Beschreibung
"Regungslos wie Geister ihrer selbst, warteten die Menschen immer vor dem Bahnhof auf den Bus.
Aber heute war nur ein einziges, in einen Brombeerfarbenen Regenmantel gekleidetes Mädchen da.
Von der anderen Straßenseite beobachtete er sie, wie sie in dem kleinen gläsernen Bushäuschen stand.
Plötzlich passierte etwas merkwürdiges, der Himmel tat sich auf und kleine Regentropfen attackierten den Bordstein, wie Kamikazeflieger.
Plop, plop und sie flossen in den Straßengraben, während von oben immer wieder neue Tropfen auf den Bordstein fielen und zerschellten."
Man hatte ihm sein ganzes Leben lang nachgesagt, dass er vom Glück verfolgt sei. Doch in seinen Augen war das nicht richtig. Erfolg, ja den hatte er gehabt. Aber Glück war doch etwas anderes. Aus Büchern und Filmen hatte er gelernt, dass Glück das wiederholte erleben eines Gefühls von Zufriedenheit ist.
Aber so etwas kannte er nicht. Er war ein komplett rational funktionierendes Wesen.
Zwar war ihm in seinem Leben, alles was er angefangen hatte gelungen, doch er selbst hatte dabei nie Zufriedenheit empfunden.
Während die Meister des jeweiligen Fachs an das er sich gewagt hatte, beeindruckt durch den hohen Grad an Perfektion, der seinem Handeln inne wohnte, ehrerbietig den Hut zogen und ihn die Menschen mit denen er beruflich und privat verbunden war, für sein Können und seinen Erfolg beglückwünschten und beneideten, lag ein dichter Schleier emotionaler Neutralität auf ihm, wie ein graues Seidentuch, das kein Lob oder auch keinen Tadel zu ihm durchlassen konnte.
Wie leicht hatte er das Klavierspielen erlernt, obwohl er nicht verstanden hatte, wie man von einem Lied emotional bewegt wurde. Natürlich verstand er das psychologische und die biochemischen Grundlagen, aber er hatte keine Ahnung, wie es sich ANFÜHLT.
Wenn seine Finger die Tasten berührten, dann sah er die Mathematik, die Gleichungen die hinter Harmonie und Rhythmus stehen. Nicht mehr.
Da ihm aber auch Unglück oder Verzweiflung fern waren, lebte er sein Leben ganz normal.
Er hatte sich abgeschaut, wie man in bestimmten Situationen reagiert, wenn alle anderen lachten, dann lachte er auch.
Wenn alle anderen ernst waren, dann war er es auch. Er wusste mittlerweile genau, wann man von ihm erwartete, dass er redete und wann man es am liebsten sah, dass er schwieg.
Manchmal hatte er überlegt, ob er ein nächster evolutionärer Schritt wäre.
Der Mensch war ein seltsames Tier, das einzige, das denkt es müsse arbeiten um zu überleben.
Alle anderen Tiere lebten nur. Was vollkommen ausreichte.
Er selbst ging noch einen Schritt weiter, er war komplett rational. Frei von allen Animalischen Instinkten und Gefühlen.
Was zu einer neuen Problematik führte: Wozu tat er das alles? Er sah darin keinen Sinn. Er sah kein Ziel, auf das er wirklich hin arbeitete.
Er tat es nur, weil es alle anderen taten.
Das war sein einziger Instinkt, sein Überlebenstrieb, dass er sich anpassen musste, um nicht aus dem Rudel verstoßen zu werden.
Nach der Arbeit fuhr er jeden Tag mit dem Zug nach Hause. Er ging nur ab und zu mit Arbeitskollegen essen, gerade so oft, wie es normal war.
Mindestens einmal in der Woche, stürzte er sich in das Getümmel in der Stadt. Er schlenderte durch die Straßen, um die Menschen zu studieren.
Er beobachtete sie in Cafés und in der Straßenbahn, wobei er ihr Verhalten genau analysierte.
Wenn er ins Kino ging, dann setzte er sich ganz nach hinten, wo er keine störenden Blicke im Rücken hatte.
Anfangs hatte er noch auf die Filme geachtet, doch mit der Zeit wurden die Menschen im Kino viel interessanter. So hatten seine Ausflüge in die Stadt begonnen.
Er wurde neugieriger auf die Stellen im Film, an denen die Zuschauer lachten oder weinten.
Warum gingen Menschen in ein Kino um zu weinen? War das nicht ein Ausdruck des Leides?
Er wusste das Leid allgemein als etwas schlechtes angesehen wurde, warum konnte man sich diesen Zustand absichtlich wünschen?
Sicherlich, es gab Menschen, in den Büchern wurden sie Masochisten genannt, die ihr Leid genossen und er für seinen Teil, hätte es aus Interesse gerne verspürt, so wie er auch am Glücksempfinden interessiert war.
Aber was war mit der großen Mehrzahl? Schließlich kam ihm die Lösung. Er wusste, dass die meisten Menschen immer etwas traurig waren und diese Traurigkeit mit sich herumtrugen, ohne sie zu zeigen.
Vielleicht sogar ohne, dass sie es wussten.
Hier im Kino konnte man sie zeigen, denn hier weinten alle irgendwann.
Das war eines der großen Menschlichen Dogmen. Etwas das alle taten, konnte weder falsch noch schlecht sein.
Regungslos wie Geister ihrer selbst, warteten die Menschen immer vor dem Bahnhof auf den Bus.
Aber heute war nur ein einziges, in einen Brombeerfarbenen Regenmantel gekleidetes Mädchen da.
Von der anderen Straßenseite beobachtete er sie, wie sie in dem kleinen gläsernen Bushäuschen stand.
Plötzlich passierte etwas merkwürdiges, der Himmel tat sich auf und kleine Regentropfen attackierten den Bordstein, wie Kamikazeflieger.
Plop, plop und sie flossen in den Straßengraben, während von oben immer wieder neue Tropfen auf den Bordstein fielen und zerschellten.
Das Mädchen trat aus dem Schutz des Unterstandes in den Regen. Wieso tat sie das? Sie würde nass werden und sich erkälten. Er selbst hätte so etwas niemals getan.
Ihr Blick, der abwesend gewesen war, hatte plötzlich etwas lebendiges. So einen Blick kannte er sonst nur aus den alten Schwarzweißfilmen im Kino.
In seinem Kopf hörte er das Orchester, dass die Szene untermalte.
Das Mädchen tat einen tiefen Atemzug und sog die nasse Luft in sich ein, als wäre es ihr erster Atemzug nach langer Zeit.
Ein plötzliche Neugier überkam ihn und er holte ebenfalls tief Luft.
Diese Luft war eigenartig, sie war schwer und zugleich leicht. Ihr Geschmack war bitter-süß, wie das Leben in Romanen beschrieben wurde.
Er atmete sie gierig in seine Lungen, wo sie in sein Blut gelangte und seinen ganzen Körper durchfloss.
Und jetzt spürte er es, jenes bitter-süße Leben, dessen Oberfläche er so oft gestreift hatte, zum ersten mal tauchte er tief darin ein.
Er spürte noch etwas anderes, den Wunsch, dieses Gefühl für immer beizubehalten und alles andere zu vergessen, das musste Zufriedenheit sein, so fühlte sie sich also an.
Der Regen war sein alter Freund, von dem er nie gewusst hatte, der Tränen weinte, für jeden Kummer, den die Menschen flüsternd der Dunkelheit anvertrauten oder beizeiten auch hinausschrien in die Nacht.
Ein stolzes Weinen, vor dem die Grashalme sich respektvoll verneigten und wegen dem die Straßen, in der Morgensonne glänzten.
Hier stand er nun und mit dem Regen fiel das Glück auf ihn.
Ja, er wollte es festhalten, dieses Gefühl das auf der Zunge nach Erdbeeren schmeckte.
Ein Lächeln huschte über seine Lippen und zu seiner Freude wurde es auf der anderen Straßenseite, von jenem Brombeerfarbenen Engel erwidert.
Mit einem Mal, fasste er einen Plan. Er wollte diesen Engel berühren, ihm die nassen Haare aus dem Gesicht streichen und sein pochendes, vor Freude hüpfendes Herz spüren, ganz dicht neben ihrem. Er schritt auf das Glück zu und es umhüllte ihn ganz.
Der Patient lag im Koma. Er hatte an einer Bushaltestelle die Straße überqueren wollen, wobei er einen nahenden Lastwagen übersehen hatte.
Der Fahrer des Wagens erlebte den Schreck seines Lebens, überstand den Unfall aber sonst unbeschadet.
Der Fall des Patienten sah ganz anders aus. Sein Gehirn war durch die Wucht des Unfalls irreparabel geschädigt worden.
Es stand außer Zweifel, dass niemals wieder das Bewusstsein erlangen würde.
Kleine Teile des Gehirns funktionierten noch, was nicht unüblich war, doch dieser Patient war etwas besonderes.
Er war glücklich.
Sein Gehirn tat nichts anderes mehr als Endorphine, Serotonin, Oxytocin und Dopamin in regelmäßigen Abständen auszuschütten.
Dieser Patient empfand nur noch Glück, nichts anderes mehr.
Das verkomplizierte die Angelegenheit enorm. Der Patient litt nicht, im Gegenteil, also konnte man die Maschinen nicht einfach abschalten.
Die Eltern des Patienten beratschlagten lange. Schließlich kam man zu dem Schluss, dass dieses Glück nur ein Trugbild war.
Immerhin hatte ihr Sohn sein ganzes Leben lang, zu ihrer Zufriedenheit große Leistungen erbracht und daraus immer sein Glück geschöpft.
Es konnte doch nicht in seinem Sinne sein, in so parasitär herum liegen zu lassen.
Das hätte doch sein ganzes bisheriges Dasein, das so viel Tiefe und Zufriedenheit beinhaltete, komplett entwertet.
Also wurde bald eine Entscheidung zum Wohle des Sohnes getroffen und nach einer Woche schaltete man alle lebenserhaltenden Maschinen ab.