Schwere leichte Entscheidung
Es war wirklich der perfekte Tag zum Segeln: Die Sonne stand hoch in einem mit Schäfchenwolken gepflasterten Sommerhimmel, ließ die Berge warm erglühen und färbte den sonst silbergrauen Spiegel des Sees um in ein unglaubliches lapislazuli. Die fesche Brise lockte die Yachten aus ihren Häfen und Liegeplätzen am Ufer, und ihre weißen Segel tummelten sich als Zuckerstreu auf dem knallblauen Seekuchen.
Sonnenblume lag träge quer auf dem Boden der kleinen flachen Jolle, hielt mit den Zehen des linken Fußes die Ruderpinne und ließ das Schiffchen kleine Wellenlinien fahren, so dass ihr rechter,  außenbords befindlicher, Fuß durch das Schaukeln immer wieder ins kühle glitzernde Nass der weiten Seenfläche eingetaucht und gleich darauf wieder heraus gesogen wurde. Wie ein Tortilla-chips in der Chilisauce, dachte sie für sich, während sie dem braungebrannten, unrasierten Bein interessiert dabei zusah, wie es sich dippte.
Hin und wieder griff sie zu einem abgewetzten Feldstecher von gigantischen Ausmassen und richtete ihn auf eine bestimmte Stelle am Ufer. Hatte sie nach einigem Herumwackeln gefunden, was sie suchte, grinste sie befriedigt, schmiss den Oldtimer wieder in den im Bootsheck eingebauten Werkzeugkasten, gähnte und ließ sich erneut in die stabile Rückenlage fallen, die es ihr ermöglichte gleichzeitig zu segeln, fuß zu dippen, Möven zu zählen und Wolkenmonstern bei ihren unglaublich langsamen Verwandlungskunststücken zu zu sehen.
Nicht, dass sie keine Lust gehabt hätte, Bitterschokolade wieder zu sehen, und das möglichst bald bis sofort. Aber auch wenn sie es sich nicht hatte anmerken lassen, hatte sie wohl bemerkt, dass er noch nie ein Mädchen gehabt hatte, und es war ihr klar, dass er Zeit brauchen würde um die Erfahrung für sich zu verarbeiten, und wieder Land zu gewinnen, nach ihrem Überfall. Sie hatte gelernt dass viele Jungen, bei ihrer draufgängerischen Art die Fluchtsocken ergriffen. Und die Typen, die versuchten ihr das aus zu treiben und selber das Ruder zu ergreifen, roch sie inzwischen schon aus der Ferne und ließ sie gar nicht erst an sich heran.
Obwohl es sie nicht viel Zeit gekostet hatte in der Tankstelle abzusagen und sich das Boot eines befreundeten älteren Ehepaares auszuleihen, für die sie eine Zeit lang eingekauft und allerlei kleine Dienste verrichtet hatte, wollte sie damit nicht sofort zu dem Jungen zurück kehren.
Bitterschokolade war ein Nachdenker, und musste seine aus den Fugen geratene Wirklichkeit erst wieder ins Lot bringen, das wusste sie. Außerdem war die Sehnsucht sein Hauptmotor, und wenn sie ihm nicht Gelegenheit bot, sich ausgiebig nach ihr zu sehnen, wäre er sicher unzufrieden.
Deshalb beließ sie es dabei, das Boot in gebührender Entfernung auf der Wasserfläche hin und her schweben zu lassen, und das Objekt ihrer Begierde zu observieren, um im rechten Moment eingreifen zu können.
Die dabei entstehende Zeitlücke - normalerweise füllte Sonnenblume jeden verfügbaren Augenblick mit Geschäftigkeit - nutzte sie um in ihrem Kopf ebenfalls Ordnung her zu stellen und einen Plan zu schmieden:
Zuallererst Sonnenblumes ‘Für und wider Liste’:
Für:
-Er ist kein Macho oder Womenizer und total süß.
-Er liebt wie ich die Natur und die Einsamkeit mehr als Parties und Plastikwelt.
-Er trägt - ebenfalls wie ich - einen tiefen Schmerz mit sich herum.
-Es macht ihm nichts aus, dass ich wie ein Junge herum laufe, die Ansagen mache und auch sonst die Führung übernehme.
-Er spielt Mundharmonika, dass es einem das Herz bricht
-Er - entschuldige, das ist kein Argument, aber Ehrlichkeit hat Vorrang - er… okay, das geht jetzt wirklich nicht, aber hier ein Tipp: normalerweise mache ich die Sache, weil Jungs das einfach brauchen, und ich dabei auch Streicheleinheiten abkriege. Aber dieses Mal… Als Tipp muss das reichen!
-Weiteres Für: Ich habe immer schon gewusst, irgendwo im Bauch drin, wenn etwas für mich bestimmt war: Meine Jacke, mein Boot, mein geheimer Platz, mein Motorrad, meine Krankheit, mein … egal was, er ist jedenfalls für mich von seinem Traumplaneten herunter gestiegen.
Keine Diskussion, kommen wir lieber zur ‘Wider Liste’.
Wider:
-Er ist ein Mann, also ein potentielles Schwein. Wenn das Männerschweinevirus bei ihm noch nicht ausgebrochen ist, wird es das spätestens dann tun, wenn wir zu oft zusammen sind, oder zu viel miteinander schlafen. Die fürchterlichen Folgeerscheinungen einer Männerschweinevirusinfektion bei vorher süßen Jungen brauche ich hier nicht ausführlich schildern, da jede Frau sie kennt, und jeder Mann sie sowieso nicht kennen will.
-Er will mich sowieso nicht, ich habe ihn nur überpowert, und er wird die Gelegenheit nutzen um zu fliehen.
-Er hat schon eine Freundin und sich bloß nicht getraut, mir das zu sagen
-Er hat eine Mutti, der er hörig ist, und die ihm den Umgang mit mir verbietet.
-Er hat - was ich nur bislang nicht bemerkt habe - komplett einen an der Klatsche, bringt mich bei Gelegenheit um und konserviert meinen linken großen Fußzeh als Fetisch in einem Einweckglas.
Zugegeben: Meine ‘Wider Liste’ hat einen Pferdefuß - sie besteht ausschließlich aus wilden Fantastereien ohne hinlängliches Beweismaterial.
Sonnenblume gähnte, bohrte in der Nase und entschied dass sich ihre Liste eindeutig in die ‘Für’ Richtung geneigt hatte - ganz wie sie es vorausgesehen hatte. Blieb nur noch ein handfester Plan zu erstellen, um dem sich ihr zuneigenden Schicksal noch den entscheidenden Fußtritt in Richtung ihres Glücks zu verpassen. Schließlich hatte sie nicht so viel Zeit zur Verfügung um zu warten, bis er sie nach seinen Vorstellungen umwarb, heiratete und ein, ihm von seiner Mutti eingehämmertes, Standardleben mit ihr abspulte.
Ergo würde ihr nur eine Möglichkeit bleiben: Sie musste ihn entführen.
Mit diesem Resümee am Ende ihrer Lebensplanung mit oder ohne Partner angelangt, reckte und streckte sich Sonnenblume ausgiebig - was die Jolle derart ins wackeln brachte, dass Wasser über die niedrige Bordkante spritzte - riss sich den Feldstecher vor Augen und spähte nach der Lage der Dinge.
Bitterschokolade hatte aufgehört, nachdenklich zusammengekauert auf dem Kies der Böschung zu hocken und in die Wellen zu glotzen, beziehungsweise auf einen grauen Vogel, der vor ihm auf und ab trabte wie sein moralisches Gewissen. Nun war er  aufgestanden, hatte ihr den Rücken zugewandt und starrte regungslos ins Schilf, von wo er offenbar ihre Ankunft ersehnte.
Zeit zu handeln: Sonnenblume wendete gekonnt ihre Nussschale und richtete den Kiel auf die observierte Uferstelle. Sie ergriff die Verlängerung der Pinne, hängte die nackten Füße in die dafür vorgesehenen Schlaufen im Boden ein und lehnte sich rückwärts weit über die Reling, während sie gleichzeitig das Großsegel in den Wind zog. Mit einem scharfen Knall spannte sich das Tuch und die leichte Jolle sprang wie ein fliegender Fisch aus dem Wasser und nahm Fahrt auf.
“Hey!”, schrie Sonnenblume in den Wind und die um sie hochsprühende Gischt, in die die  Sonne über ihr einen bunten Regenbogen malte, “Hey du Leben du, hier komme ich, und wage es nicht, mir auch das noch zu nehmen!”
Das Leben wagte es nicht, hatte es doch genau dafür gesorgt, dass Sonnenblume endlich blühen konnte.
Fortsetzung folgt