" Die eigenen Kinder sind der Schlüssel zum Herzen. Und genau aus diesem Grund ist es wichtig, dass man jederzeit weiß, wo sie sind, nicht wahr Detective Jennings?"
Diese beiden Sätze auf dem kleinen Papier geisterten mir immer wieder im Kopf herum. Es brauchte nicht viel, um zu verstehen, auf was er eigentlich hinaus wollte. Er spielte nicht nur auf das jetzige Opfer an, sondern auch auf Tyler. Ich wusste, dass er mich aus der Reserve locken wollte und für einen kurzen Moment glaubte ich tatsächlich, dass dieser Verrückte irgendetwas mit meinem Sohn angestellt hatte. Doch Jonathan war derjenige, der sich nicht aus der Ruhe bringen ließ und mich und Lina zurück in die Realität holte.
„Wo ist er?“ wiederholte Jonathan jetzt ungeduldig.
Lina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte ihre Fassung wieder zu gewinnen, was ihr sehr schnell gelang. Für mich war es nicht verwunderlich, sie kannte ihren Job und da war Schwäche nicht unbedingt angesehen. Und dennoch sah ich in ihren Augen all den Kummer, den sie in sich trug. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und ihr gesagt, dass alles in Ordnung wäre.
„Ich werde ihn anrufen!“ sagte ich entschlossen und Jon nickte mir zu.
Ich holte das Handy aus meiner Hosentasche und wählte Tylers Nummer, in der Hoffnung, dass er abnehmen würde. Aber ich wurde enttäuscht. Alles was ich zu hören bekam, war die Stimme der Mailbox. Tylers Handy war aus und die Übelkeit, die in mir aufstieg wurde von Sekunde zu Sekunde immer schlimmer. Sollte das etwas bedeuten? Es waren jedenfalls keine guten Vorzeichen.
„Es ist aus!“ sagte ich trocken.
„Hört zu, ich denke nicht, das dieser Psychopath eurem Jungen etwas angetan hat. So dumm wird er nicht sein. Ich schlage vor, wir überstürzen nichts. Es kann auch gut sein, dass sein Akku einfach leer ist.“ Jonathan schaute auf seine Uhr.
„Es ist halb zwei. Ich nehme an, dass er noch in der Schule ist?“ richtete er seine Worte an Lina und die bestätigte es mit einem Nicken.
„Also gut, Mason und ich fahren jetzt dort hin.“
Irgendwie beruhigten mich Jons Worte. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, das alles allein bewältigen zu müssen. Es machte mich eher wütend, dass ich mich so hinreißen ließ. Das ich auf die Spielchen von diesem Verrückten ansprang wie ein räudiger Hund. Ich musste aufpassen, dass ich nicht komplett den Verstand verlor.
„Ich werde nach Hause fahren und nachschauen, ob er bereits dort ist!“ sagte Lina und stand auf.
„Mason, ich möchte, dass du mich anrufst, sobald ihr an der Schule seid. Der Weg dorthin ist kürzer als zu mir nach Hause!“ Sie warf mir einen Blick zu, der mir sehr vertraut war. Obwohl wir beide schon eine Weile getrennt waren, in einem Punkt werden wir uns wohl immer einig sein. Wenn es um unseren Sohn ging, dann würden wir zusammen halten, egal in welcher Situation.
„Und Jonathan hat Recht. Lass das mal versorgen. Du siehst furchtbar aus.“ Sie deutete auf meinen Kopf.
Als Lina den Raum verließ, wandte ich mich an Jon.
„Dieses Arschloch spielt mit uns. Er spielt mit MIR!“
„Du darfst dich nicht darauf einlassen, Mason. Das ist das, was er will. Dich verunsichern. Und sobald du unsicher bist, machst du Fehler. Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen. Und jetzt mach erst mal dein Gesicht sauber.“
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Nachdem ich ich mir auf der Toilette im Nebenraum das Gesicht gewaschen hatte, zog ich mich noch schnell um. Ein neues Hemd und eine Jacke, die noch im Spind hing. Zugegeben, als ich in den Spiegel schaute, sah ich nicht sonderlich gut aus. Die ganze Situation machte mir zu schaffen. Ich dachte an die Eltern des kleinen Mädchens, welches nun bestimmt schon in der Autopsie lag. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken, denn der Gedanke daran, dass wir ihr noch einen Besuch abstatten mussten, erfreute mich keineswegs.
Jonathan wartete im Wagen auf mich. Nervös trommelten seine Finger auf dem Lenkrad. Er würde es sich nie eingestehen, aber es belastete ihn genauso wie mich und ehe wir diesen Schweinehund nicht hatten, würden wir auch nicht eher ruhen. Soviel stand schon mal fest.
„Lass uns fahren!“ sagte ich, als ich einstieg.
„Na dann hoffen wir mal das Beste, Mason!“ antwortete er und fuhr los.
Die Schule war nur zehn Minuten vom Revier entfernt. Jonathan bog rechts in die Straße ein und ich sah schon von weitem, dass etwas nicht stimmte. Ich zählte mindestens vier Einsatzfahrzeuge der Polizei, einen Krankenwagen und die Feuerwehr.
In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher als einen Anruf von Lina mit der Bestätigung, das Tyler schon zu Hause eingetroffen wäre.
Langsam stieg ich aus dem Auto.
„Jennings, Gott sei Dank!“ atmete Officer Leeman sichtlich erleichtert aus.
„Eric, was zum Geier ist hier eigentlich los?“ wollte ich wissen, immer mit dem Hintergedanken, dass das hier nur ein schrecklicher Albtraum sein musste.
„Wir haben vor knapp einer Viertelstunde einen Anruf erhalten. Ein Mann hat elf Kinder und eine Lehrerin in seiner Gewalt. Alle anderen hat er gehen lassen. Wir haben sie erst einmal in der Turnhalle untergebracht. Unser Team benachrichtigt die Eltern, wobei ich vermute, dass die Fernsehteams nicht mehr lange auf sich warten lassen werden.“
„Wissen Sie, ob sich mein Sohn darunter befindet?“
„Da kann ich Sie beruhigen, ein Office hat ihn persönlich nach Hause fahren.“
Meine Erleichterung war riesengroß. Aber das Problem an sich war deshalb noch nicht gelöst. Warum nahm jemand ausgerechnet elf Kinder als Geisel? Meine Vermutung war, dass dieser Psychopath etwas damit zu tun haben könnte.
Ich spürte, dass mein Handy vibrierte. Stirn runzelnd sah ich auf das Display. Unbekannte Nummer. Ich nahm ab.
„Jennings?“
„Herzlich Willkommen Detevtive Jennings. Herzlich Willkommen zu meiner Party. Ich bin wirklich sehr froh, dass Sie es noch rechtzeitig geschafft haben. Denn wissen Sie, ohne Ihre Anwesenheit wäre es nur halb so spannend.“
Ich gab Jon ein Zeichen, dass er den Telefonanruf zurück verfolgen sollte. Insgeheim wusste ich, wen ich hier dran hatte, aber wäre er wirklich so dumm, sich auf frischer Tat ertappen zu lassen?
„Oh, oh, oh, ich würde Ihnen raten, Detective Rames wieder zurück zu pfeifen. Wenn Sie sich die Mühe machen wollen, mich zu orten, dann wird dieser Versuch kläglich scheitern. Sie können meinen Standort nicht heraus finden. Aber Sie können sich sicher sein, dass ich mich in der Schule befinde. Mit all den wunderbaren Kindern hier.“
Allem Anschein nach, beobachtete er uns, was ihm einen kleinen Vorteil verschaffte.
„Was sind Sie nur für ein krankes Arschloch? Was wollen Sie mit all den Kindern da drin?“
„Hmmm. Eine berechtigte Frage. Und hier ist meine Antwort: Vielleicht werde ich Sie alle töten. Jeden Einzelnen von ihnen. Es sei denn, Sie geben mir einen Grund, dass ich mir das Ganze noch einmal überlege.“
„Wer sind Sie?“
„Denken Sie, dass es eine Rolle spielen wird? Aber gut, ich meine, wir kennen uns nun schon seit einer Weile, nicht wahr? Immerhin bearbeiten Sie meine Fälle. Und da Sie den Zettel in der Akte gefunden haben, gehe ich davon aus, dass Sie mich ernst nehmen. Oder glauben Sie tatsächlich, dass ich so bescheuert wäre, ihren Sohn zu entführen?“ Seine Stimme war zwar ruhig, aber in ihr lag eine Aggressivität, die mir Unbehagen bereitete.
„Sagen Sie mir, was Sie wollen. Und ich werde sehen, ob ich etwas tun kann.“
Sein Lachen hallte in meinen Ohren wider, aber wenig später verstummte er.
„Sie wollen sehen, ob Sie etwas tun können? In Ordnung, ich werde Ihnen eine Chance geben, Detective Jennings. Immerhin sind Sie mir ja doch ein wenig sympathisch. Aber wenn Sie nur einen Fehler machen oder mich linken, dann schwöre ich, dass ich meine Drohung wahr mache.
Sie werden Sich mit großer Sicherheit an den Holly Allister- Fall erinnern!? Ganz bestimmt, denn Sie waren der leitende Ermittler.“
Ich versuchte, mich zu erinnern. Holly Allister wurde Opfer einer Gewalttat. Man hatte sie vergewaltigt und erwürgt.
„Sie haben einen Mann dafür verhaftet. Einen Mann, der zehn Jahre unschuldig für eine Tat, die er nicht begangen hat, im Gefängnis saß. Glauben Sie sich zu erinnern,wer das gewesen sein könnte, Detective Jennings?“
Ich schluckte schwer, weil ich nun eins und eins zusammen zählte. Ich erinnerte mich an den Namen und mir wurde bewusst, wen ich hier am Telefon hatte. Erin Dexter.
Er machte wirklich nicht den Anschein, ein so skrupelloser Mann zu sein, doch man fand seine Haare an der Kleidung des Opfers, sowie Fingerabdrücke an Hollys Hals.
„Sie haben dieses Mädchen umgebracht, Dexter!“ sagte ich.
„Nein! Nein! Nein! Sie lügen!“ schrie er mich an. „Ich habe mit ihr geschlafen, das ist richtig, aber ich habe sie nicht umgebracht. Niemals. Sie haben sich das damals wirklich sehr schön zurecht gerückt. Aber heute bestehe ich darauf, dass Sie den Fall neu aufrollen. Haben Sie das verstanden? Ich möchte, dass Sie sich den Arsch aufreißen, um zu beweisen, dass ich unschuldig bin. Ansonsten werden hier alle sterben!!!!“
Er legte einfach auf.