Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein..
„Sie kommen doch auch heute Abend, nicht wahr?“ Drei leuchtende Augenpaare schauen mich erwartungsvoll an, als ich mich an diesem Morgen an den Frühstückstisch setze.
„Na, ich weiß nicht. Ich bin ja erst den zweiten Tag hier und ich habe mich noch gar nicht richtig eingewöhnt“, sage ich ein wenig zögerlich.
„Dann ist das genau das Richtige für sie“ schmettert mir Frau Wölfchen, die zu meiner Rechten sitzt, entgegen.
Und die beiden uns gegenüber sitzenden Damen nicken zur Bekräftigung dieser Aussage so heftig, dass ihre grauen,
dauergewellten und mit einer Megaportion Haarspray fixierten Löckchen drohen, den Halt zu verlieren.
„Was wird denn da heute Abend eigentlich geboten?“ frage ich nach, während ich mir ein Brötchen mit Frischkäse bestreiche.
„Ja, haben sie den Aushang denn nicht gesehen? DISCO! Oldie -Disco mit DJ Andi“, schallt es mir aus drei Mündern gleichzeitig entgegen.
O Gott, das hat mir gerade noch gefehlt. Das ist das Letzte, was ich hier gebrauchen kann. Es ist mein erster Aufenthalt in einer Kurklinik. Der ganze Ablauf, die Gespräche mit den Ärzten, die ernüchternden Diagnosen, die Anwendungen - es ist alles so belastend für
mich. Und dann steckt mir auch noch der Abschied von Ben in den Knochen. Während der Fahrt hierher hatte er immer wieder auf mich eingeredet. Ich müsse dies tun und jenes lassen, müsste mich umstellen, dürfte nicht mehr so viel arbeiten, sollte die Frührente beantragen...
Er kann leicht reden, er ist gesund!
Mit seinem Gerede hatte er wunde Punkte bei mir getroffen. Und so war dann auch unser Abschied unterkühlt ausgefallen.
„Lass es dir die drei Wochen hier gut gehen, Liebes“, hatte er gesagt und als er mir einen Kuss geben wollte, war ich einen Schritt zurückgetreten.
„Komm gut nach Hause“, mit diesen Worten drehte ich mich um und ließ ihn einfach
stehen. Ich war von der Empfangshalle zum Aufzug und dann zurück in mein Zimmer gegangen. Hatte mich aufs Bett geworfen und in die Kissen geweint.
„Also, was ist jetzt mit heute Abend?“ reißt mich Frau Wölfchen unsanft aus meinen Gedanken. Die lebenslustige, mit Gehstützen ausgestattete 82-Jährige und die zwei anderen Damen sind bereits im Gehen begriffen.
„Mal sehen“, weiche ich vorsichtig aus und als ich hinzu füge „Vielleicht…..“ klatscht sie in die Hände und ruft, so dass es über den ganzen Speisesaal hallt. „Prima, wir kriegen sie schon auf Trapp!“
Bis zum Abend ist mir die Lust völlig vergangen, mich mit überdrehten Senioren
und Seniorinnen, von denen es hier nur so wimmelt, bei Schlager und im Extremfall sogar bei volkstümlicher Musik zu „vergnügen“. Ich liege auf meinem Bett und gebe mich meinem Seelenschmerz hin, der mich nun völlig in seinen Bann gezogen hat.
Ich mag nicht mehr. Es ist alles so aussichtslos. Ich bin noch nicht mal fünfzig und es ist schon alles zu Ende. Über Achtzigjährige wie diese Frau Wölfchen sind fitter als ich. Die kuriert hier ihre Hüftoperation aus und wirft ihre Krücken spätestens nach fünf Wochen wieder in die Ecke. Aber ich, ich kann mich eigentlich jetzt schon eingraben lassen.
Eine Therapeutin hatte mir am Nachmittag ins Gewissen geredet. Ich müsse mich endlich mit
meiner Krankheit abfinden und mein Leben den Gegebenheiten anpassen. Hach! Ben hätte seine helle Freude gehabt, wenn er das gehört hätte. Hat sie doch exakt in die gleiche Kerbe geschlagen wie er..
Ein kräftiges Pochen an meiner Zimmertür lässt mich aufschrecken. Während ich aufstehe, wische ich mir mit dem Pulloverärmel meine Tränen aus dem Gesicht. Meine Befürchtung bewahrheitet sich. Frau Wölfchen steht da, mit buntem Rock und einem engen, tiefausgeschnittenen Oberteil. Verdammt gekonnt geschminkt ist sie auch, stelle ich anerkennend fest. Und dann lasse ich mich tatsächlich von ihr überreden, nach einer Generalsanierung meines Äußeren, mitzukommen in den Kursaal, wo die Gaudi
bereits in vollem Gange ist.
Auf mich wartet schon ein freier Platz inmitten der fröhlichen Runde. Renè wird mir vorgestellt. Ein rüstiger Endsechziger mit lüsternden Augen und distanzlosen Händen. Er bestellt mir ungefragt ein alkoholisches Getränk und hakt sich zu Peter Alexanders "Die kleine Kneipe" schunkelfreudig bei mir ein. Meine drei Tischdamen lachen laut und viel und tauschen bei Marianne Rosenbergs Lied "Du gehörst zu mir" schmachtende Blicke mit den Herren an unserem Tisch.
Ich ziehe meinen Arm aus Herrn Renès Umklammerung und signalisiere demonstrativ meine Ablehnung. Ihn stört das nicht. Er hat gerade einen Witz zum besten gegeben und stößt mich laut grölend in die Seite.
Ich schreie gedanklich nach Hilfe!
Es ist mir alles, wirklich alles total unangenehm. Die Musik, die Gesellschaft, einfach A L L E S !
Mir ist übel, sage ich. Leider müsse ich mich schon wieder verabschieden. Ich stehe auf und wende mich dem Ausgang zu. In diesem Moment öffnet sich die gläserne Saaltüre und ein älteres Paar kommt herein. Es entlockt mir ein Lächeln, denn die beiden sehen aus, als wenn sie sich verirrt hätten. Der Mann erinnert mich an Meister Eder, jener Meister Eder, der seinerzeit den Pumuckel beherbergt hat. Und sie, sie sieht aus wie die englische Queen. Hat ein babyblaues Kostüm an und trägt altmodische Pumps und eine Tasche in
derselben Farbe. Zielstrebig gehen sie an einen freien Tisch und bestellen sich Getränke. Anscheinend sind sie nicht das erste Mal hier, denn die Bedienung begrüßt sie mit einem warmherzigen Lächeln und andere Gäste nicken ihnen freundlich zu.
Ich vergesse meinen Groll, gehe zurück zu meinem Platz und kann den Blick nicht mehr von diesem seltsamen Paar abwenden. Ich beobachte sie, jede Geste. Ich sehe, wie sie ihn anlächelt, als er eine Locke aus ihrem Gesicht streicht, wie er ihre Hand hält, ihren Handrücken küsst, sie zärtlich am Arm streichelt. Als der nächste Musiktitel erklingt, stehen sie auf und gehen auf die Tanzfläche.
Sie drehen sich im Takt, ganz langsam führt er
sie über das Parkett. Sie tanzen jede Runde. Sehen sich dabei an, wiegen sich wie eine
unzertrennliche Einheit. In den Pausen halten sie einander an den Händen fest.
Ich weiß nicht wieso, aber ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit diesen mir völlig unbekannten Menschen. Sie haben etwas an sich, das mich anrührt, etwas das mich nicht mehr los lässt. Ich bin nun ganz ruhig. Nichts stört mich mehr und als der Herr Renè mich fragt, ob ich ihm nicht einen Schwank aus meinem Leben erzählen möchte, flüstere ich ihm ins Ohr "Pst, leise" und lege den Finger auf meinen Mund.
Als DJ Andi den letzten Tanz dieses Abends ankündigt, steht der alte Mann auf, geht zu ihm an die Bühne und flüstert ihm etwas ins
Ohr. Dann holt er seine Partnerin auf das Parkett. Alle anderen Tanzpaare machen einen Kreis um sie und ich warte gespannt, was nun folgt. Eine uralte Melodie erklingt. Ein Lied, das meine Mutter schon in ihrer Schallplattensammlung hatte.
"Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe..."
Und die Beiden tanzen. Sie tanzen einen englischen Walzer in einer Weise, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Sie schwankt immer wieder, aber er hält sie fest, so dass es scheint, als schwebe sie über das Parkett.
"Die Erde versinkt und wir zwei sind allein, in dem siebenten Himmel der Liebe..."
Mir steigen Tränen in die Augen. Aber diesmal sind es keine Wuttränen. Ich weiß nicht,
warum ich weine. Ich weiß nur, dass die Tränen mir gut tun..
Die Bedienung fragt mich leise, ob alles in Ordnung ist. Ich nicke und deute auf das Paar. Sie nimmt mich zur Seite:
"Das sind Hans und Marion aus unserem Dorf. Marion geht es sehr schlecht, sie hat einen unheilbaren Tumor."
Entsetzt starre ich sie an, während sie weiterspricht:
"Marion und Hans haben ihr ganzes Leben lang so gerne getanzt und jetzt, wo Marion bald sterben wird, nutzen die Beiden jede Gelegenheit...."
"Wenn wir uns im Tanze wiegen, ist mir so, als könnt` ich fliegen, hoch zu den Sternen, zum Himmel empor!"
Der Morgen ist bereits angebrochen, als ich in mein Zimmer zurück komme. Was bin ich doch für eine wehleidige, selbstsüchtige Kuh, denke ich mir, während ich mich auskleide. Ich Arme, ich Kranke. Nur noch ICH, ICH, ICH. Was ist mit unserem WIR? Was ist mit Ben? Wie geht es IHM?
Ich kann nicht schlafen, denke immer an Ben. Er fehlt mir so. Ich stehe noch einmal auf, schalte mein Laptop ein und schreibe eine E-Mail.
"Bin so froh, dass ich dich habe, Ben. Ich wünsche mir so sehr, dass Du mich nächstes Wochenende besuchen kommst.
Du fehlst mir.....und vielleicht möchtest du ja auch gerne tanzen mit mir....?!