selber am Seil zu der Jolle, die gekentert auf den Wellen trieb wie ein großer Hai, dessen Rückenflosse ihr nun in den Himmel ragendes Schwert war.
Die Gewalt des Sturmes schien nun nachgelassen haben, so plötzlich wie er gekommen war. Bitterschokolade gelang es, sich am Rücken des Haies an zu klammern, in seinem Arm die schöne, kalte, reglose Sonnenblume.
Als sein zermürbtes Gehirn begriff, was mit ihr geschehen war, schwanden ihm abermals die Sinne: Sonnenblume, seine Sonnenblume war tot.
Fortsetzung folgt