Der Einlass begann. Er stand mit seiner Frau in einiger Entfernung. Die Konzertbesucher drängelten zu sehr. Jeder wollte der erste sein. Seine Frau auch. Mühevoll hielt er sie davon ab, sich ins Getümmel zu stürzen.
„Hab Geduld. Oder willst du totgetrampelt werden? Das Konzert beginnt eh erst in zwei Stunden.“, versuchte er sie zu beruhigen.
„Aber ich bin so aufgeregt. Endlich darf ich sie live erleben. Ich wollte so gern ganz vorne stehen. Sie hautnah sehen.“
„Bleib ruhig. Ich kann dich ja verstehen. Ging mir damals nicht anders. Als ich bei meinem ersten Konzert war, schlich ich mich heimlich nach von. Reihe für Reihe. Vorn angekommen, spürte ich den Druck der Masse. Denn alle wollten nach ganz vorn. Zwar konnte ich die Band jetzt ganz nah sehen, aber es machte mir keinen Spaß mehr. Immer wieder wurde ich in den Rücken gestoßen. Die Absperrung bekam ich in den Bauch. Ich war froh, als das Konzert zu ende war. Die Massen los hatte. Noch Tage danach spürte ich die Schmerzen.“
„Das ist mir egal. Ich bin Schmerzen gewöhnt. Ich will ganz vorne stehen.“
„Und ich darf mir wieder das Gejammer von dir anhören. Mich gehst du ja bloß an. Niemanden sonst. Aber dafür bin ich ja dein Mann geworden. Zumindest war ich es einmal. Schließlich hast du dich von mir getrennt. Warum habe ich dir die Karten geschenkt?“
„Weil du ein ganz Lieber bist?“
Weil ich ein Vollidiot bin. Jedes mal bin ich der Ochse, der alles abkriegt. Von wegen geteilter Schmerz, ist halber Schmerz. Aber der Tag der Rache ist gekommen.
„Wenn du es sagst. - Sieh mal. Es sind schon weniger geworden. Noch ein paar Minuten und niemand drängelt mehr.“
Auch wenn sie ihm gesagt hatte, das sie beide getrennt sind, gab es nicht wirklich einen Unterschied zu vorher, als sie noch zusammen waren. Sie hatten zwar jeder eine eigene Wohnung. Aber die meiste Zeit hielt er sich bei ihr auf. Manchmal übernachtete er auch bei ihr und hatte mit ihr Beischlaf.
Kurz nach ihrer Entscheidung, sich von ihm zu trennen, hatte sie eine neue Beziehung gehabt, die sehr schnell wieder beendet war. Dabei hatte sie immer behauptet, das sie, wenn sie sich trennten, vorerst keine neue Beziehung haben wollte.
Seit ihrer letzten Trennung, führten sie ihr reguläres Leben fort, als wäre nichts gewesen. Außer, das er nur selten neben ihr schlafen durfte, gab es keinen großen Unterschied zu vorher. Bis auf eine Tatsache...
„Jetzt können wir doch reingehen. Es steht kaum noch einer an.“, bat sie.
„Wir könnten jetzt dahin gehen. Aber was würde das bringen? Nichts. Rein gar nichts.“
„Wie meinst du das“
„Wenn du ehrlich bist, sind wir nicht wirklich getrennt, sondern immer noch ein Paar. Ab und zu wirfst du mir einen deiner verliebten Blicke zu. Auch wenn du es nicht zugeben willst. Wir machen vieles gemeinsam. In meiner Wohnung bin ich nur selten. Dafür schmeißen wir gemeinsam deinen Haushalt. Du hattest dich damals nur von mir getrennt, weil du dich in einen anderen verguckt hattest und du kein schlechtes Gewissen gegenüber mir haben wolltet, weil du mit jemand anderen schläfst. Nach ein paar Tagen kamst du ja schon wieder zurück zu mir. Daraus schließe ich, das es nichts Ernstes war, sondern nur Sex. Ich hatte dir verziehen. Bis ich ihn wieder traf und er mir beichtete, das ihr zwischenzeitlich wieder Sex miteinander hattet. Du hattest mir gesagt, das ich der Einzigste bin, mit dem du schläfst. Daraus folgt, du hast mich angelogen und hintergangen. Dafür soll ich dich belohnen? Das sehe ich doch gar nicht ein. Hättest du zugegeben, das du mit noch einem anderen Sex hast, dann wäre es etwas anderes gewesen. Schließlich hattest du dich von mir getrennt. Aber so...Ich habe die Karten verkauft. Aus diesem Grund und weil ich es leid bin, jedes mal von dir angegangen zu werden, obwohl ich nichts dafür kann, das es dir mies geht, oder dir jemand blöd kam. Ich weiß, das es fies von mir findest, erst mit dir hier her zu kommen und dir dann zu sagen, das ich die Karten verkauft habe. Aber ganz so fies ist es nicht. Ich stand schon oft hier draußen und hörte mir die Konzerte an, die da drin gespielt wurden.“
„Warum machst du das? Das kann doch keine Liebe sein. Die verarscht dich in einer Tour. Treibt es mit allen und jeden. Im Chat schrieb sie fröhlich, das sie sich freue das „Juhu, ich bekomm mein Schwanz wieder in den Arsch gesteckt“. Und damit war bestimmt nicht deiner gemeint. Glaubst, es liegt wirklich nur an ihrer Vergangenheit, das sie jeden Schwanz nimmt, den sie kriegen kann? Lass sie fallen. Du machst dich nur selber kaputt.“
„Das will ich alles gar nicht wissen. Was glaubst du wohl, warum ich jeden Tag saufe? Damit ich all das nicht mitkriege. Ich weiß, das sie eine Schlampe geworden ist und sich von jedem durchvögeln lässt. Aber ich weiß auch, das das Leben irgendwann ein Ende hat. Eines Tages werde ich sterbe. Ich habe so eine Sehnsucht danach. Du glaubst gar nicht wie sehr ich mich danach sehne. Sieh mich an. Weder bin ich eine Schönheit, noch kann ich mit was andrem dienen. Hab kein Geld, kein Haus, kein Auto. Das dritte Bein ist auch nicht der Bringer. Weder optisch, noch technisch. Was aber nicht am Suff liegt. War schon immer so.
Ich habe mein Leben schon vor Jahren vesaut. Nicht vorher nachgedacht, bevor ich was tat, oder sagte. Viel zu oft habe ich mich in die Nesseln gesetzt. Scheiße gebaut. Das ist nun die Strafe dafür. Bitte lass mich mit dem ganzen Scheiß in ruhe. Sag mir nie wieder, das meine Alte mit einem andren Kerl...Ich will es nicht wissen. Nur vergessen. Sterben.
Vor Jahren hatte ich schon versucht, von ihr loszukommen und kläglich versagt. Nun ist es zu spät. Während sie sich flachlegen lässt, sauf ich mich langsam zu Tode. Ich lass mich dabei weder von dir, noch von sonstwem davon abbringen.“
„Du bist ein Vollidiot. Wegen einer Frau versaust du dir dein ganzes Leben. Weißt du, wie viele Frauen es da draußen gibt, die nur auf dich warten? Die dir zu Füßen liegen würden, wenn du es nur wolltest?“
„Lass mich. Ich will dieses Leben so schnell, wie nur möglich hinter mich bringen. Vielleicht habe ich ja im nächsten Leben mehr Glück. Und wenn nicht, dann versuche ich Drogen. Haschisch, Koks, Gras, Heroin und was weiß ich, was es da noch gibt. Immer rein in Kopf.
Wenn ich in der Hölle landen sollte, habe ich wenigstens einen warmen Arsch. Und schlimmer, als das hier, kann es da unten auch nicht sein.“
„Mir fehlen die Worte. Ich meine, du bist doch nicht blöd. Man kann sich mit dir normal unterhalten. Hast Witz. Bist intelligent. Wach auf, Junge. Noch ist es nicht zu spät. Ich helfe dir.“
„Glaube mir, es ist zu spät. Meine Kinder sind erwachsen. Ab und zu melden sie sich bei mir. Mit ihrer Mutter wollen sie keinen Kontakt mehr haben. Was ich sehr gut verstehen kann. Denn wer hatte sich in den letzten Jahren um die Kinder gekümmert? War immer für sie da? Hatte stets ein offenes Ohr sie? ICH. Und niemand andres. Nur ich. Ihre Mutter war nur noch im Internet und suchte nach Schwänzen, oder war bei irgendeinem Typen sich durchvögeln zu lassen.
Ich kann dir sagen, man kann einer Frau wirklich die letzte Hirnzelle rausvögeln. Bei meiner Frau habe ich es bemerkt. Sie hat nur noch das Eine im Kopf. Wenn ich ihr was erkläre, versteht sie kein Wort. Dabei erkläre ich es schon für Dummis. Früher war es einmal anders gewesen. Lang, lang ist es her.“
„Du willst dir wirklich nicht helfen lassen?“
„Nein.“
„Bist du zu blöd dazu, dir den Arsch richtig abzuwischen? Wie alt bist du? Zwei? Ich dachte, du wärst fast dreißig. Das ist echt eklig. Das du dich da wohl fühlst, mit Kacke in der Schlüpfer...“, schimpfte er.
Es war nicht das erste mal, das er sich so über sie aufregte. Nicht das erste mal fragte sie sich, was sie an ihn fand. Weshalb sie immer noch bei ihm blieb. Ständig hatte er was an ihr auszusetzen. Warum konnte er sie nicht so akzeptieren, wie sie war? Er hatte sie doch angemacht. Damals. Wie lange war das her? Ein knappes Jahr. Er hatte sie angeschrieben. Immer und immer wieder, bis sie ihn nicht mehr ignorieren konnte. Damals war er noch nett gewesen. Nannte sie Süße. Jetzt, ein Jahr danach, … Was war von dem netten Mann noch geblieben? Außer sein gutes Aussehen, nichts weiter. Seinetwegen hatte sie ihren damaligen Freund verlassen. Der hatte sich wenigstens Mühe gegeben, ihr alles recht zu machen. Im Nachhinein stellte sie fest, das sie es ihm nie leicht gemacht hatte. Irgendwie war sie wie ihr jetziger Freund gewesen. Nur am meckern. Stets wechselte sie ihre Meinung. Stellte Ansprüche. Nun spürte sie, wie es sich anfühlte, so behandelt zu werden.
Ab und zu kam es schon vor, das sie sich sauber glaubte, weil nichts mehr am Papier zu sehen war, aber sie noch nicht ganz sauber war. Das klebte dann in ihrem Schlüpfer. Ihr Ex hatte nie ein Ton dazu gesagt, sondern einfach nur in die Waschmaschine gesteckt. Manchmal hatte er ihr angeboten, ihr den Po zu säubern. Aber sie hatte stets abgelehnt. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr.
„Nimm endlich ab, dann schaffst du es vielleicht...“, hörte sie ihn von fern maulen.
Wenn das nur so einfach wäre. Oft genug hatte sie es versucht. Es kam vor, das sie zwei bis drei Kilogramm Körpermasse verlor. Aber es war nie von Dauer. Ganz egal, was sie auch anstellte. Wie viel sie sich bewegte. Was sie aß. Dabei achtete sich schon auf ihre Gesundheit. Nahm nur wenig Fett zu sich. Nur selten gönnte sie sich etwas Süßes. Und dann auch nur in geringen Mengen. Bewegung hatte sie jeden Tag. Mindestens eine Stunde pro Tag, fuhr sie mit ihrem Rad durch die Gegend. Einkaufen war auch nicht gleich um die Ecke. Und da ihr Freund keine Lust dazu hatte, musste sie es alleine machen. Der Einkauf musste dann vier Etagen nach oben gebracht werden. Kein Fahrstuhl. Treppen.
„Dich hatte es nie gestört, das ich fett bin. Du hast mich aufrichtig geliebt. Begehrt. Ich brauchte nur nackt zu sein, schon stand dein Kleiner.“, seufzte sie, „Hab ich dich wirklich nur deshalb verlassen, weil er geiler aussieht, als du? Wie blöd war ich denn?“
Die Tür knallte zu. Bestimmt war er wieder auf dem Weg in die Kneipe. Mitten in der Nacht würde er wieder zurückkommen und weitermachen, wo er aufgehört hatte. Nur lauter.
Ihr Handy klingelte.
„Ja?“, meldete sie sich zögernd.
„Hast dir ja was Feines geangelt. Die ganze Welt weiß jetzt von deinen Bremsspuren. Warum hast du mich nochmal verlassen?“, sagte er mit sanfter Stimme. Ihr Ex. Er hatte sie nicht vergessen.
„Wie...“ Mehr brachte sie nicht heraus.
„Brauchst Hilfe beim Packen?“
Eigentlich war es ihre Wohnung. Er war bei ihr eingezogen. Einfach so. Ohne zu fragen. Sie konnte doch nicht einfach so ihre Wohnung ihm überlassen. Sie zahlte Miete dafür. Er ließ sich nur aushalten.
„Nein. - Es ist lieb von dir. Aber es ist meine Wohnung. Er hat zu gehen.“
„Schaffst du es allein?“, fragte er.
„Nein.“, gab sie zu, „Im Moment ist er wahrscheinlich in der Kneipe. Vor Mitternacht wird er nicht zurück sein.“
„Pack seine Sachen und stell sie vor deine Tür. Ich wechsle dir das Schloss aus, damit er nicht mehr in deine Wohnung kann. Danach gehen wir zur Polizei und erstatten Anzeige. Ich habe dir versprochen, immer für dich da zu sein. Dir zu helfen, wenn du Hilfe brauchst. Nur deswegen mache ich es. Aus keinem anderen Grund. - In etwa zehn Minuten bin ich bei dir.“
„Danke.“
Es war reiner Zufall gewesen, das sie sich trafen. Über zwanzig Jahre war es her, das sie sich gesehen haben. Noch länger war es her, das sie ein Paar waren. Glücklich? Manchmal. Sie hatten oft Streit gehabt. Meist war sie dran Schuld gewesen. Nur zugegeben hatte sie es nie. Sie war ein Sturkopf gewesen. Hatte viele Probleme gehabt. Freunde, auf die sie sich nie verlassen konnte. Ebenso war ihre Familie gewesen. Dennoch war sie lieber bei denen, als bei ihm. Eine Erklärung hatte sie dafür nicht gehabt. Sie dachte auch nie darüber nach. Ließ lieber andere für sich denken. Aber nicht die, die es gut mit ihr meinten.
Teilweise wusste er, woran es lag, das sie so war, wie sie war. Konnte nur nicht verstehen, warum sie so bleiben wollte. Warum sie sich lieber für andere krumm machte. Weshalb er ihr immer wieder verzieh. Sogar die Seitensprünge verzieh er ihr. Dafür hatte er angefangen zu trinken, um dies zu vergessen. Und während sie immer öfter mit anderen Männern ins Bett ging, trank er immer mehr. Verließ eines Tages die gemeinsame Wohnung und lebte fortan auf der Straße.
Anfangs hatte er keine schwerwiegenden Probleme. Das Amt zahlte fleißig und es war herrlicher Frühling. Nur nachts hatte er Probleme einen Schlafplatz zu finden. Aber das löste sich recht bald, als er auf eine Gruppe stieß, die schon seit Jahren auf der Straße lebten. Sie waren freundlich und schlossen ihn in ihre Gruppe ein. Zeigten ihm das Leben, auf der Straße. Gaben ihm Überlebenstipps.
Die Jahre vergingen. Er dachte nicht mehr an die Frau, die er einst geliebt und geheiratet hatte. Trotz ihrer Art. Auch hatte er keine Sehnsucht nach einem zu Hause. Die Straße war zu seinem zu Hause geworden. Er kannte jeden Winkel. Wusste, wo die meisten Pfandflaschen zu finden waren. Welche ecken er lieber meiden sollte. Irgendwie war er glücklich. Seit dem er auf der Straße lebte, hatte er richtige Freunde. Sie hielten zusammen. Teilten alles. Niemand war allein.
Andernorts verlief es nicht so gut. Das er weg war, bekam sie erst Tage später mit, als sie sah, das seine Briefe ungeöffnet blieben. Ihr war es damals egal gewesen. Schließlich amüsierte sie sich tagtäglich mit anderen Männern herum. Erst als sie ihr letztes saubere Kleid aus dem Schrank genommen hatte, fiel ihr allmählich auf, das er im hause fehlte. Sonst hatte er die Wäsche gewaschen, gekocht, geputzt, sich um die Finanzen gekümmert. Nun hatte sie eine dreckige Wohnung, keine sauberen Sachen und einen Berg Schulden. Gegessen hatte sie ja unterwegs. Doch ging das auf Dauer ganz schön ins Geld. Die Kondome. Das Sexspielzeug. Gleitmittel. Alles bezahlte sie.
Sie verlor ihre Wohnung. Denn niemand war bereit ihr zu helfen. Auch ihre Freunde nicht, für die sie stets alles gegeben hatte. Und so kam es, wie es kommen musste. Sie landete auf der Straße. Auf die Idee, sich den Sex zu bezahlen lassen, kam sie nicht. Ihr war die Lust darauf eh vergangen. Wollte nichts mehr davon wissen.
Jahrelang lebten beide auf der Straße und begegneten sich nie. Bis der Zufall kam. Genau zur silbernen Hochzeit, kreuzten sich ihre Wege. Sie hatte sich stark verändert. Faltig. Ungepflegt. Graues Haar. Er hingegen hatte sich kaum verändert. Ein bisschen älter war er geworden. Aber sein Gesicht hatte sich nur minimal verändert. So erkannte sie ihn auf Anhieb. Ihn, der ihr so vieles verziehen hatte. Der immer rücksichtsvoll zu ihr gewesen war. Den sie nicht zu würdigen wusste. Alles hatte sie selbstverständlich hingenommen. Sah nicht die Mühe, die er sich gemacht hatte.
Sie fiel ihm schluchzend in die Arme. Krallte sich an ihm fest. Presste ihr Gesicht tief in seine Schulter. Er stand nur steif da. Wer war die Frau, fragte er sich. Dann hörte er ihre Stimme. Sie war unverkennbar.
„Es tut mir alles so schrecklich leid, was ich dir angetan habe...“, schluchzte sie.
Er schlang seine Arme um sie und drückte sie fest an sich.
„Ich verzeihe dir.“, hauchte er.
Ein letzter Kuss. Dann schloss er seine Augen.