Abenddämmerung
Es gibt verschiedene Wege mit dem Schmerz umzugehen. Dem Schmerz, in diesem Leben letztendlich auf sich allein gestellt zu sein. Dem Schmerz, keinen Sinn des Daseins entdecken zu können, es sei denn man ist unehrlich genug - wie die meisten Menschen es sind - und erfindet sich einen.
Den Schmerz, den Gewalten des Zufälligen ausgeliefert zu sein, der Mühle der Zwänge, Regeln und scheinbaren Gegebenheiten, des Unabänderlichen.
Der Schmerz, in einen schweren, begrenzten Körper eingesperrt zu sein, ohne Aussicht, diesem entkommen zu können, es sei denn durch den Tod.
Bitterschokolade hatte den Weg der Hingabe gewählt. Kein sehr populärer Weg in einer Gesellschaft, die Ablenkung, Zerstreuung, Konsum und Ersatzbefriedigung auf ihre Fahnen geschrieben hat. Weswegen er selber eben auch nicht  populär war, sondern allein.
Der Weg der Hingabe bedeutet, das sich Fallenlassen in den Schmerz hinein, nicht voller Ablehnung und Selbstmitleid, sondern aufmerksam, in der Hoffnung ihn eines Tages zu verstehen, zu durchdringen.
Da die Folge davon tiefe Melancholie ist, liebte Bitterschokolade es, in der Abenddämmerung am See zu sitzen und Mundharmonika zu spielen.
Die Dämmerung hüllte die Berge am anderen Ufer in schattenhaftes Grau, und eine Decke aus Nebelschwaden zog sich allmählich über das weite Wasser, als wolle der See sich nun ebenso schlafen legen, wie die Ortschaften im weiten Rund, deren warme Lichter nun nach und nach spärlicher durch den Dunst drangen.
Der Junge am Kiesstrand des Ufers hatte sich auf einen Steinblock in Form eines großen Würfels gehockt, und untermalte die ‘Caspar-David-Friedrich-Stimmung’ mit seidenfeinen Klängen. Als würden die unerlösten Seelen aus der Unterwelt aufsteigen und einen sehnsuchtsvollen Gesang aus melodischen Seufzern anstimmen - so interpretierte es jedenfalls Sonnenblume, die sich - ohne dass der Junge es merkte, unweit seines steinernen Thrones in einem ausgedienten, halb zerborstenen Ruderboot niedergelassen hatte.
Auf dem Rücken zwischen den Bootswänden hingestreckt, war sie weder für den melancholischen Mundharmonikaspieler zu sehen, noch erblickte sie die abendliche Stimmung, welche seine Musik interpretierte und untermalte.
Ihr Blick richtete sich allein in den tief azurblauen Abendhimmel, dessen hoch gewölbte Kuppel an den Rändern noch helle Pastell-Töne in rosa, violett und zartem Hellblau aufwies, und dessen Zenit bereits mit dem Licht seiner nachtaktiven Himmelskörper gesprenkelt war.
Sonnenblume trug eine lange, weite Hose aus dunkelbraunem groben Segeltuch, darüber fiel ein blaukariertes, verwaschenes Männerhemd. Ihr Base-cap hatte sie ein wenig in den Nacken geschoben, um die Sterne besser betrachten zu können, so dass sich ein paar Strähnen ihrer wirren schwarzen Locken darunter selbst befreiten und sich frech über ihre aquamarin-blauen Augen und die von Sommersprossen übersäte Stupsnase legten. Die Hälfte davon blies Sonnenblume energisch weg, die andere Hälfte sog sie zwischen ihre leicht gewölbten Lippen und kaute darauf herum. Das half ihr beim Nachdenken. Obwohl sie im Gegensatz zu Bitterschokolade eher selten nachzudenken pflegte, und auf ganz andere Art und Weise.
Seine Gedanken waren eher philosophischer, analytischer oder eben melancholischer Natur, ihre wurzelten in der simplen Lebenspraxis, und ihr Antrieb war eher ein Gefühl im Bauch, als eine Sehnsucht in der Brust.
Sonnenblume hatte einen anderen Weg gefunden, mit dem oben genannten Schmerz umzugehen. Sie räumte ihm volles Daseinsrecht ein, und bemühte sich nicht im geringsten darum ihn ihrem Leben fern zu halten. Im Gegenzug dazu nahm sie sich allerdings das Recht heraus, in und trotz seiner Allgegenwärtigkeit sich das Leben nach ihrem eigenen Gusto einzuverleiben und zu geniessen, ohne den Schmerz auch nur mit einem Wimpernzucken zu würdigen. Sie kannte ebenfalls kein Selbstmitleid, jedoch auch keine Sehnsucht oder Hoffnung, dafür aber das Glück der Gegenwärtigkeit.
Was im Moment darin bestand, gemütlich auf ihrem alten, zerfetzten Armee-Schlafsack zu liegen, die Sterne an zu starren und den Melodien zu lauschen, die der Wind zu ihr herüber trug.
Die Frage, die sie beschäftigte war, ob sie im Verborgenen bleiben, und warten sollte, bis der Junge gegangen war, oder - ganz gegen ihre Gewohnheit - ihren geheimen Schlafplatz verraten und sich ihm zeigen sollte.
Die Frage erübrigte sich, als die schwebende Melodie ausklang und ohne Vorwarnung die leisen, sanften Worte ertönten: “Ich weiß, dass Du da bist...Ich hoffe ich störe dich nicht, ich werde auch gleich gehen…!”
Sonnenblume blies erstaunt die übrigen Haare aus dem Gesicht und hob den Kopf ein wenig, um über den Rand des verwitterten Ruderbootes zu sehen: Still und regungslos, wie eine Statue hob sich die Silhouette des Jungen gegen den im Dunkel versinkenden Abendhimmel ab. Er hatte nicht einmal her gesehen, und doch war sich Sonnenblume absolut sicher, dass er sie gemeint hatte, so waren ihr seine geflüsterten Worte in den Bauch gefahren.
Sie verwarf sofort den einschiessenden Einfall, er habe ihre Gedanken gelesen, und machte sich innerlich bereit zu kontern um ihm nicht den Sieg zu lassen, ihr Versteck entdeckt zu haben. Erstaunt beobachtete sie sich selbst daher dabei, wie sie sich lediglich im Boot hinsetzte und gemeinsam mit dem fremden jungen Mann über den See in Richtung der Berge starrte, wo ein letztes Licht in der Almhütte unter dem höchsten Gipfel aufblinkte, wie ein Leuchtfeuer in der Nacht.
In der anschließenden, tiefen, nur durch das Zirpen der Grillen, das Rascheln der brütenden Vögel im Schilf und dem Schrei einer verspäteten Möve, unterbrochenen Stille, konnten die Beiden ihre Gefühle gegenseitig so deutlich spüren, als wären diese aus fester Materie, die sie mit den Händen in der Dunkelheit betasteten. Der Schmerz brach unerwartet und unkontrollierbar hervor und griff nach ihren Herzen, als hätten ihre Versuche ihn zu bannen und zu zügeln nie eine Wirkung auf ihn gehabt.
Gut, dass man Tränen in der Dunkelheit nicht sehen kann, dachten sie, und wunderten sich, dass sie nach einem Anflug plötzlicher Panik und Fluchtgedanken immer noch da saßen, als wären sie eingewurzelt.
Vor ihnen sprang ein großer Fisch aus dem Wasser und verschwand aufplatschend wieder darin, konzentrische Wellenringe auf der Oberfläche zurück lassend.
Sonnenblume konnte spüren, wie sich ebensolche Kreise um sie beide herum bildeten und über das ganze Universum hin ausbreiteten. Die Sterne flackerten kurz, als die Wellen bei ihnen ankamen und einer löste sich und fiel vom Himmel herab.
“Eine Sternschnuppe!”, flüsterte Bitterschokolade, “Wir dürfen uns etwas wünschen…!”
Er wünschte für sein Leben gerne, da er ein Kind der Sehnsucht war. Er dachte dabei an einen großen, geheimen Wunsch, den man nicht aussprechen durfte, und der möglichst selbstlos sein musste.
Sonnenblume war ein Kind der Gegenwart und der Praxis und sie antwortete prompt laut: “Ich wünsche mir, dass Du zu mir ins Boot kommst!”
Der fremde Junge, den sie später einmal Bitterschokolade taufen würde, sog pfeifend den Atem ein und schwieg überrascht und verwirrt. Für einen Moment bereute er seinen Mut, als ihm wieder einfiel, dass er auf Grund mangelnder Beachtung seitens des anderen Geschlechtes bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, Erfahrungen mit Mädchen zu sammeln, und ihnen normaler Weise sicherheitshalber aus dem Weg ging, um nicht Gegenstand ihres Spotts zu werden.
“Ich an Deiner Stelle würde es tun, bevor ich es mir anders überlege!”, wiederholte Sonnenblume, der  eingefallen war, dass sie eigentlich Angst vor Männern hatte, und deren Nähe nicht aushalten konnte.
“Scheiß drauf!”, sagte sich der Junge innerlich, als er blitzschnell begriff, dass ihm Nachdenken in diesem Fall nichts nützen, und er vom Leben keine weitere Gelegenheit bekommen würde.
Er ließ seine Harmonika in die Hosentasche gleiten, kletterte von seinem Podest herunter und versuchte cool zu wirken, als er völlig verunsichert zum alten Boot schlenderte.
Sonnenblume lächelte, als sie seine Schüchternheit und Unbeholfenheit bemerkte und rückte ein ganzes Stück bei Seite um ihm genug Sicherheitsabstand zu gewähren.
“Darf ich mich auf den Schlafsack setzen?”, fragte er dennoch, bevor er es endgültig wagte zu ihr ins Boot zu klettern.
Fortsetzung folgt