Nell und ihr Zwillingsbruder Mustafa werden schlagartig aus ihrem bisher normalen Leben gerissen, als Nell von einem der fünf Juwelen im Rücken eines Buches ausgewählt wird. Auf der Knight Academy gerät sie dank ihres Nachnamens jedoch in Verdacht, zu den Rebellen zu gehören, und muss die Missgunst ihrer Mitschüler über sich ergehen lassen. Nur zwei Jungen stehen ihr bei, während ihr Bruder sich auf der anderen Seite der weißen Mauer bei den Rebellen befindet...
Der Sand unter Busters Hufen knirschte leise, als wir im Schritt über den Weg ritten und zum zweiten Mal die rechte Abzweigung bei der Weggabelung nahmen. Ich saß vor Damon auf dem Hengst, aber im Moment konnte ich mich nicht darüber freuen, auf diesem herrlichen Tier zu reiten. Damon saß hinter mir im Sattel und es herrschte schon seit wir beide wieder aufgesessen waren bedrücktes Schweigen. Nachdem ich mir die Seele aus dem Leib geheult und geschrien hatte, ging es mir mittlerweile schon etwas besser.
Es war aber trotzdem ein ungewohntes Gefühl, von meinem Bruder getrennt zu sein. Schon so lange ich denken konnte, waren wir eigentlich immer zusammen gewesen und wenn er oder ich mal einen Ausflug gemacht hatte, hatten wir beide immer gewusst, dass wir uns bald wiedersehen würden. Zwar waren wir hoffentlich auch jetzt nicht lange getrennt, Damons Worte schenkten mir Hoffnung, dass er bald gefunden und von diesen Leuten befreit wurde, aber es war trotzdem ein komisches Gefühl. Diese Art der Trennung war anders, irgendwie ungewiss. Zudem nagten in meinem Hinterkopf immer noch die Selbstvorwürfe, aber ich versuchte sie zu ignorieren, um nicht wieder zur Heulsuse zu mutieren, nachdem ich es mir vor Jahren so schön abgewöhnt hatte.
Das Schweigen zwischen Damon und mir machte mich inzwischen aber auch regelrecht affig und ich überlegte verzweifelt, was ich sagen konnte, um den Damm zu brechen. Allerdings wollte mir einfach nichts Unverfängliches einfallen – über das schöne Wetter zu quasseln, kam mir entschieden zu bescheuert und einfältig vor. Aber worüber konnten wir uns schon unterhalten? Ich wusste nichts über ihn, wenn man von seiner Vernarrtheit zu Buster mal absah. Er war bei uns eingebrochen, hatte uns angegriffen und bedroht, versucht mich zu entführen – bevor ich freiwillig mitgekommen war – und jetzt hatte er mich wohl gerettet. Irgendwie ein etwas schräger Verlauf unserer Bekanntschaft.
Na ja, und ich? Auch wenn es ihm nur um das Juwel ging, so hatte Damon mir letztlich doch nur helfen und mich praktisch retten wollen, und bei dem Gedanken, wie ich mich aufgeführt hatte, nagte das schlechte Gewissen an mir.
„T-Tut mir leid“, sagte ich schließlich beklommen, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
„Hm?“ Damon hinter mir klang etwas irritiert, auch wenn ich nicht wusste, ob er mich akustisch wegen meines leisen Gemurmels oder nur meinen Bezug nicht verstand. Da es um uns herum bis auf das gleichmäßige Geräusch von Busters Hufen und gelegentlichem Vogelgezwitscher aber still war, ging ich davon aus, dass er nicht verstand, was ich meinte. Wäre ja auch zu schön gewesen.
„Ich hab dich beleidigt.. und geschlagen.. und getreten…“ Ich wusste nicht, ob und was ich weiter sagen sollte. Sollte ich ihm erzählen, wie durcheinander ich war? Wie unsicher ich mich ohne meinen großen Bruder auf einmal fühlte? Dass ich im Grunde nichts von dem Verstand, was hier vor sich ging und warum wir überhaupt angegriffen worden waren?
„Und gebissen“, fügte Damon da plötzlich hinzu, „Für einen Moment dachte ich fast, du wärst ein Vampir.“
„Tut mir.. Vampir?“ Ich drehte den Kopf und sah ihn argwöhnisch an. „Sag bloß, du bist abergläubisch?“
Da schummelte sich auf einmal ein leichtes Schmunzeln auf seine Lippen. „Bestimmt nicht. Mag ja sein, dass die Welt nicht so frei von Magie und außergewöhnlichen Dingen ist, wie die meisten glauben, aber Sagengestalten sind und bleiben Sagengestalten – reine Fiktion.“
„Das dachte ich bis heute Morgen von magischen Gegenständen auch“, stellte ich leicht resigniert fest, wobei ich mit der Hand über dem Juwel in meiner Brust verharrte, „Und jetzt stecke ich in dieser Geschichte mit den Juwelen fest und habe keinen Schimmer, was mich als nächstes erwartet, geschweige denn davon, was ich jetzt tun soll.“ Wenn man von der Suche nach meinem Bruder mal absah jedenfalls.
„Das ist gar nicht so kompliziert“, bemerkte Damon, „Du wirst Schülerin auf der Akademie und.. wir sind da.“
„Whow…“ Bisher hatte das dichte Blätterwerk der Bäume die Sicht versperrt, aber nun war der Wald mit einem Mal zuende und ich erblickte das, was man gut und gerne als Schloss bezeichnen konnte. Es war ein riesiger Gebäudekomplex aus weißem Backstein mit richtigen Türmen und Burgzinnen, Balkonen und Dachterrassen. Es gab eine bestimmt sieben Meter hohe Außenmauer mit einem großen Tor und dahinter lag der gewaltige Gebäudekomplex, der jedoch aus vielen unterschiedlichen Teilen zu bestehen schien, die auch durchaus unterschiedliche Höhen hatten – und manche halt auch noch mit Türmen dran. Die Giebeldächer waren alle samt mit tief dunkelblauen Ziegeln gedeckt und der höchste Turm war schätzungsweise zwanzig bis dreißig Meter hoch. Das meiste wurde allerdings von der Mauer abgeschirmt, weshalb ich mir wohl erst ein genaueres Bild machen konnte, wenn wir drinnen waren – auch wenn bereits das, was ich von hier sehen konnte, meine kühnsten Erwartungen übertraf.
„Fang nicht an zu sabbern“, bemerkte Damon mit einem selbstgefälligen Lächeln, bevor sein Blick wieder ernst wurde und er Buster kurz mit den Hacken in den Bauch knuffte, woraufhin der Hengst sofort in den Galopp verfiel und auf das rund zwanzig Meter entfernte Tor zuhielt, „Erstmal werde ich gleich den Lehrern bescheid geben, dass die Rebellen deinen Bruder gekidnappt haben, und dann sehen wir zu, dass wir dich versorgen.“
Ich nickte lediglich und blickte zu dem großen Torbogen, bei dessen Anblick sich meine Neugier und das mulmige Gefühl in meiner Magengegend sich um den Logenplatz in der ersten Reihe stritten. Was würde mich hinter diesem Tor erwarten?
Im Prinzip war die Sache weniger spektakulär abgelaufen, als ich gedacht hatte, aber auch wiederum aufregender, als dass ich nicht noch immer erstaunt wäre.
Im Näherkommen hatten sich die großen, steinernen Flügeltüren in der Mauer wie von Geisterhand geöffnet und wir waren auf einen großen, gepflasterten Hof mit Springbrunnen in der Mitte geritten. Viele Erwachsene waren aus etlichen Türen und Gängen aufgetaucht und waren sofort zu uns geeilt. Da sich Damon um fast einen ganzen Tag verspätet hatte, waren wohl alle in Sorge gewesen. Als sie mich dann aber in völlig verdrecktem, zerrissenem Teddybärpyjama – meine Güte war mir das peinlich – vor ihm auf Buster richtig bemerkt hatten, war es erst richtig lustig geworden. Da Damon die Leute als Professoren angesprochen hatte und es sich hierbei, zumindest wenn ich ihn richtig verstanden hatte, um eine Akademie handelte, nahm ich einfach mal an dass das die Lehrer waren. Jedenfalls hatte Damon in knappen Sätzen geschildert, was heute am frühen Morgen bei mir zu Hause passiert war und dann auch von dem Überfall der „Rebellen“ – ich hab ehrlich keinen Schimmer, von was für Rebellen hier die Rede war – berichtet. Daraufhin waren zwei Männer losgeeilt, die, wie ich das verstanden hatte, dem Schulleiter Bericht erstatten wollten, damit schnell eine „bewaffnete Truppe“ gebildet und nach meinem Bruder gesucht werden konnte.
Im Augenblick saß ich noch immer ziemlich planlos in einem Raum, der wohl so was wie ein Gästezimmer war. Im Allgemeinen war mir aufgefallen, dass das Innere dieser Burg, wie ich diesen auch von innen höchst komplizierten Gebäudekomplex nannte, ziemlich altmodisch aussah. Auch wenn die Grundmauern alle aus weißem Gestein bestanden, war innen das meiste mit Holz verkleidet, wie auch die Wände, Decke und Boden in diesem Raum. Auf dem Boden lag ein Teppich, an der Wand stand ein alter Schrank und ich hockte gerade auf dem einfachen Bett gegenüber vom Schrank. Die Möbel waren alle eindeutig alt, aber ich konnte nirgends Staub entdecken, also wurde hier wohl regelmäßig geputzt. Sehr beruhigend, da es mich schon beim Anblick von Spinnennetzen gruselte und wenn der Bewohner dann auch noch zu Hause war, sah man mich jedenfalls nicht mehr im selben Zimmer.
Die Frau mit den wunderschönen, hellblonden Haaren, die ihr bis zur Taille reichten und bei jedem Schritt federleicht mitschwangen, hatte vor zwei oder drei Minuten das Zimmer verlassen, um nach „angemessener Kleidung“ für mich zu suchen.
Nachdem der erste Ansturm der Professoren verebbt war, als Damon seinen Kurzbericht beendet hatte, war sie zu uns herangetreten und hatte gefragt, ob ich wirklich eine Kompatible war. Damon war mittlerweile von Buster abgestiegen und hatte mir helfend die Hand hingehalten, wobei ich aber lieber selbstständig von dem Hengst heruntergekrabbelt war, und hatte die Frage dabei natürlich bejaht. Sie hatte zwar skeptisch gewirkt, doch als ich kurzerhand die Abdeckcreme von dem Stein dicht unter der Mulde zwischen meinen Schlüsselbeinen weggewischt hatte, ohne dabei auch die ganzen roten Tattoos freizulegen, waren ihre Zweifel sichtlichem Erstaunen gewichen. Anschließend hatte sie mich am Handgelenk gepackt und ohne weitere Worte mit sich gezogen, während Damon wohl sein Pferd versorgen und anschließend das komische Buch mit den restlichen Juwelen zum Direktor bringen wollte.
Nun saß ich hier, befand mich anscheinend schon seit fast zehn Minuten auf der Knight Academy und kam mir noch dümmer vor als vorher. Eine Kompatible – wie scheinbar die hießen, bei denen diese komischen Juwelen reagierten – war ich, das hatte mir diese Frau durch ihre Reaktion bestätigt, aber mehr wusste ich beim besten Willen nicht. Irgendwie hatte es noch keiner für nötig befunden, mich aufzuklären.
Mit einem leisen Seufzen stand ich auf und trat zu dem einzigen Fenster in diesem kleinen, länglichen Raum. Von hier aus konnte ich auf einen weiteren Hof blicken, auf dem eine saftig grüne Wiesenfläche war, durch die sich nur einzelne, weiß gepflasterte Wege schlängelten. Wie auch bei dem Hof hinter dem Tor wurde die Fläche von den Gebäuden gänzlich eingerahmt und nur durch einige Türen und Gänge, die anscheinend irgendwie wie Schläuche durch die umliegenden Bauten gingen ohne dass es zwischen diesen eine Gasse gab, zu erreichen. An den Rändern wuchsen Büsche und kleine Beete mit bunten Blumen gab es auch, aber am meisten faszinierten mich die Jungen und Mädchen – die hier irgendwie drastisch in der Unterzahl zu stehen schienen, jedenfalls kamen auf ein Mädchen bestimmt sieben oder acht Jungen –, von denen bestimmt die Hälfte etwa in meinem Alter zu sein schien.
Sie schienen eine einheitliche Uniform zu tragen, jedenfalls trugen die Junge alle schwarze Oberhemden, sandfarbene Hosen und fliederfarbene Blazer und die Mädchen hatten schwarze Blusen, sandfarbene Röcke bis kurz über die Knie, wobei irgendwie alle sie unterschiedlich hoch trugen – einige trugen sie sogar als richtige Miniröcke, was den Jungen schön was zum Gucken darbot – und dazu auch den ebenfalls fliederfarbenen Blazer an, wobei ich bei näherer Betrachtung noch einige weiße Verzierungen in dem lilanen Stoff entdeckte.
Die meisten dieser Schüler, ich ging einfach mal davon aus, dass sie welche waren, wirkten fröhlich und unterhielten sich miteinander, ganz wie auf einer normalen Schule. Wenn man von diesem einzigartigen und, soweit ich es bisher beurteilen konnte, total komisch gebauten Schloss mal absah, schien das hier eigentlich relativ normal zu sein. Es beruhigte mich schon mal etwas, dass zumindest die Schüler normal wirkten.
„Entschuldige bitte meine Unhöflichkeit vorhin.“
Zu Tode erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Ich war so in meinem Studium von dem Benehmen der Schüler versunken, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie die Frau von vorhin wieder ins Zimmer getreten war. Ein erleichtertes Seufzen konnte ich mir nicht verkneifen. Dabei bemerkte ich auch die Klamotten, die sie über dem Arm hatte. Genau erkennen konnte ich die Kleidungsstücke zwar nicht, aber da schwarz, flieder und beige die Farben waren, brauchte ich nicht lange nachzudenken, um was es sich dabei handelte.
„Du bist ganz schön schreckhaft“, stellte die Frau fest und stemmte eine Hand in die Hüfte. Die Geste wirkte bei ihr so elegant und vollendet. Kurz fragte ich mich, ob sie vielleicht eine berühmte Persönlichkeit oder so war, aber das schlug ich mir gleich wieder aus dem Kopf. Mit der sportlichen Brille mit dem silbernen Gestell und dem abschätzenden Gesichtsausdruck wirkte sie eher wie eine strenge Lehrerin – aber eben eine sehr graziöse.
Die blaue Bluse mit verschwindend wenig Spitze war sehr feminin und betonte ihre Figur auf die beste Weise, ohne dabei aufdringlich oder nuttenhaft auszusehen. Dazu trug sie einen langen, schwarzen Rock, der locker fiel und bei jeder kleinen Bewegung wunderschön mitschwang. Sie sah, kurz gesagt, umwerfend aus.
„Äh…“, brachte ich sehr geistreich heraus, als mir auffiel, dass ich sie schon seit einigen Sekunden anstarrte. Ich kam mir vor wie einer dieser gaffenden Jungen, die alle Frauen und Mädchen mit vollem Busen und breiten Hüften anschmachteten und schon vom bloßen Ansehen in irgendwelchen schmutzigen Fantasien versanken. Heiliger war das peinlich, gerade da ich selbst immer noch nur meinen ziemlich mitgenommenen Bärenpyjama trug und mir wie der letzte Dummkopf vorkam.
„Wie ist dein Name?“, fragte die Frau ohne erkennen zu lassen, ob sie mein Anstarren oder meine Gedanken bemerkt hatte.
„Nell.. na ja eigentlich Neliel“, antwortete ich zögerlich.
„Wie alt bist du und in welchem Schuljahrgang warst du bisher?“, fragte sie weiter ohne eine Miene zu verziehen.
„Siebzehn und in der Elften.“ Mich erinnerte das hier irgendwie an ein Verhör, was meine Unsicherheit nur noch verstärkte.
„Hast du irgendwelche Kenntnisse, was die Juwelen angeht?“
„Nein.“ Ich betete, dass sie sich nicht gleich in eine dreiköpfige Schlange verwandelte und mich in einem Stück verspeiste.
Sie seufzte – vielleicht auch, weil sie meine zunehmend ängstlichere Stimme bemerkt hatte. Dann legte sie die Schuluniform auf das Bett und trat bis auf zwei Schritte an mich heran, wobei ich mich zwingen musste, nicht vor ihr zurückzuweichen. Dabei spürte ich auf einmal den ganz leichten Puls in dem Juwel in meiner Brust und fühlte mich im nächsten Moment schon viel sicherer. Fast als würde es mich geistig unterstützen spürte ich, wie sich meine Angst und Nervosität bis auf einen leichten, gesunden Rest legten.
„Wer sind Sie und was haben Sie mit mir vor?“, fragte ich ernst und nur mit einem leichten Argwohn in der Stimme. Ich hob den Blick vom Boden und sah ihr fest in die jadegrünen Augen.
Für einen winzigen Moment schien sie fast ein wenig überrascht, bevor sie mir die Hand auf Hüfthöhe entgegenstreckte. „Ich bin Professor Morrisant, auch wenn du mich, wie alle anderen Schüler auch, einfach Geneviève nennen kannst“, stellte sich die Lehrerin vor, wobei ich erst jetzt ihren ganz leichten, französischen Akzent bemerkte, „Und du wirst als Kompatible von nun an, wie die anderen Juwelenträger hier, Schülerin der Knight Academy werden. Du hast wie auf einer ganz normalen Schule Unterricht und bekommst ein Zimmer im Wohngebäude.“
Okay, das klang schon mal nicht schlecht. „Es geht wohl nicht etwas genauer, oder?“, fragte ich, da sie die Erklärung doch sehr allgemein gehalten hatte.
Zum ersten Mal entdeckte ich ein verstecktes Lächeln auf Professor Morrisants Lippen. Sie deutete auf die Schuluniform. „Ich würde gerne erstmal sehen, ob dir die Uniform passt, da ich deine Größe schätzen musste. Du kannst dich im Zimmer nebenan umziehen und waschen. Währenddessen werde ich dir grob erklären, wie dein üblicher Tagesablauf sein wird. Das genauere Erklären wird einer deiner Mitschüler übernehmen, der dich später rumführen wird.“
Ich nickte und nahm die Sachen vom Bett. Tatsächlich hatte ich die zweite Tür, die in derselben Wand war, vor der das Bett stand, noch gar nicht gesehen. Dahinter befand sich ein großes Badezimmer, das im Gegensatz zu dem Zimmer sehr neu und luxuriös aussah. Nur zu gerne hätte ich die riesige Badewanne mal ausprobiert, die mich sehr an die von zu Hause erinnerte – bei dem Gedanken verspürte ich ein leichtes Ziehen in der Brust, doch ich ignorierte es –, aber ich verzichtete darauf. Später würde ich bestimmt auch noch Zeit für so etwas haben, zumal meine aufgeschürften Stellen schon bei der Berührung mit dem nassen Waschlappen höllisch brannten und sich bei einem Vollbad wohl erst richtig ausgelassen hätten. Ich ließ auch noch warmes Wasser ins Waschbecken laufen und wusch kräftig mein Gesicht, dem man leider noch ein wenig ansehen konnte, dass ich vor nicht allzu langer Zeit Rotz und Wasser geheult hatte.
Während ich so beschäftigt war und nebenbei noch meinen Pyjama, der irreparabel hinüber war, in dem kleinen Mülleimer versenkte, erklärte Geneviéve möglichst einfach, was mich von nun an erwarten würde. Dabei stellte ich mit einem leicht schiefen Lächeln fest, dass die meisten, die neu hierher kamen, zumindest ein bisschen Ahnung hatten. Na ja, Damon hatte ja auch so treffend gesagt, dass ich ‚der erste Trottel der Geschichte war, der es geschafft hat ohne irgendwelches Hintergrundwissen Ritter zu werden‘. Wobei ich stirnrunzelnd feststellte, dass ich bisher noch ein einziges Mal wieder dieses komische, ins Mittelalter und Bücher gehörende Wort gehört hatte.
„Wie du wahrscheinlich inzwischen mitbekommen hast, ist das hier eine Akademie für Menschen, die mit den Juwelen kompatibel sind, beziehungsweise bei denen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie von einem ausgewählt werden“, erklärte Geneviéve und klang dabei ganz wie die Lehrerin, wie ich schmunzelnd bemerkte, „Wir Professoren sind ebenfalls Kompatible, wobei einige von uns früher auch wirklich Lehrer waren, bevor sie auf diese Akademie gekommen sind. Da wir deutlich mehr Erfahrung mit den Juwelen und ihrem Umgang haben, unterrichten wir euch zum einen zwar noch in den ganz normalen Fächern, aber zum anderen eben auch in speziell auf die Juwelen und deren Kräfte bezogenen Gebieten. Wenn ihr euren Schulabschluss später habt, steht es euch im Übrigen frei, als Professor oder in einem anderwärtigen Amt hier auf der Akademie zu bleiben oder dieses geschützte Gebiet zu verlassen und in die normale Welt der Menschen zurückzukehren. Du wirst hier also keineswegs für den Rest deines Lebens festsitzen, wenn du nicht willst.“
Mittlerweile war ich den meisten Schmutz losgeworden und hatte im Apothekerschrank neben einer Kommode und dem Waschbecken sogar Salbe und Verbandszeug gefunden, mit dem ich meine netten kleinen Verletzungen behandelte, die sich noch immer über die grobe Behandlung mit dem Waschlappen beklagten. Die waren echt ganz schön nachtragend. Auch wenn mich die Wortwahl der Professorin beim vorletzten Satz ein wenig irritierte, unterbrach ich sie nicht und ließ sie fortfahren.
„Dein Schulalltag sieht jedenfalls folgendermaßen aus: je nachdem wie schnell du dich fertigmachen kannst, musst du zwischen sechs und halb sieben aufstehen, denn um sieben gibt es Frühstück im Gemeinschaftssaal. Der normale Unterricht beginnt um acht Uhr und endet nach der vierten Stunde um halb zwölf, wobei du zwischendrin fünfundzwanzig Minuten Pause hast. Je nach Juwelentyp wirst du einer bestimmten Lehrgruppe zugeteilt und nach zwanzig Minuten Pause die nächsten drei Stunden in diesem Kurs verbringen. Im Anschluss an den Unterricht hast du eine halbe Stunde Zeit zum Duschen und anschließend gibt es im Gemeinschaftssaal Mittagessen.
Je nachdem ob du Putz- oder Stalldienst hast wirst du irgendwann im Laufe des restlichen Tages entweder einen bestimmten Raum säubern oder im Stall aushelfen müssen, aber abgesehen davon steht dir der Nachmittag frei zur Verfügung. Es gibt hier auch eine außerordentlich gute Bibliothek, wo du alles über die Juwelen nachlesen kannst. Oder du bittest einen der Professoren oder einen Mitschüler, ob er dir beim Training mit deinem Juwel hilft. Oder du tust das, was so gut wie alle hier tun: dich mit Freunden treffen, dich mit ihnen unterhalten, Filme anschauen oder irgendwelchen Unsinn anstellen – vor Letzterem möchte ich dich warnen, der Verstoß gegen die Regeln zieht harte Strafen nach sich und wenn du erwischt wirst, wirst du kein Erbarmen zu erwarten haben.“
„Gut zu wissen“, stellte ich mit leicht schiefem Grinsen fest. Dabei betrachtete ich mich in dem großen Wandspiegel, der neben der Tür an der Wand hing. Neben der Schuluniform, die mir wie angegossen passte, hatte ich auch noch saubere, schwarze Kniestrümpfe und schicke, tief dunkelbraune Lackschuhe gefunden. Jetzt, wo ich mit einer Haarbürste auch meine bis zur Hüfte reichenden, nussbraunen Haare wieder zur Ordnung gepfiffen hatte, sah ich auch nicht mehr wie ein Straßenkind sondern wie eine vernünftige Siebzehnjährige aus. Zwar reichten die Knöpfe der Bluse nicht so weit nach oben, dass sie das seltsame, rote Tattoo vollständig verdeckte, doch in der Kommode hatte ich ein großes, sandfarbenes Halstuch mit feinen schwarzen Verzierungen gefunden und es mir kurzerhand umgebunden, wodurch mein Ausschnitt unauffällig komplett abgedeckt war – es war mir irgendwie lieber, dieses Mal zu verdecken, auch wenn ich mir über den Grund für dieses Gefühl nicht ganz so sicher war. Jap, so sah ich wieder normal aus und nicht mehr wie ein ausgedienter Handfeger.
Gesäubert und umgezogen trat ich aus dem Badezimmer und stellte mich so hin, dass Professor Morrisant, die wie ich zuvor vor dem Fenster stand, mich sehen konnte. Ihr akribischer Blick wanderte kurz von oben nach unten und wieder zurück, dann nickte sie zufrieden.
„Sieht doch gleich ganz anders aus“, stellte sie mit einem leichten Lächeln fest, „Aber bevor wir fortfahren, wie lautet eigentlich dein Nachname, Neliel?“
„Phantom“, antwortete ich unbeschwert und zupfte einige widerspenstige Haarsträhnen zurecht, „Aber bitte bleiben Sie bei Nell, mein voller Name klingt so…“
Da erst bemerkte ich ihr entgleistes, völlig konsterniertes Gesicht und fragte mich, ob ich gerade etwas Falsches gesagt hatte. Sie sah ja fast so aus, als hätte ich ihr gerade eine Todesprophezeiung gemacht oder mich vor ihren Augen in einen großen rosa Tintenfisch mit Fledermausflügeln verwandelt.
Karimela Ich liebe es, wenn Kapitel an einer solchen Stelle enden;-)) Endlich hat man mal ein paar interessante Informationen bekommen und nun warte ich gespannt, wie es weitergeht. Da scheint ja noch etwas ziemlich Geheimnisvolles auf den Leser zu warten. Liebe Grüße Karimela |