Tamino, ein junger Hengst, verläuft sich und findet nicht mehr nachhause zurück. Mithilfe von Freunden, die er kennenlernt, lernt er in der Wildnis zurecht zu kommen. Als sein bester Freund stirbt, macht sich Tamino auf die Suche nach einer Herde. Doch werden sie ihn akzeptieren?
Es geschah in einer lauen Oktobernacht. Stille lag wie Nebel über dem Hof. Nichts bewegte sich. Doch dann sah man ein kleines Fohlen, das über den Hof trabte. Sein dunkelbraunes Fell hatte weiße Streifen, die in der Dunkelheit zu leuchten schienen. Er hatte einen Nachtfalter erspäht und lief ihm nun vergnügt hinterher. Er entfernte sich immer mehr vom Hof und lief in den finsteren Wald hinein. Als die Finsternis den Falter verschluckte, blieb das Fohlen verwundert stehen. Es hatte nicht bemerkt, wie weit es gelaufen war, und fand den Feldweg, der zum Hof zurückführte, nicht mehr. Das war die erste Regel, die seine Mutter ihm beigebracht hatte: Nie vom Feldweg abweichen und in den Wald laufen! Ach seine wundervolle Mutter! Sie würde sich solche Sorgen machen. Der Wald ragte drohend vor ihm auf und seine dunklen Bäume glichen riesigen grauenvollen Gesichtern, die auf das kleine Fohlen hinuntersahen wie ein Adler auf seine Beute. Das Fohlen wieherte verzweifelt und versuchte Geräusche vom Hof auszumachen, doch der unheimliche Wald warf sein Wiehern hundertfach zurück und er schreckte vor dem lauten Geräusch zurück. Dabei stolperte er über eine Wurzel, fiel hin und dann wusste er nichts mehr.
Als er wieder aufwachte, war er immer noch im Wald, aber es war Tag. Am Tag hatte der Wald nichts Unheimliches mehr: durch die Bäume schien helles, freundliches Licht und die Finsternis wurde durch morgendlichen Nebel abgelöst. In den paar Sekunden, in denen er das aufnahm, merkte er, dass er nicht allein war. Er unterdrückte den Impuls aufzuspringen und wegzulaufen und blieb vollkommen still liegen, um mit allen seinen Sinnen die Umgebung und den Neuankömmling zu untersuchen. Er hörte Schritte; schwere Schritte...Zu schwer für einen Menschen. entschied er. Es klang wie… Hufe! Seine Familie war ihm zu Hilfe gekommen! Freudig sprang er auf, doch statt dem schneeweißen Fell seiner Mutter sah er ein braunes Fell eines ihm unbekannten Tiers vor ihm aufragen. Es hatte auch Hufe, war aber viel schlanker als ein Pferd und hatte statt einem Schweif nur einen kurzen Stummel. Auf seinem Kopf saß etwas, das aussah wie ein Gewirr von Zweigen, nur deutlich härter. Er vermutete, dass dies die Waffe dieses beängstigenden Tieres war. „Bi- bitte tu mir nichts!“ flehte er verängstigt. Doch das große Tier machte werde Anstalten zu gehen noch anzugreifen. Es stand einfach nur da und sah ihn mit seinen dunklen Augen an. Dann sprach es mit einer angenehm tiefen Stimme: „Ruhig, kleines Pferd. Ich werde dir nichts tun. Ich habe dich nicht umsonst in Sicherheit gebracht.“ Erst dann bemerkte er, dass er nicht mehr an derselben Stelle lag wie am Abend davor. Er blickte zurück und sah etwas weiter weg, dass der Wald, in dem er gestürzt war, tagsüber keineswegs freundlicher aussah als nachts. Immer noch waren dort diese finster aussehenden Bäume und der gruselige Nebel. In diesem Teil des Waldes, war er schön und geheimnisvoll, dort drüben wirkte er düster und bedrohlich. Eine jähe Welle von Dankbarkeit überrollte ihn, als er erkannte, dass dieses unbekannte Tier, nur um ihn zu retten, in diesen Wald gegangen war. Doch direkt danach traf es ihn wie ein Schlag, dass er durch diesen Wald musste, wenn er nach Hause wollte! Trotz seiner Angst rappelte er sich auf und wollte so schnell es geht nach Hause laufen, doch das Tier machte einen Satz und stellte sich ihm in den Weg. „Hey!“ protestierte er, „ich muss nach Hause!“ Das Tier antwortete: „ Du kannst nicht durch diesen Wald zurück, er ist voller Gefahren. Ich musste eine Herde Geier davon abhalten, über dich herzufallen, und du wirst dein Leben, was ich dir gerettet habe, jetzt nicht aufs Spiel setzten!“ „Aber ich muss doch nach Hause!“ wieherte er traurig und verzweifelt. Das Tier sah ihn an und sagte mit Trauer und Mitleid in den Augen: „Es tut mir Leid, Kleiner: Du wirst nie mehr nach Hause kommen.“ Ihm war, als hätte das Tier ihm einen kräftigen Huftritt verpasst. Er wankte und fing haltlos an zu schluchzen. Das Tier setzte über einen Stamm und presste tröstend seine Flanke an ihn. „Ganz ruhig, Kleiner. Wie heißt du eigentlich?“ Er hörte für einen Moment auf zu schluchzen und sah ihm in die tiefbraunen Augen. „Tamino“ sagte er leise.
Tamino blieb noch sehr lange bei Cronus, dem Hirsch, der ihm das Leben gerettet hatte. Unter seiner Pflege kam er bald wieder zu Kräften und Cronus lehrte ihn, wie er im Wald überlebte. Er wurde zu Taminos Lehrer und Vater. Bald dachte Tamino nicht mehr an das Leben, das er in jener Nacht verloren hatte, sondern freute sich über das Leben, das er gewonnen hatte. Er lebte mit Cronus und sie zogen sehr lange durch das Land, sodass Tamino nie langweilig wurde. Er sah viele Dinge, die er noch nie gesehen hatte. Tamino war inzwischen schon etwas größer geworden, doch man konnte immer noch sehen, dass er von Menschen aufgezogen worden war, denn seine Mähne, sein Hufbehang und sein Schweif waren sehr gestutzt und immer noch nicht nachgewachsen. Tamino machte sich Sorgen, das er im kommenden Winter frieren würde, wenn sein Fell nicht bald nachwachsen würde.
Plötzlich rief Cronus: „Stopp!“ Tamino erschrak und sah, dass der lichte Wald, durch den sie den ganzen Tag lang gewandert waren, nun endete und eine weite Lichtung sich vor seinen Hufen erstreckte. Auf dieser Lichtung saßen einige Menschen an kleinen Feuern und hinter ihnen war etwas wie eine Schlafstelle nur nicht aus Stein wie sonst, sondern aus Stoff. „Was machen sie da?“ fragte Tamino. „Das sind Jäger.“ erklärte Cronus, „sie schießen auf alle Tiere, die sie sehen, um ihre Felle und ihr Fleisch zu gewinnen.“ Tamino erschrak.
„Aber das ist ja schrecklich! Wie sollen wir hier weiterkommen?“ fragte er entsetzt. Cronus überlegte: „Andere Tiere, die aus dieser Richtung kamen sagten, dass weiter hinten ein Reservat eingerichtet wurde. Dort dürfen die Jäger nicht jagen. Die Frage ist nur wie gelangen wir dorthin ohne gesehen zu werden?“
„Vielleicht können wir in der Nacht gehen, wenn sie schlafen.“ schlug Tamino vor, obwohl ihm die Vorstellung bei Nacht durch ein unbekanntes Lager voller Menschen zu gehen, nicht behagte.
Cronus sah ihn an. „Aber nur unter einer Bedingung: Du musst alles tun, was ich sage. Wirklich alles! Das Wichtigste ist, dass du ins Reservat kommst. Ich werde dich alleine lassen sobald wir dort sind.“
„Was? Warum kommst du nicht mit?“ wollte Tamino wissen. Cronus seufzte. „Ich bin alt, Tamino. Ich möchte nicht mehr reisen. Ich bringe dich zum Reservat, damit du dein Leben richtig leben kannst. Dann kehre ich zum Wald zurück. Alles, was mir wichtig ist, ist das du ankommst. Selbst, wenn ich sterbe, möchte ich, dass du mich zurücklässt und ins Reservat gehst.“ Tamino war geschockt: „Ich werde dich nicht zurücklassen Cronus!“ „Tamino, es ist keine Zeit, um ritterlich zu sein! Ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich weiß, dass du in Sicherheit bist! Bitte verspreche es mir!“ Tamino erkannte wie wichtig Cronus war, dass er lebte und mit einem Mal fühlte er so viel Zuneigung zu dem alten Hirsch, wie nie zuvor. Cronus schien ihn wirklich zu lieben und das war der Grund weshalb Tamino sich entschloss dem edlen Hirsch seinen Wunsch zu erfüllen, auch wenn es ihn fast zeriss. Er holte tief Luft und sagte entschlossen: „Ich verspreche es dir!“
Als Tamino in der Nacht erwachte, schlief Cronus noch. Tamino sah auf das braune Fell seines besten Freundes und fragte sich, ob das heute die letzten Stunden waren, die sie zusammen verbrachten. Schweren Herzens weckte er ihn. „Cronus! Wach auf, es ist Zeit!“ Cronus öffnete seine dunklen Augen und sah Tamino an. „Gut dann los.“ sagte er und stand in einer einzigen eleganten Bewegung auf „Und Tamino vergiss nicht, was du mir versprochen hast!“ Mit diesen Worten lief er los. Tamino folgte ihm so schnell und leise wie er konnte und sah die seltsamen Stoffschlafstellen und hörte aus einigen Geschnarche. Er lief schneller, bis er Cronus einholte. „Wie weit müssen wir eigentlich laufen?“ flüsterte Tamino. „Bis zum Waldrand, dort bist du sicher.“ hauchte Cronus zurück, um die Jäger nicht zu wecken. Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, erkannte Tamino den Wald am Horizont, doch auch noch etwas anderes: „Cronus, es wird hell!“ zischte Tamino entsetzt und blieb stehen. Cronus riss seine Augen weit auf und blickte wild um sich. „Oh nein! Sie wachen auf!“ Und tatsächlich eine nach dem anderen schleppten sich die Menschen ins Freie. Es dauerte nur eine Sekunde, bis jemand sie entdeckte. In lauter Menschensprache schrie er und deutete auf die zwei Tiere, die mitten durch ihr Lager liefen. Schon holten alle ihre seltsamen Holzteile, von denen Cronus Tamino erzählt hatte. Tamino erschrak: Etwa 50 dieser Teile waren auf ihn und Cronus gerichtet. „Denk an dein Versprechen!“ rief Cronus und stupste ihn von hinten an, damit er schneller lief. Tamino beschleunigte, als ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Einer der Menschen hatte seine Waffe benutzt und das Geschoss war knapp an seinem Ohr vorbeigerauscht. Er lief weiter, als auf einmal ein Mensch direkt vor ihm stand die Waffe erhoben, das Gesicht voller Habgier und Triumph. Tamino wieherte entsetzt und wollte kehrtmachen, doch ein brauner Schatten krachte in ihn und schubste ihn weiter.
„Lauf, Tamino! LAUF!“ Im selben Moment drückte der Mensch ab und Cronus sprang hoch und warf sich dazwischen. Tamino keuchte verzweifelt, als Cronus mitten im Sprung auf den Boden fiel, die Augen blicklos zum Himmel gerichtet. „CRONUS! NEIN!!“ schrie Tamino. Er schoss davon, obwohl es ihm widerstrebte Cronus Leiche zurückzulassen. Er sah den Waldrand schon ganz nah und kurz nachdem er in die Sicherheit der Bäume galoppiert war, brach er voller Trauer zusammen.
Als Tamino wieder zu sich kam, lag er an derselben Stelle, an der er zuvor zusammengebrochen war. Einen Moment fragte er sich verwirrt, wo er war und wo Cronus war, doch dann überflutete ihn die grausame unleugbare Tatsache, dass Cronus sich geopfert hatte, um ihn in Sicherheit zu bringen. Die Erinnerung an die furchtbare Nacht riss die noch frische Wunde um Cronus Verlust noch weiter auf, sodass Tamino am liebsten vor Schmerz aufgeschrien hätte. Er blieb noch einige Stunden einfach so sitzen dachte an Cronus, seinen selbstlosen Einsatz um ihm das Leben zu retten und dass er nun dank ihm in Sicherheit war.
Nach einer langen trauernden Wache übermannte Tamino der Schlaf. In seinen Träumen sah er Cronus auf ihn zurennen, doch gerade als er ihn begrüßen wollte verwandelte er sich in einen Menschen und hob seine Waffe…
Tamino schreckte auf. Er glaubte noch nie in seinen Leben so traurig gewesen zu sein. Ein Teil von ihm wollte losrennen, Cronus Leiche bergen und vor allem dem Menschen, der seinen geliebten Freund getötet hatte, mit den Hufen solange bearbeiten, bis er sich nicht mehr rühren konnte. Doch er wusste das wäre letzte was Cronus gewollt hätte. Nachdem er ihm zweimal das Leben gerettet hatte, wollte er dieses nicht aufs Spiel setzen. Andererseits hatte Cronus ihn hierhergebracht, damit er ‚sein Leben leben’ könnte. Hunderte Gedanken schossen durch Taminos Kopf und sie alle hingen mit dem selbstlosen alten Hirsch zusammen.
Nachdem er die letzten Erinnerungen an Cronus sicher in seinem Kopf bewahrt hatte, beschloss Tamino herauszufinden, wo er hier war. Er sah sich um. Der Wald war dicht, aber wirkte trotzdem nicht so bedrohlich wie der Wald in dem Tamino als Fohlen verloren gegangen war. War das wirklich schon einen Monat her? Der Gedanke an sein altes Zuhause bereitete ihm Schmerz, doch unwillig schüttelte Tamino ihn ab. Er war hier, um ein neues Leben anzufangen. Er würde seine Familie und vor allem Cronus nie vergessen, aber nun würde er neu anfangen.
Tamino brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass dies ein herrlicher Ort zum Leben war. Das Gras wuchs hier so saftig und hoch wie er noch nie gesehen hatte. Doch einige große kahlgefressene Stellen ließen darauf schließen, dass hier auch große Herden zuhause waren. Tamino hatte überlegt, ob er sich vielleicht einer Herde anschließen sollte. Seit Cronus Tod hatte er mit niemandem mehr gesprochen und er fragte sich, ob er irgendwann seine Stimme verlieren würde, so selten wie er sie brauchte. „Gesellschaft würde mir gut tun.“ dachte Tamino. Doch alle Herden, denen er begegnete, liefen vor ihm weg. Er hatte schon es längst aufgegeben herauszufinden warum.
Eines Tages, als Tamino sich gerade zum Grasen niedergelassen hatte, entdeckte er eine Herde Pferde, die dort ebenfalls grasten. Als er sich ihnen näherte rechnete er halb damit, dass sie ihn sofort verjagen würden, doch stattdessen kam ein stattlicher, schwarzer Hengst auf ihn zugaloppiert und machte kurz vor seiner Schnauze halt. Tamino konnte sofort sehen, dass dies der Leithengst war. Er war größer als die meisten anderen und eine große Aura der Macht schien von ihm auszugehen. Tamino bemühte sich nicht vor ihm zurückzuweichen und versuchte möglichst viel Selbstbewusstsein in seine Stimme zu bringen: „Sei gegrüßt. Mein Name ist Tamino und ich…“ „…wir wollen dich nicht Hauspferd.“ sprach der Hengst mit so viel Kälte und Autorität, dass Tamino nun doch einen Schritt zurückwich. Er war verwirrt: Was war ein Hauspferd? Der Schwarze schien seine Gedanken zu lesen, denn er sagte barsch: „Von Menschen wurdest du aufgezogen; meine Herde ist rein von Hauspferden und wird es bleiben.“ Er wurde nicht lauter, doch die Macht in seiner Stimme schien anzuschwellen. Tamino fragte: “Woher weißt du, dass ich ein ‚Hauspferd’ bin?“ Der Hengst schnaubte: „Dein Fell, deine Mähne alles von Menschen gezeichnet worden. Verlasse jetzt unsere Grasstelle!“ Tamino wurde plötzlich wütend: „Nur weil ich als Fohlen bei Menschen gelebt habe, soll ich jetzt gehen? Niemals!“ Das stattliche Pferd sah ihn wütend an: „Schlechte Entscheidung.“ Dann drehte er sich um; Tamino dachte schon er wollte gehen, doch dann trat ihm ein riesiger, schwerer Huf in die Seite und er fiel.
Als Tamino wieder erwachte, sah er als erstes, dass die Herde ihn anscheinend wirklich von der Grasstelle weggebracht hatte, denn er lag auf einem Hügel in einem windzerzausten Moorland. Seine Flanke schmerzte leicht und als er den Kopf drehte sah er einen hufförmigen Abdruck dort, wo ihn der schwere Huf des Hengstes getroffen hatte. Der Wind pfiff ihm in die Ohren und er hatte keine Ahnung, wo er war. Er sah sich nach einer Stelle um, in der er vor dem kräftigen Oktoberwind sicher wäre. Er entdeckte etwas weiter weg einen hohlen Baum und trabte darauf zu. Dann erstarrte er mitten in der Bewegung: Jemand stand dort und sah ihm direkt in die Augen.
Tamino stand dort wie festgewachsen und sah in die schönen saphirfarbenen Augen. Vorsichtig machte er einen kleinen Schritt auf den Baum zu. Die Augen blinzelten langsam. Tamino ging nun etwas schneller, bis er bei dem knorrigen Baum angekommen war. In dem hohlen Stamm war es dunkel, sodass Tamino den Besitzer der Augen immer noch nicht richtig erkennen konnte und nur eine Silhouette ausmachte, doch er konnte an dem Körperbau und der Haltung erkennen, dass es ebenfalls ein Pferd war. „Sei gegrüßt, Fremder.“ sprach eine weiche Stimme aus dem Schatten. „Wie ist dein Name?“ „Ta-Tamino.“ sagte Tamino leise. „Und wer bist du?“ Die Augen des Pferdes blinzelten erneut und sie antwortete: „Mein Name ist Feder. Aber lass uns nicht hier drinnen bleiben, wo wir uns nicht sehen können.“ Das Pferd hatte sich anscheinend umgedreht, denn die Augen waren verschwunden und Hufschritte hallten durch den hohlen Baum. Tamino stolperte hinterher. Das Pferd war inzwischen aus dem Schatten getreten und dreht sich um. Tamino war erstaunt: Diese Stute war die schönste, die er je gesehen hatte! Sie war cappuccinofarben mit ungewöhnlichen weißen Mustern und hatte beeindruckend lange Mähnen- und Schweifhaare; sie reichten fast bis zum Boden. Unwillkürlich fühlte er sich neben ihr sehr heruntergekommen und ungepflegt.
Feder fragte ihn: „Nun Tamino, was führt ein Hauspferd wie dich hierher?“ Tamino wieherte verärgert: „Ich war noch ein Fohlen, als ich bei Menschen gelebt habe. Das ist vorbei!“ Feders Ohren zuckten überrascht bei seiner heftigen Erwiderung. Dann fiel ihr Blick auf den Hufabdruck und Verstehen trat in ihre Augen: „Dir scheinen schon einige begegnet zu sein, die Hauspferde als minderwertig einschätzen. Nun du musst wissen: Zu denen gehöre ich nicht.“ Tamino war überrascht, er hatte gedacht, dass dieses Vorurteil für alle Pferde, die in der Wildnis geboren wurden, eine Tatsache war. Feder schien seine Gedanken gelesen zu haben, denn sie schnaubte amüsiert: „Ungewöhnlich für ein Wildpferd, nicht wahr? Nun ich denke sehr viele würden mich als ungewöhnlich bezeichnen und vielleicht stimmt das auch. Aber dann hätte mich meine Herde wohl kaum als Leitstute ausgewählt, oder?“ Tamino horchte auf: Wenn Feder eine Leitstute war, hätte sie die Macht ihn in die Herde aufzunehmen! Sie war das erste Wildpferd, das ihn akzeptierte, ohne auf seine Herkunft zu achten. Tamino fragte höflich: „Nun Feder, ich habe mich verlaufen und ein Hirsch hat mich hierhergebracht und nun habe ich kein Zuhause.“ Tamino wurde klar, das dies seine einzige Chance war, einer Herde beizutreten, also musste er wohl oder übel hoffen, dass sie genug Mitleid mit ihm hatte, um ihn aufzunehmen. Feders Augen wurden weich bei seiner Erzählung. „Das tut mir sehr leid. Wenn du möchtest, werde ich dich in meine Herde aufnehmen.“ Tamino freute sich, dass sie den Vorschlag machte und nicht er. Er neigte in tiefer Dankbarkeit den Kopf und sagte: „Ich danke dir, Feder!“ Feder bedeutete ihm mit dem Schweif ihr zu folgen. „Komm, ich zeige dir unseren Lagerplatz.“
Feder schüttelte ihre lange Mähne und lief los. Tamino hatte selbst mit seinen langen Beinen Mühe ihr zu folgen. Eine ganze Weile galoppierten sie über das offene Moorland. Schließlich wich das Moor einem kleinen lichten Wald, durch den ein kleiner Bach floss, und hinter dem eine Lichtung lag. Während Tamino überlegte, ob er Feder fragen sollte, ob sie eine Rast einlegen und trinken könnten, blieb Feder abrupt stehen. Tamino, der mit dieser Vollbremsung nicht gerechnet hatte, krachte fast in sie hinein. Feder schien es nicht bemerkt zu haben. Sie drehte sich zu ihm um und sagte: „Hier beginnt unser Lagerplatz. Komm!“ Sie ging wieder los, diesmal im gemessenen Schritt. Kaum waren die beiden auf der Lichtung aufgetaucht, auf der eine Herde von etwa 20 Pferden graste, löste sich ein großes, breitschultriges, schwarzes Pferd mit weißen Strichen im Gesicht und am Bauch von der Gruppe und kam auf ihn und Feder zugaloppiert. Im Laufen wieherte er: „Feder! Was soll das? Warum hast du dieses Menschenpferd hierhergebracht?“ er blieb vor Feder stehen und wartete mit blitzenden Augen auf ihre Antwort. Im Gegensatz zu dem schwarzen Hengst blieb Feder vollkommen ruhig ebenso wie ihre Stimme als sie ihm antwortete: „Beruhige dich, Nacht! Das ist Tamino. Er wird sich unserer Herde anschließen.“ Nacht schnaubte wütend: „Beruhigen? Du willst ein Menschenpferd in die Herde aufnehmen und ich soll mich beruhigen! Das reine wilde Blut, das in unseren Adern fließt-„ „-ist ebenso rein wie das seine! Er hat mir seine Geschichte erzählt und er hat wohl schon als Fohlen die Menschen verlassen und lebt seitdem alleine auf sich gestellt und von allen Herden vertrieben, deren Wahn nach reinem Blut so groß ist wie der deine.“ Feder war nicht lauter geworden, aber bei ihrer von Macht getränkter Stimme schien Nacht in sich zusammenschrumpfen. Obwohl er größer war als Feder, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück: “Aber Feder; es ist nicht nur sein Blut er hat anscheinend noch nie in einer Herde gelebt und kennt die Regeln nicht.“ „Dann wäre es höchste Zeit, dass er es lernt. Ich bin hier die Leitstute Nacht und ich nehme Tamino hiermit in unsere Herde auf. Sei uns willkommen, Tamino!“
Als Feder sich von ihm abwandte, verstand Tamino, das er nun gehen konnte. Er sah sich nach einem guten Schlafplatz um, denn die Sonne stand schon tief und der blaue Himmel war von goldenen und orangenen Streifen durchzogen. Er erblickte eine Stelle unter einer Weide mit tief herabhängenden Zweigen, wo schon einige andere Pferde lagen und trabte darauf zu. Er legte sich vollkommen erschöpft hin und machte sofort die Augen zu. So merkte er nur noch im Halbschlaf, dass fast alle Pferde, die schon unter der Weide lagen ein Stück von ihm abwichen.
Am nächsten Tag wachte Tamino nach den anderen auf. Er schüttelte sich und stand auf. Feder kam auf ihn zu: “Ah gut, du bist wach. Wir wollen jetzt losziehen.“ Tamino sah sie fragend an. Feder lachte: „Tamino glaubst du wirklich die Herde kann mit dem Essen warten, bis das Gras nachgewachsen ist?“ Tamino sah sich um. Die Wiese war wirklich schon sehr abgefressen und Gras war fast nicht mehr zusehen. „Bis zum Winter müssen wir eine neue Stelle gefunden haben, im kalten Schnee können die jungen Fohlen noch nicht laufen und vor allem müssen wir eine windgeschützte Stelle finden. Also komm jetzt.“ Feder lief voran und Tamino folgte ihr rasch. Auf der abgegrasten Wiese stand schon die ganze Herde von der ältesten Stute Schnee, die so gleißend weiß war, dass es schon fast blendete, bis zu dem kleinen braunen Borke, das kleinste Pferd der Herde. Seine langen Beine knickten fast unter seinem Gewicht ein und seine Mutter Sand stand direkt neben ihm, um ihm notfalls aufzuhelfen.
Alle sahen zu Tamino und Feder und warteten. Feder übernahm die Führung und Tamino mischte sich unter den Rest der Herde. Neben ihm stand Feuer ein roter und sehr temperamentvoller Hengst und sah ihn wütend an: „Wie lange wolltest du denn noch schlafen? Wenn wir wegen dir durch Schnee laufen müssen, würde ich auf deinen Schweif aufpassen.“ Tamino protestierte: „Aber so lange könnt ihr noch gar nicht auf gewesen sein. Ich habe doch gesehen, wie ihr auch alle gerade erst von euren Schlafplätzen gekommen seid!“ Feuer wieherte wütend: „Wir waren jedenfalls früher fertig als du, nicht? Ein Hauspferd, das daran gewöhnt ist bis mittags zu schlafen, hat hier nichts verloren. Bevor Tamino noch etwas erwidern konnte, wirbelte Feuer herum und gesellte sich zu den anderen. Tamino schnaubte auf wütend und verletzt zugleich. Es schien als hätte sich die komplette Herde gegen ihn verschworen. Wütend murmelte er vor sich hin: „Wir wären bestimmt noch nicht losgezogen, wenn ich früher aufgestanden wäre, aber natürlich ist alles meine Schuld…„ „Tamino?“ Eine leise Stimme nannte seinen Namen. Tamino sah überrascht hoch und stellte sich auf eine weitere Standpauke ein, doch die Stimme war nicht genervt und wütend, sondern zaghaft und freundlich. Als er seinem Gegenüber ins Gesicht sah, stellte sich heraus, dass sie eine schöne weiße Stute mit grauen Flecken und dunkelblaue Augen war. Tamino kannte sie nicht, aber irgendwas an ihr erinnerte ihn an jemanden. Freundlich sagte sie: „Hallo, ich bin Wolke. Tut mir leid, dass dich niemand willkommen heißt, nur weil du ein Hauspferd warst. Ich habe noch nie Pferde nach ihrer Herkunft bewertet und das werde ich auch niemals tun.“ Für Tamino waren diese Worte, von jemandem aus der Herde, der ihn akzeptierte wie Balsam auf einer Wunde. Er schnaubte glücklich: „Danke, Wolke. Ich habe dich noch nie gesehen; wo warst du gestern Abend?“ Wolke antwortete: “Ich habe schon geschlafen. Ich war den ganzen Tag unterwegs und war müde.“ Tamino fragte verwirrt: „Aber woher weißt du denn dann wer ich bin?“ Wolke erklärte: „Feder hat es mir erzählt, als ich aufgewacht bin.“ „Aber ich dachte Feder schläft allein.“ sagte Tamino, indem er sich an ein Gespräch mit Feder gestern erinnerte, als sie ihm am Abend ins Lager gebracht hatte. Wolke erklärte: „Ich schlafe bei ihr, weil ich ihre Tochter bin.“ Tamino wurde schlagartig bewusst, warum ihm Wolke so vertraut vorkam: Ihre Augen glichen aufs Haar genau denen ihrer Mutter!
Wolke wieherte: „Sie gehen schon. Komm schnell.“ Sie sprang der Herde hinterher und Tamino folgte ihr.
Die Herde bewegte sich im ausdauernden Trab, damit auch die sehr alten und sehr jungen Pferde mitkamen. Feder lief neben einer Stute mit hellbraunem Fell und goldenen Flecken. Von Wolke erfuhr Tamino, dass sie Feders Schwester war und Bernstein hieß. Bernstein schien Feders Beraterin zu sein, denn immer wenn Feder nicht weiter wusste machte sie gute Vorschläge, in welche Richtung sie ziehen sollen. Tamino erfuhr von Wolke noch eine Menge über die Herde wie zum Beispiel, dass einige ausgewachsenen Pferde bei Angriffen die Wölfen oder Großkatzen von den ältesten und den jüngsten Pferden ablenken, damit diese schnell fliehen können. Dieses „Ablenken“ bedeutete, dass die Pferde den Angreifern kräftige Huftritte oder Bisse versetzen. Tamino wieherte erschrocken: „Aber ich kann nicht kämpfen! Und besonders schnell bin ich auch nicht, im Vergleich zu euch jedenfalls nicht.“ Wolke beruhigte ihn: „Ganz ruhig, du wirst mit der Zeit kräftige Muskeln in deinen Beinen bekommen. Da wir nun den ganzen Monat reisen werden, werden sie gut trainiert werden. Und was das Kämpfen angeht, das tun nur die stärksten Pferde des Rudels.“ Tamino war neugierig: „Wer denn?“ Wolke überlegte kurz: „Also Nacht ist ein Kämpfer, genau wie Stein.“ Sie wies mit den Ohren auf einen grauen Hengst mit ungewöhnlich hellen Augen und einem Fell ohne jegliche Muster oder Abzeichen. Mit seinen breiten Schultern und den kräftigen schweren Hufen machte er einen Eindruck von ungeheurer Kraft und Kampfgewandheit. Sein Fell war voller Kratzer und Narben, die von seinen vielen Kämpfen zeugten. Tamino fiel ein, das auch Nacht solche Narben hatte. „Wer noch?“ fragte Tamino Wolke. Wolke sah ihn an und schlug vor: „Schau dir die Pferde doch erst mal selbst an. Du kannst bestimmt erkennen, welche von ihnen Kämpfer sind.“ Tamino sah sich um und entdeckte, dass auch Feuer, der unfreundliche, rote Hengst, Narben hatte. Tamino fragte Wolke: „Feuer auch, oder?“ Wolke nickte: „Ja, er ist auch ein Kämpfer. Und Eis auch“ Sie deutete auf einen Hengst mit weißem Fell. Es schimmerte leicht bläulich in der Sonne. „Mehr haben wir nicht, aber wenn es zu viele Angreifer sind, kämpft Feder auch mit.“ Tamino zuckte überrascht mit den Ohren. Feders zierlicher Körperbau hatte gar nichts mit den kräftigen Körpern der Kämpfer gemein. Aber natürlich würde sie wenn Gefahr für ihre Herde besteht bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen. „Aber was ist, wenn es trotzdem zu viele sind?“ fragte er beunruhigt. Wolke antwortete: “Die Kämpfer sollen ja nur so lange ablenken, bis sich alle in Sicherheit gebracht haben. Und wenn sie das nicht schaffen, müssen sie auch weglaufen. Wir können es uns nicht leisten einen unserer Kämpfer zu verlieren. Falls die Kämpfer weglaufen, müssen sofort alle den Fohlen und den Älteren helfen.“ Tamino, immer noch begierig mehr zu erfahren, fragte weiter: „Aber irgendwann werden die Kämpfer doch alt? Wer beschützt denn dann die Herde und was ist wenn Feder irgendwann stirbt?“ Wolke zuckte zusammen. Tamino fiel zu spät ein, dass sie Feders Tochter war. Aber bevor Tamino zu einer Entschuldigung anheben konnte, sagte Wolke mit einer Mischung aus Trauer und Angst: „Dann übernehmen deren Kinder ihr Amt.“ Tamino schloss: „Also du.“ Wolke seufzte: „Ja, ich. Aber ich wünschte es wäre nicht so. Ich möchte nicht für die ganze Herde und ihre Sicherheit verantwortlich sein. Ich werde unter dem Druck bestimmt zusammenbrechen.“ Mutlos senkte Wolke den Kopf. Tamino versuchte den ganzen Tag sie aufzubauen, aber sie schien in einer Blase aus Trübsal und Angst zu traben. Tamino gab es irgendwann auf und wünschte sich er hätte dieses Thema nie angeschnitten.
Tamino, Wolke und die anderen liefen noch den ganzen Tag weiter. Über offenes Moorland und durch finstere Täler. Tamino fragte sich gerade, ob ihm seine Beine abfallen würden, wenn er noch länger weiterlaufen musste, da blieb Feder glücklicherweise an einer kleinen Wiese stehen und sagte: „Wir werden hier campieren. Es wird schon dunkel.“ Taminos Beine klappten erschöpft zusammen und er legte sich an Ort und Stelle nieder. Wolke legte sich neben ihn. Tamino sah sie genauer an. Sie war den ganzen Tag lang ohne Schwierigkeiten mitgekommen und sie schien nicht sehr müde zu sein. Tamino erinnerte sich, dass sie gesagt hatte sie würden den ganzen Monat reisen. „Wie soll ich das aushalten?“ dachte er verzweifelt. Nach diesem Tag hätte er sich am liebsten für zwei Monate schlafen gelegt, aber morgen würden sie schon weiterziehen! Und Tamino fürchtete sich davor wieder zu verschlafen und wieder die abfälligen Kommentare über „verweichlichte Hauspferde“ ertragen zu müssen. Nein, das durfte nicht passieren. Er musste sich jetzt schlafen legen, damit er morgen mitkam. Im Halbschlaf bemerkte er wie Wolke ihm mit leichten Kneifen den Rücken mit ihrem Maul massierte. Tamino schnaubte glücklich und schlief ein.
Am nächsten Tag wachte er auf als ihn eine weiche Nase leicht aber stetig anstupste. Schlaftrunken murmelte er etwas von ‚noch nicht’ und ‚komm später wieder’. Doch dann hörte er Wolke. Sie klang ungeduldig: „Tamino komm, bevor wieder alle denken du hättest verschlafen!“ Mir einem Mal war Tamino auf den Beinen. „Sie warten schon?“ Wolke schnaubte belustigt: „Keine Sorge, sie stehen auch gerade erst auf, aber du sahst aus als würdest du noch ewig weiterschlafen, also hab ich mir gedacht ich wecke dich lieber.“ Tamino schüttelte sich: „Gute Idee, danke. Ich könnte mich sofort wieder hinlegen. Wie schaffst du es nur so früh aufzuwachen?“ klagte Tamino müde. Wolke antwortete: „Genauso wie du es auch schaffen wirst: Durch Übung. Das frühe Aufstehen, die langen Reisen das ist alles Gewöhnungssache.“ Tamino schnaubte; er war nicht überzeugt, dass er jemals mit so wenig Schlaf auskommen würde wie Wolke, die putzmunter schien und schon zu den anderen getrabt war. Tamino streckte sich und lief ihr hinterher. Seine Beine protestierten, aber er lief tapfer weiter. Wolke stand schon bei den anderen und unterhielt sich mit Feder und einem Pferd, dessen Fell goldenen schimmerte. Als Wolke ihn sah, kam sie auf ihn zugesprungen. „Feder hat mir aufgetragen dir die Pferde vorzustellen, die du noch nicht kennst.
Sie lässt die Herde heute extra im Schritt laufen, damit du dich allen vorstellen kannst. Komm mit!“ Sie sprang wieder davon; Tamino folgte ihr wenig begeistert. Er hatte keine Lust sich wieder von allen Kommentare über seine Herkunft anhören zu müssen. Das konnte ja lustig werden!
Wolke stand wieder bei dem goldenen Pferd, Feder war weg. Tamino kam auf sie zu und das goldene Pferd nickte ihm grüßend zu: „Hallo, Tamino richtig?“ Als er nickte fuhr sie fort: „ ich bin Sonne und Wolkes beste Freundin. Du denkst wahrscheinlich niemand außer ihr und Feder kann dich leiden. Ich bin ganz ehrlich, die meisten tun das auch nicht. Aber ich bin mit keinem vorschnell. Ich möchte dich gerne kennenlernen, damit ich dann sagen kann was ich von dir halte. Und das ist dann meine Meinung und nicht die nachgeplapperte von jemand anderem.“ Tamino sah ihr überrascht in die schokoladenfarbenen Augen. Sie waren voller Ehrlichkeit und Offenheit. Er war beeindruckt von ihrer Denkweise, dass sie nicht einfach etwas behauptete ohne es zu überprüfen. Er nickte anerkennend mit dem Kopf: „Deine Art gefällt mir. Danke, dass du nicht vorschnell über mich urteilst. Ich versuche wirklich mich in die Herde einzugliedern.“ beteuerte er. Sonne nickte. „Gut, ich wünsche dir viel Glück dabei. Ich hoffe du schaffst es.“ Damit ging sie. Wolke wieherte froh: „Sie ist großartig, oder?“ Tamino nickte: „Ja, ich mag sie auch.“ Wolke nickte zustimmend. „Okay, komm das waren noch längst nicht alle.“ Tamino folgte ihr, als sie ihm die anderen Pferde der Herde vorstellte, darunter Blitz ein schwarzer Hengst mit goldenen gezackten Strichen, Abend ein wirklich beeindruckend orange-roter Hengst und Stern, eine hellbraune Stute, die wirklich sternförmige weiße Flecken hatte. Sie alle waren Tamino gegenüber nicht sehr freundlich gestimmt und beäugten ihn misstrauisch. Kirsche, eine dunkelrote fast schwarze Stute, gab ihrem Sohn Brombeere mit den Ohren ein Zeichen und sie staksten davon, bevor Tamino zu einer Begrüßung anheben konnte und Mond, ein hellgrauer Hengst, murmelte nur leise ‚Hauspferd’ und trabte dann davon. Tamino war enttäuscht von diesen nicht gerade freundlichen Begrüßungen und ließ den Kopf hängen. Wolke stupste ihn aufmunternd an: „Hey, alles wird gut. Sie werden sich schon dran gewöhnen. Komm es fehlen nur noch zwei. Und die wirst du mögen, denn es sind Sonnes Eltern.“ Tamino fragte sie: „Sehen sie das mit den Vorurteilen denn auch so wie Sonne?“ Wolke lachte: „Natürlich. Was meinst von wem Sonne diese Ansichtsweise hat? Ihre Eltern sind vernünftige Pferde, glaub mir!“ Tamino schöpfte wieder etwas Hoffnung, als Wolke ihn zu zwei weiteren Pferden führte. Die Stute war golden genau wie Sonne. Es war nicht zu übersehen, dass sie verwandt waren. „Das ist Blatt.“ erklärte Wolke, „und das ist Sonnes Vater Ranke.“ Tamino sah den Hengst neben Blatt an. Er war dunkelbraun und hatte schwarze Muster, die wirklich wie Ranken aussahen. Seine schokoladenfarbenen Augen glichen aufs Haar denen seiner Tochter. Tamino neigte grüßend den Kopf. „Hallo, Blatt. Hallo, Ranke.“ sagte er nervös. Blatt sagte freundlich: „Keine Sorge, Tamino. Wir werden dir nicht den Kopf abreißen.“ Tamino murmelte: „Einige andere schon.“ Blatt lachte: „Nimm sie nicht zu ernst. Sie finden es schwer einen Außenstehende in unsere Herde aufzunehmen, aber dieses unhöfliche Gehabe wird aufhören.“ Tamino nickte jetzt eine Spur zuversichtlicher. Ranke fügte hinzu: „Ich hoffe Sonne hat nicht zu diesen uneinsichtigen Kratzbürsten gehört. Wir haben sie anders erzogen.“ Tamino sagte schnell: „Oh nein, Sonne war in Ordnung, aber sonst… naja.“ Blatt wiederholte: „Sie werden sich dran gewöhnen. Du wirkst auf mich weder faul noch verwöhnt, also sehe ich keinen Grund daran zu zweifeln, dass du hier überlebst.“ „Danke, Blatt.“ sagte Tamino dankbar und wandte sich dann mit Wolke ab. „Siehst du. Ich hab dir doch gesagt, dass Sonnes Eltern in Ordnung sind!“ rief Wolke. Tamino antwortete: „Ja, du hattest recht. Sie sind wirklich in Ordnung.“ Er war so froh, dass nicht nur Feder und Wolke ihn mochten, sondern auch andere Pferde aus der Herde. Als sie sich schließlich bei Dämmerung in einem Nadelwald niederließen schöpfte Tamino wieder etwas Mut, dass er hier akzeptiert werden könnte.
Einige Tage später ging Tamino über die Lichtung, auf der sie campierten. Er hatte eine Nachricht für Feder. Er wollte ihr mitteilen, dass Stein nun wieder reisefähig war. Er fand sie in einem Gespräch mit Bernstein. Sie unterhielten sich über Stein. Bernstein sagte gerade: „Wenn er nicht bald wieder längere Strecken laufen kann, müssen wir den ganzen Winter hierbleiben. Aber hier wächst nicht genug, damit alle Pferde sich satt essen können.“ Feder nickte ernst: „Ich weiß auch nicht, was wir machen sollen.“ Tamino räusperte sich. Bernstein und Feder blickten sich um. Tamino sagte: „Feder, ich habe sehr gute Neuigkeiten! Stein ist wieder vollständig geheilt! Wir können weiterziehen.“ Feder blickte Bernstein mit leuchtenden Augen an: „Siehst du, Schwesterherz. Wir hätten uns gar keine Sorgen machen brauchen.“ dann wandte sie sich wieder an Tamino, „Kann er auch längere Strecken laufen?“ Tamino nickte: „Er sagt er geht so weit wie er muss.“ Feder blickte ihn stolz an: “Vielen Dank, Tamino! Ich bin sehr stolz auf dich! Ich wusste sofort, dass aus dir etwas Ordentliches wird.“ Tamino neigte den Kopf und fragte: „Wirst du es jetzt den anderen sagen?“ Feder nickte. „Genau das hatte ich vor.“ Sie lief an ihm vorbei und rief die Herde zusammen. Bernstein folgte ihr. An Tamino gewandt sagte sie: „Gut gemacht, Haus- Tamino.“ verbesserte sie sich und schenkte ihm einen wohlwollenden Blick. Tamino, der von ihrer ungewohnten Freundlichkeit und der Tatsache, dass sie ihn nicht ‚Hauspferd’ genannt hatte überrumpelt war, brachte ein kurzes Nicken zustande. Inzwischen war die Herde auf der Lichtung eingetroffen, auch Stein kam hinzu. Er bewegte sich schon sehr sicher und sein Kratzer war fast nicht mehr zu sehen. Tamino setzte sich neben ihn. Stein sah ihn freundlich an und sagte: „Ich werde dir das nicht vergessen Tamino.“ Tamino neigte den Kopf. „Es war mir eine Ehre.“ sagte er. Feders Stimme unterbrach ihn: „Da Stein nun wieder reisefähig ist, können wir morgen weiterziehen!“ Freudiges Gemurmel ging durch die Menge. Feder fuhr fort: „Diese Neuigkeit überbringe ich euch nicht ohne einen bestimmten Namen zu nennen: Tamino hat sich nach seiner Verletzung um Stein gekümmert und hat mit seinen Freunden die heilende Pflanze gefunden, die ihr geheilt hat. Er hat sich mit Hingabe und Verstand Steins Wunde angenommen und dafür danke ich ihm.“ Feder blaue Augen sahen ihn freundlich an und ihm wurde warm. Die Blicke der kompletten Herde lagen nun auf ihm. Er sah sie sich genauer an: Kein Hass, keine Verachtung lag in ihren Blicken. Nur Dankbarkeit, Wohlwollen und Bewunderung. Glücklich hob Tamino den Kopf und sprach: „Es war mir eine Ehre eine tapferen Krieger wie Stein zu kurieren. Genauso ist es mir eine Ehre Teil dieser Herde zu sein. Und dafür danke ich dir.“ sagte er und richtete seine Augen auf Feder. Sie blickte glücklich zurück. Dann wandte sie sich an die Herde: „Gut, bereitet nun alles vor, damit wir morgen zeitig loskommen.“ Damit ging sie und die Herde zerstreute sich. Viele gingen an Tamino vorbei und dankten ihm. Gerade als Tamino dachte noch besser könne es nicht werden, kam Nacht auf ihn zu. Zum ersten Mal lag keine Verachtung in seinem Blick: „Gut gemacht, Tamino. Ich denke du hast eine Entschuldigung verdient.“ sagte er. Tamino neigte den Kopf: „Schon gut, Nacht. Danke!“ Der schwarze Hengst nickte kurz dann ging er. Tamino sah ihm nach und fühlte wie er vor Freude fast explodierte. Die Herde hatte ihn akzeptiert!
Nun war alles gut.
Es war dunkel auf dem Hof. Alles war still, der Platz, der Stall, das Haus. Doch noch jemand regte sich. Es war ein hübsches weißes Pferd, das im Mondlicht über die Wiese ging. Sie blieb stehen und sah zum Mond hinauf. Sein Licht brachte ihr Fell zum Leuchten wie ein Stern. In ihren braunen Augen lag Trauer und Schmerz. Dann sprach sie: „Oh Tamino, mein einziger Sohn. Wo bist du nur?“ die Stute senkte traurig den Kopf. Es war nun mehrere Monate her, dass ihr Sohn eines Nachts verschwunden war. Seitdem hatte sie ihn nie mehr gesehen. Pass auf dich auf, mein Kleiner! hauchte sie dem Mond zu.
In den folgenden Tagen lief die Herde nicht. Sie blieben auf der kleinen Lichtung, damit Stein sich ausruhen konnte. Kirsche und Brombeere verbrachten jede freie Minute bei ihm. Sie verließen ihn nur kurz, um zum See zu gehen und zu trinken. Stein wurde unter einer Trauerweide, wo er vor den Blicken von Angreifer geschützt war, untergebracht. Tamino kam jeden Tag, um die Wunde zu untersuchen und neue Paste aufzutragen.
Heute begleitete ihn Wolke zu Stein. Sie traten in den Schutz der Zweige. Stein drehte sich um. „Oh hallo Tamino, hallo Wolke! Schön euch zu sehen.“ Stein ging es sichtlich besser. Seine Augen leuchteten und er konnte sich auf schon wieder bewegen. Die beiden kamen näher und Tamino fragte: „Wie geht es dir, Stein?“ Stein sah ihn freundlich an: „Dank dir geht es mir schon viel besser. Schaut selbst!“ Er drehte sich vollends um und entblößte den verletzten Bauch. Von dem eitrigen Wulst, der vor ein paar Tagen noch den Bauch verunstaltete hatte, war nur noch ein großer Kratzer übrig. Die Blutung war längst gestillt worden und dank der Blumen waren die eitrigen Ränder fast gänzlich verschwunden.
Vor ein paar Tagen war die Wunde einfach nicht zusammengewachsen, da hatte Tamino einen Geistesblitz gehabt. Sie würden die Wunde mit Honig verschließen! Seitdem hatte er zusätzlich zu den Blumen auch regelmäßig Honig auf die Ränder geleckt und die Wunde dann vorsichtig zusammengedrückt. Der Versuch wirkte und nun war die Wunde zusammengewachsen und kaum noch eitrig. „Das heilt ja schon super.“ bemerkte Wolke anerkennend. Ihr Lob wärmte Tamino das Herz und er fühlte sich stolz und sicher. Er schnupperte vorsichtig an dem Kratzer und sagte froh zu Stein: „Ich glaube die Blumen tue ich heute zum letzten Mal drauf. Danach lassen wir den Kratzer einfach in Ruhe.“ Stein freute sich sichtlich über die Neuigkeit: „Zum Glück! Diese Paste, die brennt vielleicht! Also bringen wir es hinter uns, Junge.“ Er drehte
Tamino seinen Bauch zu. Tamino fragte Wolke: „Kannst du vielleicht ein paar Blumen holen?“ Wolke nickte und ging. Kurz darauf kehrte sie mit einigen orangenen Blumen im Maul zurück. Diese legte sie vor Tamino ab, der sie in den Mund nahm und zu kauen begann. Wolke erzählte: „Gut, dass die Wunde jetzt auch ohne Paste auskommt, das sind nämlich die letzten die wir haben. Sonst hätten wir zurück zu den Bären gemusst und, glaub mir, da kriegen mich keine zehn Pferde mehr rein.“ Tamino schnaubte belustigt: „Mich auch nicht!“. Er senkte den Kopf und begann Steins Wunde zu lecken. Er hörte, wie Wolke ging. Kirsche und Brombeere waren Trinken gegangen; er war allein mit Stein. Dieser ließ sich ruhig von Tamino behandeln und erzählte dabei: „Weißt du, Tamino, am Anfang konnte ich dich, wie fast alle aus der Herde, gar nicht leiden. Ein Hauspferd in unsere Reihen aufzunehmen schien mir wahnwitzig, verrückt. Ich dachte, jemand wie du könnte nie in der Wildnis überleben mit Hunger, Wandern und Raubtieren. Doch ich hab mich getäuscht. Du hast überlebt. Und mehr als das: Du hast einen Bären mithilfe deines Verstandes in die Irre geführt und deine Freunde dabei gerettet, du hast für jemanden, der nie freundlich zu dir gewesen ist, dein Leben riskiert und deine ganze Energie darin investiert, dass dieser wieder gesund wird. So jemanden wie dich habe ich noch nie getroffen.“ Tamino blieb vollkommen still und lauschte dem grauen Kämpfer, der ihn lobte. Ihn ein Hauspferd, von dem er zugegeben hatte, dass er ihn erst nicht gemocht hatte. Tamino war so froh darüber, dass er den ganzen Weg zurück auf die Lichtung am liebsten gesprungen wäre.
Tamino atmete erleichtert auf, als der Bär im Gebüsch verschwand. Langsam stand er auf, die Ohren auf den Wald gerichtet, damit er es hörte, wenn der Bär zurückkäme. Neben ihm rappelten sich nun auch Sonne und Wolke auf. Beide wirkten arg mitgenommen und rochen, wie er selbst, stark noch Knoblauch, aber verletzt schienen sie nicht zu sein. Sie legten die Blumen, die sie im Mund hatte, auf den Boden und Tamino fragte: „Alles in Ordnung mit euch?“ Wolke nickte und Sonne sagte atemlos: „Das war knapp!“ Tamino nickte zustimmend. Sie hatten Glück gehabt, dass es schon dunkel gewesen war. Wolkes Fell mochte mit dem weißen Knoblauch verschmelzen, aber Sonnes helles Fell wäre nicht so leicht zu übersehen gewesen. „Gut, wenn es euch gut geht, dann lasst uns jetzt schnell gehen.“ entschied Tamino. „Bevor der fette Fellball zurückkommt.“ fügte Sonne hinzu. Wolke sagte: „Dann kommt. Wir müssen schnell zu Stein.“ Sie nahm ihre Blumen wieder auf und lief los, Sonne folgte ihr. Tamino folgte ihnen schnell, die heilenden Blumen fest im Maul.
Sie liefen eine ganze Weile schweigend durch den Wald und konzentrierten sich auf den Weg. Tamino fühlte nun doch die Erschöpfung, die ihm die Glieder hochkroch wie ein lähmendes Gift. Er spornte sich selbst in Gedanken an: Komm schon! Ein Stückchen noch! Für Stein! Doch seine Kraft war aufgebraucht. Er wurde immer langsamer und er merkte, dass auch Sonne und Wolke erschöpft waren und sich dankbar seinem neuen Tempo anpassten. Endlich kam die Herde in Sicht. Als Tamino sie sah lief er nun doch etwas schneller und kam schließlich bei Stein an, der immer noch an derselben Stelle lag, an dem sie ihn verlassen hatte. Seine Wunde sah furchtbar aus! Die Ränder des großen Kratzers waren eitrig und verkrustet. Tamino sah, dass die Herde seine Anweisung die Wunde nicht zu berühren, befolgt hatten. Kirsche saß mit traurigen Augen neben ihrem Gefährten und tröstete geistesabwesend ihren Sohn, der auf ihrer anderen Seite saß. Feder kam auf Tamino zugaloppiert und fragte: „Tamino! Warum habt ihr so lange gebraucht?“ Tamino öffnete den Mund, doch es war Wolke, die antwortete: „Mama, ich erkläre es dir. Lass Tamino solange Stein behalten.“ Feder sah ihre Tochter an. „Gut, du und Sonne erzählt mir und der Herde, was passiert ist. Tamino bleibt hier und kümmert sich um Stein.“ Damit wandten sich die drei ab und ließen Tamino allein mit dem verwundeten Kämpfer und seiner Familie.
Während Tamino lief, merkte er, dass seine Erschöpfung wie weggeblasen war. Seine Hufe flogen über den Boden und wirbelten Unterholz auf. Inzwischen brach die Nacht herein. Im Lauf weitete er die Nüstern, um jeden kleinen Hauch der gesuchten Pflanze, die Stein heilen würde, aufzunehmen. Doch außer einem großen Busch Knoblauch roch er nichts. Der Geruch überdeckte alles andere. Wolke und Sonne liefen neben ihm her und suchten mit den Augen die Umgebung ab. Für einen kurzen Moment trafen sich Taminos und Wolkes Blick und die Welt schien einen Moment still zu stehen.
Wir schaffen das! sagten ihm ihre vertrauten, blauen Augen und er schöpfte Mut daraus. Der Boden wurde noch federnder, sodass er noch schneller lief. Er wandte den Blick ab und lief weiter durch den Wald, bis Sonne, die vor ihm gelaufen war plötzlich stehen blieb. Er verlangsamte sein Tempo und kam zusammen mit Wolke neben Sonne zum Stehen. „was ist de-„ hob Tamino an, aber Sonne unterbrach ihn: „Das ist der Wald der Bären. Dort können wir nicht hinein.“ Ihre braunen Augen flogen besorgt über den dunklen Nadelwald, der vor ihnen lag. Tamino bemerkte noch etwas anderes, als den penetranten Gestank der Bären, die in diesem Wald hausten. Ein schönerer, fruchtiger Geruch kam dazu…ein blumiger Geruch! Taminos Blick flog zu einem großen Beet in dem Wald, in dem eine Menge orangener Blumen wuchsen. „Da! Die Blumen!“ wieherte Tamino aufgeregt. „Psst!“ zischte Wolke, „willst du den ganzen Wald auf uns aufmerksam machen?“ Tamino sagte widerspenstig: „Aber die Blume! Sie ist direkt dort vor uns. Wir müssen sie holen!“ Wolke legte die Ohren an: „Darein?“ fragte sie und wich unwillkürlich zurück. Tamino nickte. „Ich will da auch nicht rein, aber wenn wir es nicht tun, stirbt Stein!“ Das schien Wolke zu erreichen. Sie richtete ihren klaren blauen Blick auf ihn und sagte traurig: „Du hast recht! Also kommt endlich. Je eher ich aus diesem Wald raus bin, um so eher bin ich glücklich.“ Damit ging sie in den Nadelwald vor ihnen hinein, Sonne folgte ihr und Tamino bildete den Schluss.
Als sie den Wald betraten, wurde Tamino zurückversetzt in die Szene, als er sich zum ersten Mal im Wald verlaufen hatte. Die dunklen Bäume hier erinnerten ihn lebhaft daran. Er riss sich zusammen und zwang seine Beine hinter Sonne herzulaufen. Sie gingen im schnellen Trab geradewegs zu der Stelle, wo die Blume wuchs. Sie erreichten das Beet und senkten die Köpfe, um die Blütenstiele mit den Zähnen abzureißen. Tamino unterdrückte den Impuls sie hinunterzuschlucken. Als er genug Blumen abgerissen hatte, kehrte er zusammen mit Sonne und Wolke den Rückweg an. Diesmal übernahm Tamino die Führung und Sonne und Wolke liefen hinter ihm. Als der Waldrand in Sicht kam, schöpfte Tamino Hoffnung sie könnten unbemerkt entkommen. Doch genau in dem Moment ertönte hinter ihnen ein tiefes Knurren. Tamino blickte sich entsetzt um und sah die Silhouette eines großen, braunen Bären am Horizont, der auf sie zugerannt kam. „Oh nein! Weg hier!“ schrie Tamino entsetzt und lief im rasenden Galopp auf den Waldrand zu. Hinter sich hörte, dass die anderen ihm folgten. Während er lief, überlegte Tamino, was sie jetzt tun sollten. Wenn sie zur Herde zurückrannten würden sie den Bären dorthin führen! Tamino überlegte verzweifelt. Doch dann fiel ihm der Knoblauch ein! Natürlich! Sie könnten sich darin verstecken, damit der Bär ihre Spur verlor. Das war die Idee! Glücklich, dass er eine Lösung gefunden hatte, lief er noch schneller und rief er mit dem Maul voller Blumen nach hinten: „Folgt mir! Ich habe eine Idee.“ Er horchte auf eine Antwort, doch der Wind übertönte sie. Tamino drehte sich kurz im Lauf nach hinten und, als er sich vergewissert hatte, dass sowohl Sonne als auch Wolke mitkamen, drehte er sich wieder um und lief weiter. Inzwischen hatten sie den Waldrand erreicht und Tamino hielt überall nach dem Knoblauch Ausschau. Er hoffte er war nicht daran vorbeigelaufen! Hinter ihm brüllte der Bär, doch er war noch weit weg. Dann roch er es: Knoblauch! Rechts von ihnen war das Beet. Er änderte die Richtung und lief direkt auf das hohe Beet zu. Als er ankam, warf er sich geradewegs in die kleinen Knoblauchpflanzen hinein. Der Geruch war überwältigend, doch Tamino blieb still liegen. Sonne und Wolke kamen einen Moment später und legten sich neben ihn. „Gute Idee!“ lobte Sonne leise. Tamino nickte dankbar. Er hoffte, dass es inzwischen zu dunkel war, als dass der Bär sie erkennen könnte. Sie warteten eine Weile. Dann hörten sie das Schnaufen des rennenden Bären und einen Moment später kam er aus dem Wald. Er war riesig! Seine kurzen Beine verlangsamten und der Bär hielt verwirrt inne. Witternd hob er die Nase und schnüffelte. Tamino hielt die Luft an, als der Bär mit schweren Schritten direkt an ihrem Versteck vorbeilief, sie aber nicht bemerkte. Nach einer Weile drehte sich das riesige Tier mit einem frustrierten Brüllen um und verschwand zwischen den Bäumen.
Kaum war die letzte graue Wolfsrute im Gebüsch verschwunden verlangsamte die Herde und blieb schließlich stehen. Tamino keuchte erschöpft. Der lange, schnelle Lauf hatte ihn ausgelaugt und er würde sich am liebsten hinlegen und schlafen. Nacht, Feuer, Stein und Eis kamen zerkratzt und erschöpft zum Rest der Herde hinzu. Neue Wunden zogen sich über die alten Narben von bereits vergangenen Kämpfen. Feuer und Eis waren nicht sehr arg zugerichtet; Feuers Ohr war von einem Wolf zum V gespalten worden, doch es blutete kaum noch. Eis hatte nur einige Kratzer an der Flanke, die aber nicht sehr tief waren. Nacht war übler zugerichtet; sein ganzes schwarzes Fell war blutbespritzt und feucht und er lief humpelnd auf drei Beinen, um sein verrenktes Hinterbein zu schonen. Doch wo war Stein? Tamino sah sich suchend auf der Lichtung um. Dann entdeckte er ihn. Er lag stöhnend im Gras auf der Seite. Sein Auge war halb geschlossen und glänzte dunkel vor Schmerz. Tiefe Schrammen zogen sich über seinen kompletten Bauch und benässten das Gras um ihn herum und färbten es dunkelrot. Der tiefe, dunkle Geruch von Blut strömte Tamino in die Nüstern und er wich mit angelegten Ohren zurück. Dann entdeckte Feder den Kämpfer: „Stein!“ wieherte sie entsetzt und galoppierte auf den schwer atmenden Körper zu. Auch die anderen Pferde drehten sich nun um und sahen Stein. Kirsche, die Steins Gefährtin war, keuchte erschrocken auf und lief mit ihrem Sohn Brombeere auf Stein zu. Noch vor Feder erreichte sie den Körper ihres Gefährten. Sie riss den Kopf hoch und rief: „Stein! Nein! Verlass mich nicht!!“ Inzwischen versammelte sich auch der Rest der Herde um Stein. Tamino war wegen seiner Erschöpfung einer der letzten, die dort ankamen. So versperrten ihm alle anderen Pferde die Sicht. Er roch den Geruch von Blut, doch auch etwas anderes mischte sich darunter, was dem ganzen eine noch widerlichere Note gab. Der Geruch kam ihm vage vertraut vor und er zerbrach sich den Kopf woher. Gerade als Feder den Kopf senkte, um Steins Wunde mit der Nase zu untersuchen erinnerte er sich und schrie: „Halt! Berühr ihn nicht!“ Alle Pferde drehten sich irritiert zu ihm um und durchbohrten ihn mit seinen Blicken. Doch im Moment war Tamino, das gleichgültig, denn er hatte den widerlichen Geruch erkannt: Eiter! Er kannte ihn von seinem Leben bei den Menschen auf dem Hof. Feder sah ihn verwirrt an und musterte ihn mit ihren dunkelblauen Augen: „Tamino? Was soll das heißen?“ Tamino ging auf sie zu. Alle anderen Pferde wichen von ihm ab, sodass sich eine kleine Lücke in der Masse bildete. Tamino schlüpfte durch sie hindurch und trat an Stein heran. An Feder gewandt erklärte er: „Steins Wunde ist entzündet. Der Schmutz an der Wolfskralle hat sie verunreinigt. Wenn ihr sie jetzt zu viel berührt, wird er sterben. Der Kratzer muss mit Pflanzen behandelt werden, um zu heilen, alles andere hilft nichts!“ Ungläubiges Murmeln ging durch die Menge, doch Tamino ignorierte es und sah Feder unverwandt an und wartete auf ihre Antwort. Sie sagte schließlich langsam: „Woher willst du das wissen?“ Tamino erklärte: „Ich kenne diese Art von Wunden von meinem alten zuhause. Damals ist ein Hengst vom Hof in den Wald gegangen. Dort wurde er von einem Bären angefallen und er konnte sich nur mit Mühe zurück auf den Hof schleppen. Dort haben die Menschen seine Wunde versorgt. Sie holten orangene kleine Blumen und zermalmten sie. Die strichen sie auf die Wunde und sie heilte ab. Aber sie haben die Wunde fast nicht berührt nur jeden Tag die Blumenpaste draufgestrichen. Ein paar Tage später war die Wunde fast weg.“ Nacht humpelte vor: „Und warum sollten wir dir das glauben, Hauspferd?“ fragte er mit blitzenden Augen, „warum sollten wir dir das Leben eines unserer Kämpfer anvertrauen?“ Tamino kniff wütend die Augen zusammen und fuhr Nacht an: „Darüber könnt ihr euch keine Gedanken machen, sonst stirbt Stein!“ Bevor Nacht etwas erwidern konnte, ging Feder dazwischen: „Nacht, bitte geh und erhole dich. Du hast schwere Wunden davon getragen.“ Nacht blitze sie an doch dann nickte er knapp und stakste davon. Die meisten anderen folgten ihm. Feder wandte sich nun an Tamino: „Ich bin nicht gewillt eines meiner Pferde sterben zu lassen, wenn es vielleicht eine Möglichkeit gibt es zu retten. Glaubst du, du kannst diese Blumen, von denen du gesprochen hast, erkennen?“ Tamino nickte. „Gut dann nimm dir ein oder zwei Pferde mit, die dir beim Suchen und beim Tragen helfen. Und beeil dich!“ Tamino nickte erneut und wandte sich ab. Er lief auf Wolke zu und rief ihr zu: „Hey, Wolke. Kommst du mit? Ich muss diese Blumen suchen.“ Wolke wandte sich um. „Gut.“ Sagte sie und trabte auf ihn zu. Sonne kam hinter ihr her: „Ich komme auch mit, okay?“ schlug sie vor. Tamino nickte: „Klar, warum nicht? Kommt!“ Und damit lief er los dicht gefolgt von Wolke und Sonne.
Tamino wachte abrupt auf, als ein panisches Wiehern über den Wald gellte: „Wölfe!! Lauft!“ Tamino erschrak und sah starr vor Schreck auf einige sehr große graue Hunde, die langsam und drohend auf die Herde zukamen. Der größte, wahrscheinlich der Leitwolf, knurrte mit gefletschten Zähnen und die Wölfe liefen los. Das war der Moment, in dem Tamino klar wurde, dass er rennen musste. Er begann zu laufen. Schneller, als er je gelaufen war. Die Herde wirbelte eine Menge Unterholz auf, sodass Tamino kaum sah, wohin ihn seine Beine trugen, doch das war egal. Das Donnern von knapp hundert Hufen zeigte ihm wohin er laufen musste. Schließlich wurde das Unterholz weniger; sie hatten den nachgiebigen Waldboden verlassen und liefen über eine offene Wiese. Der federnde Boden brachte Tamino noch mehr Schnelligkeit und er hatte das Gefühl über die Wiese zu fliegen. Er merkte, dass das Knurren der Wölfe hinter ihm leiser wurde, doch es verstummte nicht. Tamino wagte einen Blick nach hinten, sodass sich ihm ein Bild bot, für das er keine passenden Worte fand. Schrecklich? Beängstigend? Beeindruckend? Nacht, Feuer, Eis und Stein, die Kämpfer der Herde hatten den Kampf gegen die Wölfe aufgenommen. Immer wieder traten sie die Wölfe mit ihren schweren Hufen und bissen sie mit ihrem kräftigen Maul. Doch die Wölfe waren keineswegs machtlos. Sie waren in der Überzahl, wenn auch nur knapp. Zwei der Wölfe hatten Stein zu Boden geworfen und versuchten ihn zu beißen. Stein wand sich mit all seiner Kraft unter ihnen, doch er schaffte es nicht hochzukommen. Doch dann war Nacht da. Er packte den Wolf, der Stein festhielt mit den Zähnen und schleuderte ihn mit ungeheurer Kraft über die ganze Lichtung. Der Wolf winselte leise und zog sich humpelnd zurück. Nachdem sich Nacht vergewissert hatte, dass Stein sich in Sicherheit geschleppt hatte, wandte er sich dem zweiten Wolf zu, der Stein angegriffen hatte. Er war riesig und nicht hellgrau wie seine Gefährten, sondern so tief dunkelgrau, dass es schon fast schwarz war. Er knurrte kämpferisch und sprang Nacht an, doch Nacht war bereit für ihn, drehte sich um und traf ihn mit einem wohlgezielten Tritt in die Flanke. Der Wolf keuchte auf, als der schwere Huf in seine Seite knallte. Wütend knurrte er erneut, doch es klang nicht mehr so kämpferisch, sondern eher unterwürfig. Dann heulte der Wolf gespenstisch laut auf und lief zurück in den Wald mit dem Rest seines Rudels im Gefolge.
„Ta- Tamino? Kannst du mir helfen?“ fragte Stein mit schwacher Stimme. Tamino nickte: „Deswegen bin ich hier.“ Stein seufzte beruhigt und erklärte: „Ich bemerke schon die ganze so einen komischen Schmerz in der Wunde. Nicht den normalen Schmerz, an den hab ich mich inzwischen gewöhnt.“ sagte er wehmütig, „etwas anderes, es sticht seltsam, wie ein Bienenstich oder so etwas. Kannst du mal nachschauen?“ Tamino beschnüffelte vorsichtig Steins Wunde ohne sie zu berühren. Sie roch nach Blut und Eiter…und nach Schmutz! Tamino suchte weiter und fand einen dreckigen, kleinen Stock, der in der Wunde steckte. „Ich hab die Ursache gefunden. Ein Stock steckt in der Wunde. Wahrscheinlich von der Wolfskralle.“ Stein fragte: „Kannst du ihn rausziehen?“ Tamino ging mit dem Maul noch näher an die Wunde und bemühte sich trotz des ekelhaften Gestanks des Eiters nicht zurückzuzucken. Er nahm versuchsweise den Stock zwischen die Zähne und zog. Stein sog zischend die Luft ein. „Au!! rief er. Von dem Schrei wachte Kirsche auf, die neben ihm eingenickt war. Vorwurfsvoll fuhr sie Tamino an: „Hättest du mir nicht sagen können, dass du ihn jetzt behandelst? Ich möchte helfen!“ Tamino senkte verlegen den Kopf: „Tut mir leid. Daran habe ich nicht gedacht.“ Kirsche schnaubte: „Das hab ich bemerkt. Also was kann ich tun?“ Tamino überlegte kurz. Der Stock steckte nicht mehr in der Wunde, doch der Schmutz war in die Wunde gekommen. „Hol Wasser!“ befahl Tamino Kirsche, „und nimm Brombeere mit, zusammen könnt ihr mehr tragen. Und beeilt euch!“ Kirsche nickte ernst und schlug zusammen mit Brombeere den kurzen Weg zum nahegelegenen See ein. Tamino fiel auf, das sie seit sie aufgewacht war, fast normal mit ihm gesprochen hatte ohne seine Herkunft zu erwähnen oder misstrauisch zu sein, ob er Stein überhaupt helfen würde. Auch Stein war noch nie nett zu ihm gewesen, außer jetzt wo er verwundet auf dem Boden lag. Steins Verletzung und die Tatsache dass ich ihm helfen kann, schweißt uns zusammen. erkannte Tamino.
Brombeeres Stimme riss ihn aus seinen Gedanken: „Hier! Mehr konnten wir nicht tragen.“ sagte er und schob ihm etwas Wasser auf einem großen schalenförmigen Blatt hin. Kirsche legte ihres daneben. „Was können wir jetzt machen?“ fragte sie. Tamino war auf diese Frage vorbereitet und antwortete: „Spült die Wunde mit dem Wasser aus, indem ihr es mit der Zunge aufnehmt und auf die Wunde leckt. Wenn ihr kleine Stöcken oder Erdbröckchen seht, nehmt sie ganz vorsichtig mit den Zähnen raus und versucht die Wunde nicht zu berühren.“ Kirsche nickte und er sah wie ein für sie höchst untypischer Anflug von Bewunderung über ihr Gesicht huschte, als sie sah wie sicher er die Anweisungen gab. Sie und Brombeere machten sich an die Arbeit. Tamino nahm währenddessen einige der Blumen, die er Wolke und Sonne gesammelt hatten, in den Mund und zerkaute sie. Bald hatte er eine breiige Blumenpaste im Maul. Brombeere meldete ihm: „Wir sind fertig! Und jetzt?“ Tamino signalisierte ihm mit den Ohren, er solle beiseite treten. Brombeere ging mit Kirsche aus dem Weg und Tamino trat an Stein heran. Er fragte sich, ob es ihm wehtun würde, wenn er die Paste auf die Wunde leckte. Du ersparst ihm so viel schlimmere Schmerzen. sagte er sich. Vorsichtig streckte er die Zunge raus und leckte die Blumenpaste auf Steins Bauch. Stein holte zischend Luft, als die Paste seine Wunde berührte. Tamino sah beunruhigt auf. Kirsche löste sich von ihrem Sohn und ging auf ihren Gefährten zu. Sie flüsterte ihm leise Worte zu, dann blickte sie auf und sagte zu Tamino: „Mach weiter, er schafft das!“ Tamino nickte und machte sich an die Arbeit. Er bemerkte, wie Stein sich unter ihm versteifte, doch kein Laut war zu hören. Tamino fuhr fort und leckte die Blumen auf Steins Wunde, bis sein Maul leer war und die Wundränder voller orangenem Brei. Stein seufzte wohlig, als Tamino aufhörte. Er sah ihn dankbar an, seine hellen Augen leuchteten: „Danke Tamino!“ Dann schlief er ein.
LeonieSchrage Nächster Band ist in Arbeit! - Ich arbeite im Moment am 2.Teil dieser Reihe, das wird aber noch sehr lange dauern, bis der fertig ist. x_X |
LeonieSchrage Re: Wie ein Märchen - Zitat: (Original von Karimela am 21.07.2013 - 10:02 Uhr) Eine wirklich zauberhafte Geschichte, die wunderschön geschrieben und formuliert ist. Ein kleiner Hengst wird erwachsen und stellt sich den Heraussforderungen seines neuen Lebens. Hat mir wirklich gut gefallen. Liebe Grüße Karimela Hallo Karimela, super, dass dir das Buch gefallen hat! :) Danke für dein Feedback! Lg Leonie :)) |