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Zeitschlaf
Eine helle Stimme weckt meine Aufmerk-samkeit. Sie scheint noch Weiter entfernt zu sein, allerdings ist der Klang deutlich als der eines Kindes zu erkennen. Ich erwache schleichend aus meinem Zeitschlaf, der mich wieder und wieder einholt und versucht mich festzuhalten. Böse bin ich ihm deswegen nicht. Er bringt mir die Erinnerungen aus meinem tiefen Lebensschacht empor und legt sie mir wohlduftend auf ein Gefühlskissen, damit ich davon naschen kann. Schwerlich nur kann ich mich dem köstlichen Geschmack entziehen, doch obsiegt die Neugier, die diese Stimme in mir weckt.
Nun bin ich wach. Im Hier und Jetzt blicke ich auf das Schild vor mir.
“Talsperre Löwenbrück“
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Ja, ich erinnere mich, so heißt diese Haltestelle, besser gesagt, so hieß sie bis vor fünfzehn Jahren. In mir keimt wiederum die Sehnsucht an vergangene Tage, Tage, an denen ich gerne hier war. Bei der Einweihung der Bahnstation, in den Jahren der Nutzung und auch bei dessen Stilllegung, jedes Mal war ich gegenwärtig.
Alles das habe ich miterlebt, die Höhen des regen Zugverkehrs, das laute Reden, Lachen und Weinen der vielen Fahrgäste.
Ebenso die stillen Zeiten, da kaum ein Zug passierte. Immer und immer wieder wartete ich erneut auf die Züge und im Besonderen auf die Menschen. Ich erinnere mich noch allzu gut an die ersten Wochen, die neugierigen und vorsichtigen Blicke der Reisenden, die sich suchend an mich richteten.
Die kleinen mit ihren großen Kinderaugen, die staunend und gestikulierend vor mir standen.
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Die mich meiner Größe wegen bewunderten und deren Eltern, die sie zu sich heranzogen, um nicht die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu lenken. Ein paar hörte ich flüstern wie kantig und holzig ich doch wär. Andere wiederum nutzten mein wuchtig anmutendes Aussehen, um sich, unwissentlich nach durchzechter Nacht, zu stützen.
Manche Liebe, ob deren Erwachen, oder dessen Ende ich ungewollt erlebte, ging mir so nahe, dass in mir der Wunsch erwuchs, Gleiches zu erfahren. Allerdings blieb mir die Erfüllung dieses Bedürfnisses bisher verwehrt.
Ich sah in den Jahren viele wartende Menschen, die in Eile, oder in völliger Zufriedenheit auf mich zukamen. Oft berührten mich ihre Hände oder Finger zart, manchmal unwissentlich, beinahe aus Versehen, aber überreichlich auch grob und mit purer Absicht.
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Einige streiften mich im Vorbeigehen und andere schauten mich flehend an. Auf ihre Fragen versuchte ich allzeit Antworten zu geben, wenn es mir gelang, dann entfernten sie sich nicht selten, lächelnd und zufrieden von mir.
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Ich versuche die nagende Sehnsucht abzustreifen und schaue mich forschend nach dem Eigentümer der kindlichen Stimme um. Allmählich entdecke ich um mich herum das Ergebnis, welches das Zeitmeer mit seinen gefräßigen Wellen hinterlassen hatte. An allen Gleisen überwuchert der grüne Wildwuchs des Grases die rostenden Schienen, die so manchen schweren Zug getragen hatten.
Die gewaltigen Holzpfeiler auf dem das schützende Dach ruhte, waren übersät von nicht mehr heilbaren Wunden. Das Dach, das den einen oder anderen wartenden Fahrgast und mir, Unterschlupf vor den Launen der
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Jahreszeiten bot, zeigt zum Teil faustgroße Ausblicke in den beinahe wolkenfreien Sommerhimmel.
Auch an mir haben die zerstörerischen Wellen des verruchten Zeitmeeres die Jugend davongeschwemmt. Ausgebleicht, tief gefurcht und gekrümmt lehne ich mich an die bröckelnde Wand.
Weiter auf der Suche nach der Jugend, die dieser kindlichen Stimme innewohnt, schaue ich über dieses verlassene Stück Eisenbahngeschichte. Ich entdecke die Bahnhofsuhr. Auch sie hat den Kampf gegen die Ewigkeit verloren und lässt ihre Zeiger schlaff herunterhängen.
Da, ich sehe das Kind, das aufgeregt hüpfend an der Hand einer alten Frau geht. Seine Großmutter möglicherweise? Freudig erzählt es unentwegt was es grade neu entdeckt. Die Großmutter, ich glaube ich kenne sie, kommt
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gedankenvertieft mit dem Kleinen gradewegs auf mich zu. Ich fühle einige Erinnerungen aufkommen, ob sie wirklich zu mir kommen? Ich bemerke meine Aufregung, ein hinreißendes Gefühl nach so langer Zeit. Fünfzehn Jahre sind es auf den Tag genau.
Woher ich das weis?
Mir scheint es einerlei, zu viel Zeit ist vergangen, als das ich mich um dieses Wissen kümmern mag. Ich selber bin dreiundachtzig und meine Aufregung lässt ein paar Wellen der Jungend zurückschwappen. So lange habe ich kein freundliches Gesicht gesehen, aber die Aussicht in gleich zwei solcher zu blicken, lässt mich meine einsamen Jahre vergessen.
„Oma, ist das der Bahnhof, wo du immer mit Opa warst?“
„Ja mein Engel, hier haben dein Opa und ich uns immer verabredet. Er kam mit dem Abendzug um siebzehn Uhr zweiunddreißig aus Ravensberg.“Â
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Diese Stimme.
Jetzt erkenne ich die alte Dame, sie war vor vielen Jahren sehr oft hier. Doch die Zeit scheint bei ihr etwas länger geschlafen zu haben.
Ihrem Aussehen nach hat die Liebe dem Zeitmeer gar einen Deich entgegengebracht, oder das Meer muss absichtlich bei ihr seine Wellen zurückgehalten haben. Vermutlich war auch die Zeit ein wenig verliebt in diese, wie ich mich jetzt wieder erinnere, absolut pünktliche Frau.
Ich bin ein Protektionist der Pünktlichkeit.
Sie war immer pünktlich und so präzise, dass sogar die Bahnhofsuhr sich ehrerbietig vor ihr verneigte. Diese Pünktlichkeit und die Sehnsucht, die sie dazu beflügelte, bestaunte ich damals immer wieder. Es ist überwältigend, was Liebe imstande ist zu bewirken.
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„Omi,soll ich dir was vorlesen.“
„Was möchtest du denn lesen Engelchen, wir haben doch nichts dabei?“
Das kleine Kind drehte sich zu mir um, zeigte mit seinem Finger auf mich und sprach mit aufgeregter Stimme:
„Das da, den alten Fahrplan.
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