Anita
Es war einmal ein alter Seemann, der jedes Jahr zu gleichen Zeit mit seinem kleinen Kahn hinausfuhr. Er kreuzte dann mit gerunzelter Stirn und tiefhängenden Schultern die Meere und bewegte sein kleines Schiff sanft durchs Wasser.
Sein Schiff hieß Anita. Anita ist kein besonderer Name. Er ist weder besonders lang, noch besonders fremdartig, aber für den alten Mann hatte er den schönsten Klang von allen. Er liebte das „A“ auf seiner Zunge, während es sich zum „N“ verengte. Liebte das spitze „I“ vor dem gehauchten „Ta“. Manchmal stand er stundenlang auf dem schaukelnden Deck, sah in die Ferne und murmelte das Wort leise vor sich her.
Wenn er zu dieser Jahreszeit ausfuhr, fuhr er stets allein. Er fuhr allein mit seinen Gedanken, allein mit Anita, die ihn zuverlässig und ruhig über die Wellen trug.
Seit er sie gebaut hatte, aus selbst gehacktem Holz, seitdem er jeden Nagel selbst hineingeschlagen hatte, seitdem er den Namen ins Holz gebrannt und den Mast errichtet hatte fuhr er nur an diesem einen Tag mit ihr hinaus.
Er fuhr hinaus, wenn es regnete, wenn es stürmte, bei drückender Hitze und eisiger Kälte, bei peitschenden Stürmen und der größten Flaute. Nie verschob er seine Fahrt auch nur um einen Tag, auch nur um eine Stunde.
Und er fuhr, ohne, dass ein anderes Wort als Anita über seine Lippen gekommen wäre.
So fuhr er auch dieses Mal, die knorrige Hand an der abgegriffenen Pinne, den Blick aus den grauen Augen starr nach vorne gerichtet und mit ihrem Namen auf den zerrissenen Lippen.
Das Wetter war ideal. Eine sachte Brise wehte über das Wasser, die Sonne schien, aber jedes Mal, wenn es ihm zu heiß wurde, verkroch sie sich hinter einer kleinen Wolke.
Außer einem Laib Brot hatte er nichts dabei. Für diese Fahrt brauchte er keine Karte und auch keinen Kompass. Sein Herz zeigte ihm den Weg, Jahr für Jahr und Anita folgte ihm treu.
Und während er fuhr, dachte er. Er dachte viel und doch dachte er nur an eine Sache. Er dachte an sie.
Er dachte, an ihr wunderschönes rabenschwarzes Haar, das in den Jahren ergraut war. Er dachte an die leuchtend grünen Augen, die in jeden Moment mit Liebe angesehen hatten. Er dachte an ein gelbes Kleid im Wind und an rosige Lippen.
Er dachte an sie, wie am ersten und am letzten Tag. Und während er an sie dachte, schlug sein Herz schneller und ein seichtes Lächeln erhellte das alte Gesicht.
Er dachte an ihre sanfte Stimme und ihr glockenhelles Lachen. Er dachte an die weiche Haut unter ihrem Bauchnabel und an den Geruch ihrer Haare. Er dachte an den Leberfleck in ihrem Dekolleté und an den goldenen Ring, den er ihr gegeben hatte.
Aber er dachte auch an das letzte Mal, als er sie gesehen hatte. An ihr bleiches Gesicht, auf dem weißen Kissen. Er dachte an ihre Lippen, die sich kalt unter seinen angefühlt hatten und an ihre zierliche Hand, die in seiner erschlafft war. Er dachte an das Leuchten in ihren Augen, das langsam verschwand. Und er dachte an ihren Namen, der der schönste war, den er je gehört hatte.
An all das dachte er, während er fuhr, an diesem einen Tag im Jahr. Als sie ihn mit treuen Armen dorthin trug, wo sie ihm am nächsten war.
Jedes Jahr fuhr er hinaus und jedes Jahr kehrte er zurück. Seit fünfzehn Jahren fuhr er hinaus und kehrte zurück und fuhr hinaus und kehrte zurück.
Nur dieses Mal fuhr er hinaus und fuhr hinaus und fuhr hinaus und ihre treuen Arme trugen ihn und der Klang ihres Namens begleitete ihn und ihr Lachen lenkte ihn, als er fuhr und fuhr und fuhr und ankam.