Beschreibung
Er musste betteln, doch am Ende würde er Erblasser sein.
Der Sommmer kommt immer wieder, und Kalle ...?
Der Sommer war zurückgekehrt und mit ihm Kalle. Auch dieses Mal brachte sein schmales Gesicht neue Falten mit. Da wollten auch die Zähne nicht zurückstehen. Sie „glänzten“ noch eine Spur nikotingelber als im Vorjahr. Vorne übergebeugt saß der alte Mann bei den Einkaufswagen des neuen Supermarktes und betrachtete die Menschen, wie sie hastig oder gemächlich an ihm vorüberzogen. Neben ihm stand wie immer sein abgewetzter, speckiger Lederhut, in dem auch mal ein Fünfeuroschein landete.
Da war sie ja wieder, die große, hagere Frau mit dem quengeligen Jungen. Kalle würde nun wieder für eine Weisheit der jungen Mutter herhalten müssen.
„Der lebt auf unsere Kosten“, belehrte die Frau den Buben, „dass du mir ja immer ordentlich in der Schule bist. Sonst geht's dir wie dem da.“
Als Kalle diese Belehrungen vernommen hatte, waren seine Lippen nur noch ein schmaler Strich, und die Mundwinkel bogen sich noch weiter nach unten. War er nicht immer ein guter Schüler gewesen und danach viele Jahrzehnte ein gefragter Handwerker? Natürlich! Aber dann wurde er Opfer eines Finanzhais. Verlor Wohnung, Familie, Freunde und auch seine Gesundheit. Und wie ist es ihm bei der Stellensuche ergangen?
„Nicht geeignet!“ „Zu alt!“
Die Einzigen, die ihn noch willkommen hießen, waren die Straßen, die Plätze und Parks der Stadt. Und weil Kalle nun gerade Erinnerungen nachhing, zog er auch gleich mal wieder Bilanz.
Nie habe ich eine schöne Frau in den Armen gehalten und geküsst. Ob man mich wohl beneidet hätte ...? Oder beglückwünscht ...? Und Kinder? Wären sie gesund, schön und erfolgreich geworden ...? Oder wie sehen Palmen aus? Oliven- und Orangenbäume? Auch das Kreuz des Südens hätte ich gerne mal gesehen, jenes Sternbild am Himmel der südlichen Erdhalbkugel.
Ähnliche Gedanken hatte Kalle schon öfters in seinem Leben gehabt. Immer im Herbst, wenn Flüsse dampften. Wenn die Konturen der Umwelt vor seinen Augen unscharf wurden. Wenn sich im Nebel Kontraste auflösten. Wenn er, ständig vom Regen durchnässt, darum betete, seine Verzweiflung möge sich in Hoffnung verwandeln. Dann spürte er nur immer das alte und bekannte Gefühl in sich: Traurigkeit!
Im Gegensatz zu früher wollte nun dieses Gefühl aber nicht von Kalle weichen. Müsste er bald von dieser Erde gehen? Aber doch nicht mit fünfzig Jahren? Und so hob er an diesem runden Geburtstag wieder die Rotweinflasche an seine trockenen und rissigen Lippen. Trank so gierig, dass der Wein wie Blut auf seine schmerzende Brust tropfte. Dabei war ihm, als wenn sie hier eine riesige Wunde auftäte, aus der sich langsam sein Leben herausstemmte.
Soll es doch verschwinden, das Leben, wenn es nicht mehr bei ihm bleiben will. Aber vielleicht hätte er nach seinem Abgang, heute, morgen oder übermorgen, doch noch Glück. Würde dann in den Gedanken der Zurückgebliebenen gesellschaftlich aufsteigen. Erblasser sein, durch den letzten Fünfeuroschein, den er auf jeden Fall in seinem alten, speckigen Lederhut zurücklassen wird.