Viele sind schon auf diese Art verschwunden. Viele wurden schon entführt. Viele wurden schon trainiert. Viele haben schon diesen Schmerz gefühlt, der bis auch die Knochen geht. Viele ... viele ... Doch sie ist die Erste, die erkennt, was wirklich dahinter steckt
6:00 Uhr
Der Auftakt war immer derselbe. Wir stellten uns in Reih und Glied in die große Halle, begrüßten Volyn Carf, den Leiter dieser Einrichtung, und er wünschte allen Fys einen arbeitsreichen, angenehmen Tag. Als wenn wir den nicht hätten.
Nach dem Auftakt ging es im übertriebenen Gänsemarsch zum Speisesaal. Schweigend stellten wir uns in Reih und Glied vor den fünf Essensausgaben an und warteten mehr oder weniger Geduldig, bis wir das für uns persönlich zubereitete Essen zugeteilt bekamen.
Für jeden von uns wurde morgens von einem Computer, der unsere Trainingsdaten und Fortschritte speicherte und auswertete, das tägliche Training festgelegt. Danach wurde uns dann unser tägliches Essen zusammengestellt, sodass wir alles wichtige zugeführt bekommen, und gleichzeitig die richtigen Nährstoffe für das Training zu uns nehmen. Ein ausgeklügeltes System, aber eigentlich total simpel.
Als ich an der Reihe war, hielt ich meine linke Hand vor einen Bildschirm und lies meine Fingerabdrücke und den implantierten Chip scannen. Ein Computer rechnete kurz und gab mir dann mit einem kurzen Piepen zu verstehen, dass ich die Klappe öffnen und mein Essen herausnehmen kann. Außerdem stand auf dem Bildschirm meine Platznummer.
Ich nahm das graue Tablett, trat ein Stück zur Seite und begutachtete mein Frühstück. Es bestand aus kalorienhaltigem Brot, Wurst, etwas Obst, Saft, in dem eine Magnesiumtablette gelöst war und einer Eiweißkapsel. Alles klar! Einheitstraining war für mich angesagt. Ich musste grinsen.
Vor noch gar nicht so langer Zeit hatte Mat versucht, mich mit Beruhigungs- und „Anti-Agressions“-Mitteln abzufüttern - aufgrund meiner Vorliebe, Unruhe zu stiften und mich ohne weiteres Nachdenken in Gefahr zu begeben. Wirkte bei mir aber nicht.
Nachdem Mat das bemerkt hatte, hat er mir nur noch Doppelschichten Training mit den Großen zugeteilt. Das wirkte … einigermaßen.
Ich stiefelte durch die Reihen aus Tischen und Stühlen zu meinem Platz. Die Plätze wurden, ebenfalls von einem Computer, jeden Tag neu zugeordnet. Und zwar nach Trainingslevel, dem Alter und dem an dem Tag zu absolvierendem Training. Ich war Trainingslevel 14 auf anderthalb Jahre, 15 Jahre alt und heute saß ich bei den Einheiten. Meine Platznummer war 88 QP und ich saß bei den etwas Älteren, die heute auch zu den Einheiten mussten.
Gelangweilt lies ich mich auf meinen Stuhl fallen und spülte ohne groß nachzudenken die Eiweißkapsel mit dem Saft hinunter.
  „Du hast’s gut, du darfst zur Einheit …“, meinte Day, der mir schräg gegenübersaß. Seine blonden Haare waren noch etwas feucht vom Duschen und auf seinem Teller befand sich haufenweiße Nervennahrung, ein Beruhigungsmittel und Kalorienbrot. Armer Day, er musste heute Klettern.
  „Das schaffst du schon!“, meinte ich und begann, auf meinem Brot zu kauen. Days Höhenangst war schon irgendwie … beeindruckend.
  „Du hast gut reden, du darfst ja auch heute zu den Einheiten!“, Day schluckte die Beruhigungstablette und schüttelte dann den Kopf. „Und wenn Mat heute besonders gute Laune hat, dann jagt er mich auf den Turm …“
Ich seufzte, vor dem Turm hatte selbst ich etwas Respekt; Extrem hoch, augenscheinlich und gefühlt unstabil und wankend stand er in der großen Kletterhalle. Ich hatte eine Vorliebe für alles, was hoch ist, was aber größtenteils auf meiner Platzangst beruhte und ich mich oben, über den anderen, einfach wohler fühlte. Aber der Turm …
  Teilweise galt er sogar als Strafe – allerdings nur, wenn man nicht so tickte wie ich und selbst mit Extra-Sprints und quälendem Training nicht ausgelastet ist.
  „Nicht nach unten schauen!“, riet ich Day - so wie immer, wenn er klettern musste - und nahm mir den Apfel, der mich von meinem Tablett herauf anleuchtete. „Augen zu und durch, das ist die beste Ãœberwindung!“
  „Klar, werde ich müssen“, murrte der Junge sarkastisch. „ansonsten werde ich abgestuft. Matthew hat mir mit zwei Level weniger gedroht!“
Ja, Abstufung war immer die beste Möglichkeit, jemandem Angst zu machen und dazu zu bringen, alles zu tun.
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6:35 Uhr
Nach dem Frühstück hatten wir genau zehn Minuten, um den Saal zu verlassen, in die Garderobe zu gehen, uns eventuell umzuziehen, Messer und, soweit es das eigene Level erlaubt, Handfeuerwaffe zu holen und sich dann nach Information an einem der Scanner im entsprechendem Trainingsraum einzufinden.
Ich wünschte Day viel Glück, brachte mein Tablett weg und da ich meine Waffen und die richtige Kleidung schon hatte, lief ich direkt zu einem der Scanner, um meine eigentlich sichere Vermutung über mein heutiges Vormittagstraining zu bestätigen und den Einheitsname herauszusuchen, bei der ich erscheinen musste.
  Ich hatte Einheitsübung und zwar in Halle drei bei Einheit 577 SI. Die Nmummer war fiktiv, die Buchstaben SI und die Hallennummer verrieten mir, dass es heute um Waffen und dessen Umgang und Handhabung ging.
Bevor ich zur Halle drei ging, schaute ich noch bei Caitlin vorbei und versicherte mich, dass sie wusste, wo ihr Training stattfand. Sie war neu hier im Fight und Mat hatte mich gebeten, dass ich ein wenig nach ihr schaue. Woher sie kam, wusste ich nicht … nicht mal sie selbst. Das wusste keiner.
  Keiner wusste, wo man geboren worden und aufgewachsen ist. Niemand kann sich an Eltern oder Geschwister erinnern. Wenn man hier her kommt, dann gibt es nur noch das hier, und nix weiteres. Wirst du gefragt, was deine Vergangenheit ist, dann sagt man „Das Fight“. Wir man gefragt, was die Zukunft ist, dann sagt man dasselbe.
Weder ich noch irgendjemand anders wusste genau, wozu wir hier sind. Wir wussten nur, dass wir ausgebildet werden, um zu kämpfen. Aber wofür wir einmal kämpfen, das wusste keiner.
Ich lief den langen Gang mit den Schlafzellen hinunter. In jeder Zelle schliefen zwei bis vier Personen. Sie waren aus massivem Material und die Tür aus Eisen. Alle Zimmer hatten eine Luftversorgungsanlage, eine Hologrammanzeige in der oberen Ecke an der Tür und für jede Person ein Bett, ein Regalbrett und ein Schreibtisch zum lernen.
  Die Gänge waren ähnlich trist. Kalte Beton- oder Stahlwände, moderne Leuchtstoffröhren an den Decken und graue Türen rechts und links. Zwischen den Türen und auch darüber gab es Scanner, Bildschirme oder kleine Schränke oder Regale.
  Alle Türen hier waren mit einem elektronischen Schloss gesichert. Die Codes der Schlafzellen kannten nur die Bewohner und unsere Trainer. Die Codes der Räume, die wir betreten durften, hatten alle und die der Zimmer, die für uns tabu waren, hatten nur Zutrittsberechtige.
Ich blieb vor einer großen Tür stehen und schob die flache Metallscheibe vor dem Schloss zurück. Ich scannte meinen Chip in der rechten Hand. Daraufhin öffnete sich die Tür und ich konnte die Halle betreten.
  Die Chips bekam man implantiert, wenn man hier her kam. Und zwar noch bevor man irgendetwas gesehen oder jemanden kennengelernt hatte. Die Rechtshänder hatten die Chips in der linken Hand, die Linkshänder rechts.
  Jeder Fy hatte einen Namen, meiner war Cay. Die meisten vermuten, dass die Namen hier eine Anlehnung oder Abkürzung an unsere früheren Namen sind, so genau wusste das aber keiner. Nachnamen bei uns Fys gab es nicht
  Alle trugen dunkle oder gar schwarze Kleidung, manchmal auch Tarnfarben. Jeder besaß ein Messer und ab Trainingslevel zehn eine Handfeuerwaffe mit kleinem Kaliber.
Tarina, die Einheitsführerin, nahm mein Kommen mit einem strengen Blick zur Kenntnis und ich schaute mich kurz um. Es waren Tische mit halbautomatischen Gewehren aufgebaut, außerdem Taschen mit Magazinen und die Liste, die auf dem großen Bildschirm zu sehen war, lies mich erahnen, dass es heute um Punkte ging.
  Das kam ungefähr zweimal in der Woche vor; Wir wurden bewertet, zehn war dabei die höchste Punktzahl. Die Punkte gingen auf unser Konto und wenn man eine bestimmte Punktzahl erreicht hatte, steig man ein Level auf. Mein Stand war Level 14 auf anderthalb Jahren, was ziemlich gut war, und ich hatte gute Chancen, innerhalb der nächsten zwei bis drei Bewertungen ein Level aufzusteigen.
  Ich war seit anderthalb Jahren hier und hatte, nachdem der Anfangstest ausgewertet wurde, mit Level drei begonnen – was auch nicht schlecht war. Ich hatte einen ganz schön steilen Aufstieg hingelegt, nicht nur trainingsmäßig. Auch was die Schule anging, der theoretische Unterricht, den wir alle drei Tage erhielten, bearbeitete mein Hirn. Mein geschätzter IQ betrug knapp 130, gemessen 136.
  Wenn man es so sah, war ich eine der Besten hier. Nicht, dass ich darauf besonders stolz war. Es erteilte einen das Privileg, Dienste zu schieben und Extrakurse zu belegen. Beliebt – Fehlanzeige. Aber ein Muss.