Nur eine Nähmaschine
Januar 1947
Sie friert. Die unbeschreibliche Kälte durchdringt alles, sogar die beiden Federbetten, in die Mathilda eingewickelt ist. Wie ein Embryo hat sie sich zusammengerollt, die Beine mit den Armen umfasst, den Kopf unter dem Deckenberg verborgen. Durch ein winziges Loch lässt sie ein Minimum an Luft in ihren Kokon. Sie zittert, meint nie mehr aufhören zu können damit. Ihren Gedanken möchte sie eine andere Richtung geben, doch es scheint, als habe diese Kälte längst ihr Inneres erreicht. Nicht einmal in ihrer Vorstellung gelingt es ihr, das Gefühl von wärmenden Sonnenstrahlen nachzuempfinden. Die Welt ist zusammengeschrumpft auf ein alles fressendes Loch aus Eis und Dunkelheit. Stumm scheint sie, diese Welt, denn außer ihrem eigenen Puls hört Mathilda nichts. Sogar Mutters
Nähmaschine, die so oft in den Nachtstunden gerattert und wie ein absurdes Schlaflied gewirkt hat, schweigt.
Wenn doch nur Lissi da wäre, denkt Mathilda. Hat ihre Schwester keinen Nachtdienst im Krankenhaus, schlafen sie zusammen in dem schmalen Bett, eng aneinander gekuschelt. Obwohl sie kaum Platz haben und am nächsten Morgen jeder Muskel, jeder Knochen schmerzt, können sie sich ein bisschen Wärme spenden. Bis vor zwei Wochen haben sie dem gleichmäßigen Geräusch von Mutters Nähmaschine gelauscht, die noch in der Nacht in Betrieb war. Mutter nähte beinahe den ganzen Tag, und Mathilda fragte sich oft, wie sie das aushielt. In einen dicken Mantel gehüllt saß sie an dieser Maschine, so lange, bis sie ihre steifgefrorenen Finger nicht mehr bewegen konnte. Jetzt fehlt dieses vertraute Geräusch. Seit zwei Wochen ist die Nähmaschine weg.
Mathilda rafft sich auf. So etwas wie Trotz
macht sich neben der Kälte breit. Sie erhebt sich, wickelt ein Federbett fest um sich und schlurft zu dem kleinen Tisch am Fenster. Dort liegt ihr Tagebuch. Das Mädchen zieht die dicken Wollhandschuhe über, packt den Bleistiftstummel und beginnt zu schreiben.
Tagebuch
Wir haben nichts mehr zum Heizen. Schon seit einer Woche ist der Ofen aus, und auch der Herd in der Küche ist kalt. Aber zusammen haben wir sowieso kaum Platz, besonders nicht, wenn Ernst da ist und Tante Agnes mal ihr Bett verlässt. Jetzt haben wir den Krieg überlebt, aber dieser erste Winter ist furchtbar. Immer noch strömen die Flüchtlinge ins Land, viele sind so elend. Lissi sagt, im Krankenhaus haben sie keine Betten mehr, so viele unterernährte und halberfrorene Menschen, die Hilfe brauchen. Ach, wir können uns selbst kaum helfen. An den Scheiben ist überall eine
Eisschicht, und ich fürchte, bald kann man das Eis von den Wänden kratzen. Paps hat Papier und dicke Pappe organisiert. Damit haben wir die Fenster verkleidet. Jetzt ist es immer dunkel, und es hilft nicht wirklich gegen die Kälte. Wir werden alle erfrieren. Seit zwei Tagen haben wir nur noch Kartoffeln zu essen. Sie schmecken scheußlich, weil sie gefroren waren. Es scheint an Nachschub zu fehlen, und auch auf die Karten bekommt man nichts, weil eben nichts da ist. Am schlimmsten ist, dass Mama nicht mehr spricht, seit die Nähmaschine weg ist. Dabei hat sie die selbst fortgebracht. Sie hat Kerzen und drei Paar Handschuhe dafür eingetauscht. Ein Paar habe ich letzte Woche zu meinem sechzehnten Geburtstag bekommen, Mutter wollte mir eine Freude machen, denn mit den dicken Fäustlingen konnte ich wirklich nicht schreiben. Ich bin Mutter sehr dankbar. Irgendwie bin ich auch erleichtert, denn diese Näherei war krankhaft. Seit Hannos Tod ist es
wie ein Wahn, als brauche sie diese Maschine, um durch das Rattern den Schmerz zu überdecken. Ich stelle mir vor, dass er in ihren Ohren dröhnt, dieser Schmerz, und immer wieder „Hanno“ schreit. Vielleicht hat sie sich auch so an die Maschine geklammert, weil Hanno sie irgendwo aufgegabelt und ihr zu Beginn des Krieges geschenkt hat.
Manchmal denke ich, es macht keinen Sinn, dass wir überlebt haben. Der unsichtbare Rucksack, den ich schleppe, wiegt so schwer, und ich weiß nicht, wie ich all diese Steine herausholen soll. Warum Hanno? Mein geliebter Bruder? Warum in den letzten Kriegstagen? Sein Leben hatte doch kaum begonnen ...
Mathilda hält im Schreiben inne. Sie schiebt mit ihren inzwischen steifgewordenen Fingern die Pappe vor dem Fenster etwas zur Seite. Natürlich ist es dunkel. Ist ja mitten in der Nacht. Die weiße Eisschicht auf der Scheibe
sieht magisch aus im Licht der beiden Kerzen.
Mathildas Gedanken schweifen ab, gleiten zurück in den Monat Mai, der nun beinahe zwei Jahre zurückliegt.
Zwei Jahre zuvor
Der Krieg war vorbei Es dauerte noch drei Monate, bis sie Riga verlassen konnten, um zurück in die Heimat, nach Hamburg, zu gelangen. Mathildas Vater gehörte der deutschen Besatzungsmacht in Lettland an, und die Familie hatte über ein Jahr in Riga gelebt. Zurück in Hamburg organisierte der Vater nun eine kleine Zweizimmerwohnung, was einem Wunder gleichkam, denn Wohnraum war knapp angesichts der zahlreichen Flüchtlinge, die ins Land strömten. Mathildas Schwester Lissi fand Arbeit im Krankenhaus, und einmal mehr war sie froh, in Riga ihre Schwesterausbildung beendet zu haben.
Von Ernst und Hanno, Mathildas beiden
erwachsenen Brüdern, hatte man noch keine Nachricht. Eines Tages kam der Vater nach Hause und berichtete, dass Ernst in einem Lazarett in Lübeck sei. Er war noch in den letzten Kriegstagen mit seinem Flugzeug abgeschossen worden, hatte aber überlebt. Nun warteten alle, dass er nach Hause kam.
Die Nachricht von Hannos Tod erhielten sie erst vier Wochen später, die schreckliche Gewissheit. Es blieb kaum Zeit zum Trauern, denn das Leben wollte organisiert werden, was nicht einfach war. Mathilda schien es, als sei vieles sogar noch schlimmer als im Krieg. Nur die Bombenangriffe blieben aus.
Die ganzen Kriegsjahre über hatte Mathildas Mutter genäht, sie bekam sogar manchmal Geld. Anderes nähte sie für Freunde, vor allem für Kinder. Immer wenn sie ein Stück Stoff ergattern konnte, zauberte sie daraus etwas Praktisches.
Nach Hannos Tod aber war ihr Nähen zur Manie
geworden. Sie nahm die Vorhänge ab, zerschnitt den Stoff und nähte ihn wieder zusammen. Selten nur noch kam ein wirkliches Kleidungsstück dabei heraus. Einmal, als es kein Garn mehr gab, ließ sie den Fuß der Maschine einfach so über ein Stück Stoff gleiten – hin und zurück, immer wieder. Mathilda war in Tränen ausgebrochen und Lissi hatte die Mutter fast mit Gewalt von der Nähmaschine fortzerren müssen. Der Vater lag nach einer schweren Magenoperation im Krankenhaus und sollte sich lange nicht erholen. Die Mutter nähte weiter, so oft es ihr möglich war. Tante Agnes, Vaters Schwester, nun ganz allein, nachdem ihr Mann gefallen war, lebte in ihrer eigenen Welt des Schweigens, kam zu ihnen in die Wohnung, und es wurde langsam eng. Niemand sprach viel in dieser Zeit, die Stille nahm immer mehr Raum ein. Man trauerte stumm um Hanno. Was gab es schon zu sagen? Das Leben ging weiter, aber
Mathilda empfand es mehr als quälend.
„Du lachst gar nicht mehr“, meinte Lissi eines Tages betrübt zu ihr. Da war Mathilda explodiert. Sie begann zu weinen, mehr vor Wut als vor Schmerz und trat heftig gegen den Schrank.
„Lachen!“, schrie sie. „Worüber denn? Dass Mama nicht mehr redet und wie eine Wahnsinnige näht, dass Paps so krank ist, dass wir immer noch dauernd Hunger haben, dass die Menschen in Ställen und Baracken hausen? Dass Hanno nicht mehr ist? Ich soll lachen?“ Mit verzerrtem Gesicht starrte sie die Schwester an. „Lieber wäre ich tot!“
Lissi schaute erschrocken und wollte Mathilda in den Arm nehmen, was die aber vehement zurückwies.
„Tilda, so darfst du nicht reden. Wir sind so verletzt in unserer Seele, und das Elend ist ungeheuer groß. Aber wir müssen kämpfen und alles tun, damit es besser wird. Das haben wir
doch all die Jahre geschafft.“
Doch Mathilda wollte das nicht hören, ihr verborgener Zorn hatte sich hervorgewagt, sich seine Bahn gebrochen, und der Strom der Wut und Angst war nicht mehr zu bremsen.
Sie rannte an der Küche vorbei, wo die Mutter an der Nähmaschine saß, hielt inne und schrie: „Und du hör endlich auf mit der blöden Näherei!“
Die Mutter hob nicht einmal den Kopf. Mathilda hielt sich die Ohren zu. Das Rattern drang bis in die tiefsten Fasern ihres Körpers und verkündete einen endlos scheinenden Schmerz. Schließlich machte sie zwei Schritte in die Küche hinein auf die Mutter zu und trat mit aller Gewalt gegen die Nähmaschine. Diese schwankte leicht und rutschte ein wenig den Fußboden entlang. Die Mutter ließ kraftlos ihre Hände in den Schoß sinken.
Mathilda rannte hinaus. Sie rannte die Straße entlang, dann den Feldweg, weiter und weiter.
In ihren Ohren dröhnte das Rattern einem Crescendo gleich. Irgendwann ließ sie sich ins Gras fallen. Sie fühlte nichts mehr, nur eine Leere, die sie von innen aufzufressen schien.
Januar 1947
Mathilda schaut auf die aufgeschlagene Seite ihres Tagebuches. ...hatte doch kaum erst begonnen ..., liest sie die letzte Zeile, die sie geschrieben hat. Durch den schmalen Spalt der zurückgeschobenen Pappe dringt ein schwaches, diffuses Licht. Mathilda erschrickt. Es wird schon hell. Lissi wird gleich von ihrer Nachtschicht zurückkommen. Vielleicht bringt sie sogar etwas zum Essen mit. In der Wohnung herrscht nach wie vor Stille. Paps ist wohl schon weg ins Kreiszollamt, wo er seit seiner Genesung als Buchhalter die Konten führt, meist ohne Bezahlung. Aber die würde auch kaum nützen, denn es gibt ja sowieso nichts zu
kaufen.
Mathilda muss nach Tante Agnes und Mama schauen, die im Nebenzimmer schlafen.
Mama macht nichts mehr, seit die Nähmaschine weg ist. Ernst will nachher kommen, und Mathilda nimmt sich vor, mit dem Bruder über Mama zu reden. Vielleicht weiß er Rat. Das Mädchen klappt das Tagebuch zu. Die gespenstische Ruhe jagt ihr einen Schauer durch den Körper. Wie gern würde sie jetzt das Rattern der Nähmaschine hören. Alles wäre besser als Mamas Apathie.
Als Ernst am Spätnachmittag kommt, hat er keine Zeit, sich Mathildas Sorgen anzuhören. Er wirft einen kurzen Blick auf die Mutter, die in dicke Decken gehüllt schon den ganzen Tag auf dem Sofa liegt, und meint dann zu Mathilda: „Komm, wir gehen zum Bahnhof. Da kommt ein Zug aus dem Ruhrgebiet mit Kohlen.“
Die Kohlenlieferungen sind mehr als spärlich, denn jeder Zug ist, wenn er hier ankommt,
schon zur Hälfe ausgeräubert. Außerdem gibt es kaum Bergleute, alle sind tot oder unterernährt, daher wird viel zu wenig gefördert. Aber Ernst meint, man müsse die Chance nutzen. Etwas fiele vielleicht ab.
Lissi ist schon wieder zur Nachtwache aufgebrochen. So gehen Ernst und Mathilda allein durch die Kälte zum Verladebahnhof. Die Geschwister haben vier Säcke mitgenommen. Die Hoffnung auf ein wenig Wärme lässt sie die eisige Kälte nicht spüren. Seit ein paar Tagen hat es auch nicht mehr geschneit, und die Schneeschicht ist festgefroren. Teilweise liegen Eisschichten darüber, und es ist sehr glatt. Mathilda klammert sich an der Hand des Bruders fest. Am Bahnhof ist die Hölle los. Natürlich haben andere Menschen auch von dem Zug erfahren. Es ist immer das Gleiche, denkt Mathilda. Jeder will, jeder braucht, jeder friert.
Sie wühlen sich durch die Menschenmenge. Ernst lässt Mathildas Hand los, und sofort
schieben sich andere Menschen zwischen sie und den Bruder. Plötzlich packt jemand das Mädchen am Arm. Mathilda erschrickt, aber der junge Mann schaut sie freundlich an und meint: „Komm mit, min Deern!“ Dabei zerrt er sie hinter sich her. Und dann sind da Kohlen, und Mathilda sammelt. Sie stopft in den Sack, was sie erwischen kann, rücksichtslos, denkt nur an Wärme. Bald ist der Sack so schwer, dass sie ihn nicht mehr tragen kann. Sie muss ihn mühsam hinter sich herziehen. Der junge Mann ist verschwunden. Schade. Gern hätte Mathilda sich bedankt.
Am Bahnhofsvorplatz sieht sie Ernst, der zwei volle Säcke schleppt. Sein Gesicht ist schwarz, und Mathilda muss plötzlich lachen.
„Du lachst!“, sagt Ernst. „Das ist schön, Tilda.“
Bei diesen Worten verschwindet das Lächeln sofort wieder aus Mathildas Gesicht. Und nun, während sie die Säcke nach Hause schleifen, beginnt das Mädchen zu reden. Sie spricht von
ihrer Angst, die sie um die Mutter hat.
„Wir müssen was machen, Ernst!“ Dringlich, gar nicht mehr kindlich ist ihre Stimme. Ein wenig keucht sie, weil der Sack so schwer ist, oder weil die Last ihrer Sorgen alles zusammendrückt in ihrem Inneren.
„Bei wem hat Mama denn die Nähmaschine eingetauscht?“, fragt der Bruder.
„Ich glaube beim Herrn Mommsen, genau weiß ich es aber nicht.“
Als sie nach Hause kommen, spüren sie ihre Hände nicht mehr. Aber das ist egal. Sie werden ein paar Tage Wärme haben.
„Ich muss noch mal kurz weg“, sagt Ernst und verschwindet sofort wieder.
Mathilda versucht, ihr Gesicht und die Hände zu waschen. Spärlich läuft das eiskalte Wasser aus dem Hahn. Immerhin, ganz eingefroren sind die Rohre noch nicht.
Als sie ins Wohnzimmer geht, sieht sie, dass Mama nicht mehr auf dem Sofa liegt. Nur Tante
Agnes sitzt im Sessel, still und beinahe friedlich. Sie ist in ihrer Welt, und Mathilda hofft, dass es eine gnädige ist.
Auch in dem anderen Zimmer ist Mama nicht. Doch der Vater sitzt am Schreibtisch und trägt Zahlen in ein Heft ein.
„Wo ist Mama?“, fragt Mathilda.
„Stell dir vor, Lissi hat es geschafft, sie mit ins Krankenhaus zu nehmen. Mama kann da ein wenig helfen, das wird sie ablenken.“ Paps strahlt.
Mathilda zweifelt daran, dass es ablenken wird, sagt aber nichts, und der Vater wendet sich wieder seinen Zahlen zu. Man ist sie gewohnt, die Schweigsamkeit.
Ernst ist nach einer Stunde wieder zurück. Zusammen mit seinem Freund Pieter schleppt er ein Monstrum in die Wohnung.
„Mamas Nähmaschine!“ Mathildas Schrei lässt die beiden junger Männer zusammenfahren, die Maschine knallt mit einem dumpfen Schlag auf
den Boden. Mathilda spürt, wie sich ein Knoten löst und einen Stein freigibt, der ihren Magen trotz des Hungers angefüllt hat. Tränen laufen über ihre Wangen. Sie rennt ins Zimmer, schlüpft hastig in die dicke Jacke und läuft gleich wieder hinaus, an dem verdutzten Bruder und seinem Freund vorbei.
„Das muss ich sofort Mama sagen, dass ihre Maschine wieder da ist!“, ruft sie noch und springt die Treppe hinunter.
Ernst ruft ihr hinterher: „Mathilda, bleib hier, das hat doch Zeit!“ Aber das Mädchen ignoriert die Worte.
Ernst schüttelt den Kopf, lächelt aber. So ist seine kleine Schwester. Und er denkt, dass es gut ist, dass sie nicht in der Starre verharrt. Er heizt den Ofen im Zimmer an. Auch in den Herd schaufelt er die so wertvollen Kohlen, schichtet ein wenig Papier darauf und zündet es an. Er bleibt vor dem geöffneten Loch stehen, wartet, bis die Flammen höher züngeln und hält seine
Hände über das Feuer. Nur einen Augenblick diese Wärme genießen. Dann wird er sich Mutters Nähmaschine widmen.
Der Fahrer des Lastwagens sitzt zitternd am Straßenrand, das Gesicht in den Händen vergraben. Es gelingt den Helfern nicht, ihn zum Aufstehen zu bewegen. Nichts nimmt er wahr von dem aufgeregten, hektischen Treiben um ihn herum. Sein ganzes Leben scheint auf diesen einen Moment zusammengeschrumpft, als er das Mädchen plötzlich auf die Straße fallen sah. Er hatte keine Chance.
Lissi fühlt sich jetzt schon ausgelaugt, kaum, dass ihre Schicht begonnen hat. Kommt es ihr nur so vor, oder ist heute besonders viel los? Innerhalb von zehn Minuten sind drei neue Patienten eingeliefert worden. Die Behandlungsräume sind voll, auf dem Gang stehen Betten mit Patienten, die in den Zimmern
nicht untergebracht werden können. Lissi seufzt und fühlt sich an das Feldlazarett in Riga erinnert. Ihrer Mutter hat sie den Auftrag erteilt, Mullbinden aufzuwickeln. Es fehlt an Verbandsmaterial, und Lissi hat versucht, der Mutter die Dringlichkeit dieser Aufgabe zu erklären.
Zwei Sanitäter bringen eine Trage herein, müssen sich in der Enge des Ganges um die Betten herumbewegen. Lissi eilt sofort hinzu, Schwester Carla ist schon an ihrer Seite.
Lissi stockt der Atem, als sie die schmale Gestalt auf der Trage sieht. Etwas in ihr scheint zu zerbrechen.
„Schnell, sie ist schwer verletzt, ein Unfall!“, ruft einer der Sanitäter. Die Worte dringen nicht zu Lissi durch. Mathilda, denkt sie. Raum und Zeit scheinen sich aufzulösen, zu überlagern, und die junge Frau weiß später nicht mehr, wie sie in diesem Vakuum agiert hat, einer Marionette
gleich.
Eine Woche später
Sie sitzen um Mathildas Bett, der Vater, Lissi, Ernst. Paps hält Mathildas Hand. Das Mädchen ist wach, nimmt Anteil.
„Warum kommt Mama nicht?“
Der Vater seufzt. Sie wissen alle, dass Mathilda wartet, oft hat sie diese Frage gestellt. Welche Antwort soll man ihr geben? Dass die Mutter Tag und Nacht an dem kleinen Schreibtisch sitzt? Dass sie nicht isst, nicht redet? Dass sie beim Anblick der Nähmaschine angefangen hat zu schreien, sodass Ernst sie schließlich wieder wegbringen musste? Es ist alles schlimm genug. Mathilda wird leben, laufen wird sie wohl nie mehr können. Der Vater drückt die Hand seiner Tochter etwas fester. Da geht die Tür auf. Eine gebückte Gestalt kommt ins Zimmer, die Schritte sind schwer.
„Mama!“, ruft Mathilda, lässt die Hand des
Vaters los und streckt ihre Arme hoch, der Mutter entgegen. Diese zögert, doch dann kommt sie ans Bett. Lissi springt auf, schiebt ihr den Stuhl hin. Still sitzt die Frau bei ihrer Tochter. Die umklammert die Hände der Mutter.
Plötzlich treffen sich beider Blicke. Sie schauen sich an, als wolle keine die andere je wieder loslassen. Die anderen verharren stumm, aber es ist kein quälendes Schweigen wie in den letzten Monaten. Es scheint dem Vater, als würde es Raum schaffen für etwas Neues, für Worte, die schon allzu lang in ihnen verschlossen sind. Er möchte dieses Bild festhalten.
„Mathilda“, sagt die Mutter, und ihre Stimme klingt fremd, verloren. „Es war doch nur eine Nähmaschine.“