Sonnenblume und Bitterschokolade
Bitterschokolade saß nackt auf dem bunten Kies der geheimen, komplett vom hohen Schilfgras verborgenen Uferstelle, wo er die Nacht zusammen mit einem fremden Mädchen im alten Boot verbracht hatte. Die Wasserperlen auf seiner Haut, die von seinem morgendlichen Bad her rührten, glitzerten in der bereits hoch aufgestiegenen Sonne, wie Diamanten und vor ihm schritt majestätisch mit erhobenen Schnabel ein Fischreiher auf und ab.
Der große See war bereits von kleinen weißen Segeln übersät, die den Eindruck von Sommerfrische und Unbeschwertheit noch verstärkten, der dabei war auch ihn - den Meister der Melancholie - zu erreichen und zu lichten Höhen auffliegen zu lassen.
Eigentlich war das fremde Mädchen nun wahrlich kein fremdes Mädchen mehr, auch wenn er sie erst gestern abend kennen gelernt hatte. Es schien ihm im Gegensatz zu ihr sogar die restliche Welt fremd, und ihre ihm aufgezwungene Abwesenheit sorgte trotz seiner nicht ab zu bremsenden Hochgefühle dafür, den geliebten und gewohnten Schmerz in seiner Brust nicht völlig in Vergessenheit geraten zu lassen.
“Wer den Schnabel zu hoch trägt, fällt leicht auf die Schnauze, äh den Schnabel!”, ermahnte er den stolzierenden Vogel, eines anderen Gesprächspartners ermangelnd.
“Ich jedenfalls mag mir nichts darauf einbilden, wie die anderen Jungen, dass mich ein Mädchen erwählt und mit mir geschlafen hat! Ich persönlich würde es gerne Liebe nennen, und was mich betrifft, so habe ich den Verdacht, dass dieselbige mich ergriffen hat!”
Er machte eine Kunstpause, und der Reiher blieb stehen und drehte ihm aufmerksam den Schnabel zu. Er war sich sicher, dass der königliche Vogel seine hochtrabenden Worte schätzte und verstand. Natürlich hätte er es auch so sagen können, wie seine Klassenkameraden oft geprahlt hatten: “Ich hab die Alte gefickt, und jetzt bin ich verknallt in ihre Mega-Titten!”
Aber das wäre für ihn so gewesen, als hätte man ihm eine leckere Geburtstagstorte gebacken und er würde darauf kotzen, bevor er die Stücke an die Gäste verteilte. Solche Worte wollte er nicht einmal denken. Und von IHR würde er überhaupt niemals zu irgend jemandem reden. Wen ging das überhaupt etwas an, was zwischen ihnen vorging? Dass dies viel mehr war, als irgendein Herumgepoppe, wer würde das schon verstehen?
Natürlich war es ihm klar, dass er nicht erwarten durfte, dass er für dieses lebens- und sex-erfahrene Mädchen mehr bedeutete, als eine schöne Gelegenheit zum spielen. Aber das hinderte ihn selber in keinster Weise daran, ihr sein Herz in die ewige Obhut zu übergeben, unwiederbringlich, ohne Gegenforderungen und komplett mit allem drum und dran.
Ob sie es für immer an sich nahm und behütete, für eine Zeit damit spielte, oder sofort in die Tonne schmiss, das hatte für ihn keinerlei Bedeutung. Ob er glücklich oder unglücklich liebte - am Lieben selber konnte ihn keine Macht dieser Welt hindern.
Und sterben würde er sowieso, ob an tiefem Weltschmerz oder gebrochenem Herzen - er hatte seinen Tod schon seit langem beschlossen und wartete nur noch auf die Gelegenheit, die das Leben ihm bot, diesen auch auszuführen.
Nun musste der wichtige Akt allerdings noch ein wenig nach hinten hinaus geschoben werden, der unerwarteten Umstände halber.
Dies alles erklärte er dem aufmerksamen Vogel, der von Zeit zu Zeit verständig mit dem Kopf nickte, als würde er seine Worte und Erklärungen tatsächlich verstehen.
“Im übrigen…”, und hier beschloss er, dennoch ein wenig zu prahlen - der stolze Reiher würde es ihm schon nicht übel nehmen - “heiße ich nicht mehr Hans - was ist das auch für ein gewöhnlicher, unbedeutender Allerweltsname!” Er warf sich stolz in die Brust, und reckte den Vogel nachahmend, den Kopf nach oben. “Sie hat mich ‘Bitterschokolade’ genannt, was rein der Länge nach schon ein adeliger Name sein muss, und von der Bedeutung her etwas mit ihrer Zuneigung zu mir zu tun hat, was wiederum bedeutet, dass ich für sie von Bedeutung bin! Soviel Bedeutung - und das sage ich hier ganz ehrlich - habe ich in meinem ganzen Leben nicht besessen.
Der Reiher klapperte mit dem Schnabel und stocherte peinlich berührt von soviel Aufgeblasenheit, die nicht die seine war, ziellos im Kies herum.
“Nun gut, ich will es erklären!”, lenkte die frischgebackene Bitterschokolade ein: “Erstens habe ich ihr von meiner Bitterschokolade angeboten, die sonst wirklich keiner mag, und von der ich immer ein paar Stück dabei habe - und zweitens hat sie sie genommen und fast alleine aufgegessen. Drittens findet sie mich süß wie Schokolade, und das bedeutet dass sie das Süße an mir mag, was die anderen Mädchen an Männern und die anderen Männer an sich nicht mögen. Viertens mag sie den bitteren Beigeschmack, das ist meine Traurigkeit - und das wo sie selber ganz anders gestrickt ist, lebensfroher meine ich.
Sie hat sich sogar zwei neue Namen gegeben, weil sie ihren alten Namen hasst und für immer abgelegt hat, aus Gründen, über die sie nicht redet, und die ich dennoch ahne. Der erste Name ist ‘Tinker’ das heißt wohl ‘Zigeuner’ und so nennt sie sich vor allen anderen Leuten, weil sie nirgends bleiben kann und überall weg muss, nach einer Zeit. Und der zweite ist ein geheimer  Name, den nur sie selbst kennt und natürlich jetzt ich, es ist ihr Kraftname und ich darf ihn auch Dir nicht verraten, obwohl Du ein Vogel bist und nicht sprechen kannst, aber soviel sage ich Dir, dass sie eine Motorradlederjacke besitzt, auf die sie sich hinten eine große Sonnenblume gestickt hat. Und wie ich meine Schokolade, hat sie immer Sonnenblumenkerne dabei, und auch davon haben wir gemeinsam gegessen!”
Der Junge schwieg nach so viel Worten, und der Reiher faltete seine Flügel auseinander und schickte sich an los zu fliegen.
“Du siehst, es ist eine große Liebe!”, schrie er ihm nach, als dieser wie ein silberner Pfeil Richtung Sonne aufstieg. Wie zur Bestätigung ließ der stumme Zuhörer einen heiseren Schrei ertönen, dann drehte er ab und war verschwunden.
Sonnenblume hatte  am Morgen, nachdem sie zum zweiten Mal aufgewacht waren  im See gebadet, sich dann angezogen und war durch das hohe Schilf davon getrabt. Er selber hätte auch zur Arbeit müssen, er war Zivildienstleistender und hatte eine Hausmeisterstelle im evangelischen Gemeindehaus.
Aber daran war in seinem aufgwühlten Zustand nicht zu denken. Er wollte lieber am See bleiben und auf Sonnenblumes Rückkehr warten. Als würde sie sich ohne dieses Warten plötzlich in Luft auflösen und für immer aus seinem Leben verschwinden, wie ein Traumbild.
Sie kannte hier einen Typen an der Tankstelle, der sie ohne Papiere (denn sie hatte keine) arbeiten ließ. Sie bediente an den Zapfsäulen und drinnen an der Kasse, und er hatte sie auch in der Werkstatt angelernt. Geld bekam sie keines, doch bei schlechtem Wetter durfte sie in einem Schuppen hinter der Werkstatt übernachten und nach der Arbeit, durfte sie an einem alten Motorrad basteln, welches sie als Lohn geschenkt bekommen würde, sobald es wieder funktionierte und ihre Unrast sie weiter trieb.
Natürlich konnte sich Bitterschokolade denken, dass sie mit dem Typen ebenfalls schlief, als Bonus für das Entgegenkommen. Und mit wer weiß wem sonst noch. Aber das war ihm egal, solange sie ihn nicht hängen ließ. Na jedenfalls fast egal. Er addierte den wurmenden, nagenden Schmerz darüber einfach zu seiner übrigen Seelenpein, und siehe: es machte den Kohl nicht mehr fett.
Was ihn beruhigte war, dass sie von dem Tankstellenheini nicht so geredet hatte, wie sie es tat, wenn sie seinen neuen Namen ‘Bitterschokolade’ in den Mund nahm. Das war, als würde sie sich die Schokolade in Jungenform tatsächlich auf der Zunge zergehen lassen, was ihn wiederum daran erinnerte wie sich diese Zunge auf ihm und in seinem Mund angefühlt hatte, was wiederum jeglichen Anflug von Eifersucht in ihm zerstreute.
Sie konnte jede Menge Heinis haben, die sie umgarnte, damit sie ihr das Leben erleichterten, und die sie für immer verließ, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn sie in die nächste Stadt zog - aber für sie würde es nur eine einzige Bitterschokolade geben und die würde bis zu ihrem womöglich baldigem Ende niemals von ihrer Seite weichen, egal wohin sie ging.
Mit diesen heroischen Gedanken im Kopf starrte er ins wogende Schilf, als könne sein Blick sie daraus hervor gebären. Doch das Gras war störrisch und gab sie nicht her, obwohl bereits die Zeit da war, wo sie zurück sein  wollte. Ein so freies Wesen wie sie, war sicher nicht pünktlich, fiel ihm ein.
So merkte er nicht, dass sich eines der hübschen kleinen Segel draußen im See von den übrigen löste und rasch größer wurde, so lange bis ein Schatten auf ihn fiel und eine fröhliche Stimme - nicht ganz unbekannt - ihm zu rief: “Ich will nicht stören, auch wenn ich nicht weiß, was an dem blöden Schilf so furchtbar interessant ist, aber hier ist ein seetüchtiges Boot, und hast Du Dir nicht immer gewünscht in einem solchen zu fahren?”
Das also hatte die Verspätung ausgelöst. Bitterschokolade errötete, weil er schlecht über sie gedacht hatte, wo sie ihm nur eine Freude hatte machen wollen. Er hatte nämlich erwähnt, wie gerne er einmal selber segeln würde.
Natürlich hatte keiner von ihnen einen Segelschein, und er wusste ganz genau, dass sie das Boot geklaut oder von einem Heini abgestaubt hatte, aber das war ihm egal.
“Aye Käptn!”, rief er, sprang auf und legte die Hand an die von ihm gedachte Mütze.
Fortsetzung folgt