Die Nachricht vom Tod meiner Freundin erreicht mich im Urlaub, genau an dem Tag, als sie beerdigt wird, und ich bin so viele Kilometer weit entfernt. Das spielt gar keine Rolle, denn auf der Beerdigung bin ich nicht erwünscht. Wir haben es beide gewusst, dass sie sterben wird, es war nur eine Frage der Zeit – so sagt man allgemeinhin. Zeit – welches Gewicht hat sie in dem Zusammenhang mit einer Krankheit, die letztlich alles auflöst, was ist und war? Wir haben keine Gelegenheit gehabt, die spärlich verbliebene Zeit zu nutzen. Man kann nichts vorausleben, was eigentlich der Zukunft vorbehalten ist, die Gegenwart war in den letzten Wochen zu jedem Zeitpunkt grausam.
Trotz unseres Wissens und jeder gedanklichen Aufarbeitung und Vorbereitung, ist es dann zu plötzlich. Die Wirklichkeit übertrifft in ihrer Endgültigkeit jede Vorstellung.
Ich bin erstaunt, dass ich nicht zusammenbreche. Wo bleiben die Tränen? Der Schmerz ist so stark, dass ich anderes kaum noch wahrnehme und dennoch schaffe ich es, irgendwie weiter zu machen. Zusammenhänge sind mir jedoch nicht bewusst, alles was ich tue, ist eine Abfolge von einzelnen Aktivitäten, denen jeder Sinn zu fehlen scheint.
Ich gewöhne mich an den Schmerz, da ist nur etwas Störendes, das mich zu fordern scheint. Irgendetwas passt nicht zu der Trauer, der Verzweiflung, der Lustlosigkeit.Mein Körper gehorcht mir nicht mehr.
Es ist nicht mehr nur der dumpfe Schmerz des Verlustes, der mein treuer Begleiter geworden ist. Es sind körperliche Unzulänglichkeiten, die mich nun sogar in den alltäglichen Handlungen behindern. Übelkeit, Knochenschmerzen, Druckgefühl im Oberbauch und eine Müdigkeit, die mich des Öfteren am Schreibtisch einschlafen lässt.
Kann dieser seelische Schmerz sich so ausweiten? Beim Arzt bekomme ich Tabletten zur Beruhigung, ausspannen solle ich. Ich tue doch nichts anderes, denke ich verwundert. Die Übelkeit und Bauchschmerzen werden einer leichten Gastritis zugeschrieben, ein wenig Diät sei angebracht. Ein wütendes Lachen tobt in meinem Inneren, ich esse ja sowieso kaum noch etwas. Ich spüre, wie ich immer stärker hinter mir selbst zurückgleite...
Eines morgens erwacht sie – und ist nicht mehr da.
Das ist natürlich Unsinn, denn sie existiert ja. Sie spürt die müden Beine, ihre Arme wie Blei, sogar die Augenlider sind schwer, wollen sich nicht öffnen.
Da sie sich all dessen bewusst ist, kann sie ja nicht verschwunden sein.
Dennoch fehlt ihr plötzlich die Wahrnehmung ihrer selbst. Sie fühlt sich nicht wie ein Ich, sondern wie ein Etwas, das anscheinend an Fäden baumelt und durch den Tag dirigiert wird.Aufstehen, duschen, frühstücken...NEIN, das geht nicht, auch nicht an den Fäden.
Ins Auto steigen, zur Arbeit fahren, funktionieren...angetrieben von einem gut geschmierten Motor – Worte, die sie nicht erreichen.
Mittagszeit, essen...NEIN! Doch, du musst...es sind immer die gleichen Stimmen, die ihr das sagen. Ihr Etwas kaut, verzweifelt, weil es wie Pappe schmeckt.
An den Schreibtisch, tägliches Einerlei, die Marionette verrichtet ihre Aufgaben, geführt vom Pflichtbewusstsein, das unsterblich ist, sogar ohne das Ich.
Kommunizieren, Menschen treffen, lachen (hoffentlich an den passenden Stellen), ein freundliches Gesicht machen...sie weiß nicht einzuschätzen, wie das Gesicht von diesem Etwas aussieht.
Zeitung lesen, Fernsehsendungen schauen, all diese Dinge, die man von ihr erwartet. Nichts dringt zu ihr durch.
Sie ist nicht mehr da, nicht wirklich.
Schlafen und Wachen sind eins, unterscheiden sich nicht. Da gibt es keine Träume.
Keine Frage nach dem Warum mehr. Nichts scheint mehr wichtig, außer diesem Abhandeln der täglichen Verrichtungen.
Sie hat keine Wahrnehmung mehr für die Blicke der anderen, die diese große Sorge ausdrücken, versuchen sie herauszuholen aus diesem Elend. Sie ist ja nicht mehr da...irgendwie.
Ich sitze an den Ufern des Lebens, vom Kurs abgekommen, aber immer noch ein Rädchen in der Unendlichkeit des Universums. Ich überlege, wo du bist. Bist du überhaupt noch? Ich glaube nicht, dass nach deinem Tod irgendetwas Materielles von dir geblieben ist. Wenn ich also irgendwann deinen Weg gehen muss, dann werden wir uns nicht begegnen. Und dennoch: nach dem Dualismus-Prinzip der Quantenphysik (wie oft haben wir darüber diskutiert)verändert sich Materie, wenn sie nicht beobachtet wird, formiert sich zu Immaterieller (Nicht-) Substanz. Das bleibt, ich möchte, dass es bleibt. Wenn es so ist, dann verpflichtet mich das zum Leben, denn deine Spuren sind in mir, in meinem Fühlen, meinem Denken, meiner Erinnerung.
Es hatte sich ein frühes Novemberwort in meine einstigen Sonnenstunden geschlichen. Das Erwachen aus den Träumen ließ das Gefühl der Liebe schmerzvoll werden. Wie
wäre unser Weg gewesen? Hätte es ihn überhaupt gegeben? Es scheint vermessen, an Ewiges zu glauben. Das Universum existiert auch ohne uns. Im langsamen Erwachen sind es Bilder, die meine Worte bewegen. Oder ist es umgekehrt?
Nun also werde ich aufstehen, das Ufer verlassen und in die einzige Richtung wandern, die möglich ist, ich werde das Unbegreifbare, das meinen Händen entglitten scheint, greifen.
Kann man zurückkommen, wenn man verschwunden ist?
Man kann. Ein mühsamer Weg.
Es kommt der Tag, an dem sie erwacht. Schmerzlich, aber wirksam.
Eine eindringliche Stimme, die ihr sagt, dass sie noch existiert, wenngleich auch nur als Schatten ihrer selbst: „Du rutschst noch durch den Gulli, wenn du so weiter machst!“
Das ist nun keinesfalls das, was sie will. Als sie das denkt, ist sie erstaunt. Sie hat noch einen Willen, also existiert sie doch. Vielleicht....ja vielleicht gibt es ein wenig mehr als nur eine unbedeutende winzige Chance.
Gegenstände, Menschen, die Natur nehmen wieder Kontur an, Farben tauchen auf aus dem Grau.Sie kaut und sie schmeckt etwas. Sie liest ein Buch und versteht den Inhalt.
Sie geht spazieren, sieht das Erwachen der Natur, die Knospen an den Bäumen, bunte Tupfen auf der Wiese. Sie hört das Lachen von Kindern und dumme Bemerkungen von irgendwelchen Leuten, die ihr so banal scheinen.
Ich kann mich nur schwer wehren gegen die Meinung von vielen, die sagen, ich sei depressiv.
„Wenn man die Trauer nicht bewältigt, rutscht man leicht in eine Depression.“
„Vielleicht helfen Medikamente?“
„Du musst dir etwas suchen, das dir wieder Spaß macht im Leben.“
So dringen diese Äußerungen an mein Ohr, doch sie erreichen mich nicht wirklich.
Ich weiß es besser.
Kann man Trauer so schnell bewältigen? Sich einfach von ihr verabschieden, sie wegpacken in eine Schublade und ab und zu mal schauen, ob sie noch da ist?
Es ist so aberwitzig. Aber gerade das lässt mich etwas Anderes empfinden, noch nicht greifbar, aber vorhanden: Wut.
Wut auf diejenigen, die – so meine ich zumindest – mich abstempeln mit einer Krankheit, die man allzu schnell im Munde hat.
Wut auf meinen Körper, der mir nicht mehr gehorcht. Wut auf mich selber vor allem, weil ich nicht die Kraft habe trotz all meines Wissens etwas zu unternehmen.
Ich gehe zum Arzt und verlange eine Blutuntersuchung. Beim letzten Mal hat er mir etwas zur Beruhigung verschrieben. Ich habe diese Pillen nie genommen, weil ich gar nicht ruhig werden wollte.
Es muss ein zweites Mal Blut abgenommen werden. Dann die Knochenmarkspunktion. Ultraschalluntersuchung, die Milz ist vergrößert.
Die Diagnose ist niederschmetternd, doch für mich – so paradox das klingen mag – heilsam.
CML - chronische myeloische Leukämie. Ich bin krank, nicht einfach nur depressiv, sondern körperlich krank. Die Ärzte erklären mir, was sich da abspielt in meinem Körper.
Die stark vermehrten weißen Blutkörperchen, die veränderten Granulozyten.
Dagegen kann man sich wehren. Man kann etwas tun. Dieser Gedanke setzt sich fest bei mir und ich bin auf einmal wild entschlossen, etwas zu tun.
Die Tretmühle beginnt. Klinik, Untersuchungen, erste Gespräche über die Therapiemöglichkeiten und über die Auswirkungen. Es gibt Tyrosinkinasehemmer. Der Wirkstoff Imatinib ist ein Segen.
Ich lote es aus, frage die Ärzte Löcher in den Bauch.
Zuhause lese ich alles, was mir in die Finger kommt. Dann melde ich mich in einem Forum an für CML-Kranke und das ist ein Segen. Die Erkenntnis, nicht allein zu sein, der Austausch
mit Betroffenen, wichtige Informationen, die mir kein Arzt gibt, all das bekomme ich dort und es hilft.
Sie kämpft, kämpft mit ihrer Trauer und um ihre Trauer, aber gleichzeitig kämpft sie um Leben. Sie spürt wieder, spürt die Tränen, die sie weint, schmeckt das Salz auf ihren Lippen, spürt die Schmerzen in den Knochen und die Schmerzen in ihrer Seele, spürt die Übelkeit und diese unendliche Müdigkeit. Aber da ist noch etwas. In ihrem Kopf formt sich ein Gedanke: Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, es ist mehr, muss mehr sein.
Kann sie trotz dieser Krankheit, die nicht heilbar ist, gesund sein?
Und dann nehme ich die Menschen wieder wahr, die verzweifelt versuchen, an meiner Seite zu stehen. Das ist wie kaltes Wasser, das
man sich morgens ins Gesicht spritzt, um vollends zu sich zu kommen. Was tue ich ihnen an? Ihnen, nicht mir!
Ich stehe sie durch, die erste harte Therapie und dann kommt das Ergebnis: Ich bin stabil, keine Gefahr im Moment, es gilt das Medikament so zu wählen, dass ich ein möglichst normales Leben führen kann.
Ich beginne wieder zu arbeiten. Auch das Essen gelingt immer besser.
Ab und zu fahre ich ins Naturschutzgebiet, wo Lara und ich so oft die spärliche gemeinsame Zeit verbracht haben. In Gedanken rede ich mit ihr und zuweilen geschieht es, dass ich lachen muss, so richtig von innen heraus. Es kommt einfach, auch wenn ich wollte, könnte ich es nicht aufhalten.
Lara, mir fällt die Frage wieder ein, die du damals in unserem letzten gemeinsamen Urlaub gestellt hast: Kann man lernen, in den Schatten das Licht zu sehen?
Ich weiß jetzt die Antwort und ich werde es lernen.
Dann eines Tages beschließe ich wegzufahren, Spuren zu suchen, Klarheit zu gewinnen, wie es aussehen könnte, dieses Leben, das mir die hand ausstreckt, wieder und wieder. Da ist eine Sehnsucht in mir, nein, ein richtiger Hunger und ich will ihn stillen. Mein Entschluss steht fest.
Sie ist wieder da, erwacht.
Sie taumelt nicht mehr und zappelt nicht mehr an Fäden. Nein, sie geht, geht Stück für Stück zurück ins Leben.
(März 2010)
Impressum
Text und Cover: (c) Enya K.