Fantasy & Horror
Shion's Shiun - Das Lied der violetten Wolken

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"Shion's Shiun - Das Lied der violetten Wolken"
Veröffentlicht am 20. Juli 2013, 38 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Shion's Shiun - Das Lied der violetten Wolken

Shion's Shiun - Das Lied der violetten Wolken

Beschreibung

München 1941. Elisabeth hat es nicht leicht, seit sie mit ihren Eltern ins Haus ihrer Großmutter zog. Die Welt ist im Wandel, alles, was früher einmal wichtig zu sein schien, verblasst. Die Menschen werden gezwungen, ihre Identität aufzugeben, um Teil eines Ganzen zu sein. Das einzige, das sie aufheitern kann, ist ihre Musik. Doch sie rechnet nicht damit, dass dieses eine Lied nicht nur ihre eigene Seele heilt - und sie auf einen schmalen Grad zwischen christlicher, diktatorischer und ihrer eigenen Moral zwingt... Woher kommt die weiße Papierrose auf ihrem Fensterbrett?

Das Rätsel der weißen Rose

Violette Wolken zogen vorüber. Die Zeit verging nicht. Ein lauer Wind wehte, ließ einzelne Strähnen ihrers grauen Haares wehen, der wie eine Welle durch das weite Feld von Papierblumen strich. Es war viel zu langweilig hier... Es gab Zeit, die Gedanken abschweifen zu lassen. Ihre grünen Augen blickten voller Melancholie gen Himmel. Jeden Abend dasselbe. Wenn sich wenigstens das Wetter ändern würde. „Shion.“, rief eine raue Stimme, höhnisch lachend, „Ich habe was zu tun. Wäre echt nett, wenn du einspringen könntest.“ „Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“, erwiderte Shion, seufzte und setzte sich langsam auf. Das Wesen vor ihr war Mercurius, ein Götterbote. „Du kannst ein paar Männern einen Schrecken einjagen. Die haben so eben einen Juden abgeknallt.“ „Was du nicht sagst... Ist das da nicht mittlerweile Standard?“ Mercurius grinste. „Die würden sich wundern, wenn sie wüssten, was ihnen nach ihrem Tode blühen wird.“ Shion lächelte zurück. „Allerdings.“

Ihre schwarzen Flügel huschten durch den Himmel, flogen durch die grauen Wolken der Menschenwelt. Die Sonne verschwand am Horizont. Unter ihr wurde die ins orangerotes Licht getauchten Fassaden der Stadt sichtbar. Es dampfte und rauchte an einigen Stellen und erste Lichter wurden entzündet. Einige Frauen suchten innerhalb von Trümmerfeldern nach Verwertbarem. Truppen marschierten durch die engen Gassen. Shion lächelte. Das war also das München des Jahres 1992. Sie hatte schon schönere Städte gesehen, welche, die weniger zerstört waren. Aber das waren die Deutschen selber schuld... In einigen Jahren würde das alles ohnehin wieder anders aussehen. Was waren schon Jahrzehnte? Für Shion waren sie so lang wie eine Mittagspause.

Elisabeth rannte. Ihre Beine fühlten sich schwer an vom vielen Tanzen. Hätte sie es doch nur nicht getan... An diesem Abend schwor sie sich, nie wieder heimlich ausländische Musik zu hören, sollte sie ihn überleben. Swing. Allein dieses Wort. Aber diese Musik war so befreiend gewesen. Hatte jedes Problem verschwinden lassen. Leider auch die Zeit. Und nun irrte sie durch die Straßen, die alle so gleich aussahen, lange nach der Ausgangssperre. Eigentlich sollte man um diese Uhrzeit ohnehin nicht mehr auf der Straße sein. Sie hörte die lauten Schritte, die in der Gasse hinter ihr plätschernd widerhallten. „Bleib stehen, Mädel!“ Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Das Licht des Scheinwerfers reflektierte an den Wänden und blendete sie. Sie war doch keine Verbrecher. Ob sie das Ende dieses sinnlosen Krieges noch erleben würde? Ihr Vorsprung wurde geringer. Die Polizisten kamen näher. In ihrer Furcht achtete sie nicht auf das von den Wurzeln aufgerissene Kopfsteinpflaster. Schnell stand sie wieder auf, warf einen gehetzten Blick zurück und lief weiter.

Sie erreichte das Ende der Straße, rannte um eine Ecke und lief durch den angrenzenden Wald. Ein Gestrüpp am Wegesrand bietete ihr Schutz. Zügig ließ sie sich hineinfallen und zog ihre Beine zurück. Ihr Atem kam ihr viel zu laut vor. Sie hielt die Luft an. „Wo ist sie hin?“, erklang die verärgerte Stimme ihrer Verfolger, als sie die beiden aufrecht gehenden Männer bemerkt. Die Knöpfe ihrer schwarzen Uniformen glänzten in der Dunkelheit. Elisabeth fiel das Hakenkreuz ihrer roten Armbinde auf. Ihre Gesichtszüge waren so hart. Angst beschlich ihr Innerstes, als die beiden ihre Blicke suchend durch die Gegend fliegen ließen. „Ach, lass die Kleine doch laufen. Es ist ihr erstes Mal.“ „Du bist ein fauler Sack, weißt du das?“, fluchte der andere und warf verärgert seine Mütze auf den Boden, nur, um sie einige Sekunden später wieder aufzuheben und sorgsam sauber zu wischen. „Gehen wir...“ Elisabeth wartete, bis die beiden Männer gänzlich verschwunden waren, dann stand sie auf. Der Strauch hatte ihre Strumpfhose ruiniert. Überall waren Löcher. Sie wusste nicht, was ihr lieber gewesen wäre – die Gestapo oder ihre Mutter, wenn sie nachhause kam.

„Nun rede, Großvater! Wo ist jetzt dein Stern, hm?“ „Bitte, lasst mich in Ruhe, ich bitte euch...“, flehte der alte Mann und hielt sich schützend die Hände über den Kopf. „Widerlicher Drecksjude!  Du musst dich kennzeichnen, wie alle anderen auch!“ Der Größere der beiden spuckte abfällig neben sich. Shion landete erst auf einem der rampunierten Dachstühle, als es bereits stockfinster war, und hockte sich hin. Der Mond hinter ihr verlieh ihrer Gestalt etwas sehr Mysteriöses. Unter ihr fand sie die beiden Unbekannten, die bereits wiederum ihr nächstes Opfer im Visier hatten. Schwarze Jacken und Hosen. Die geheime Staatspolizei. Sie traten auf einen am Boden liegenden Greis ein. Amtsmissbrauch, dachte Shion und war enttäuscht, die Menschen werden immer verdorbener. Sie breitete ihre Flügel aus, schloss die Augen und ließ sich fallen, elegant wie ein Adler landete sie auf dem Boden. „Guten Abend die Herren...“, sagte sie und beide drehten sich um. Einer wollte etwas sagen, doch ihm blieben die Worte im Mund stecken, als er ihre stechend grünen Augen bemerkte, die in der Nacht leuchteten, als wären sie giftig. „Mir scheint es, als würden sie diesen Herren belästigen. Ich bitte sie nun freundlichst, dies und jede andere Tat dieser Art zu unterlassen, bevor ich mich wiederholen muss.“ Als sie sich vom ersten Schrecken erholt hatten, schubste einer den anderen an und beide liefen, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Ihr Blick fiel auf den Greis, der sich noch immer ängstlich die Hände vor das Gesicht hielt, um sich zu schützen. Sie blickte ihn an. Armes Wesen... Diese Angst in seinen Augen. Sie erinnerte sie an den einen Tag, der alles verändert hatte. Plötzlich durchschnitt eine sanfte Melodie Shions Ohren. Sie wandte den Kopf. Eine tröstende Melodie, die Shions leeres Herz förmlich zu rufen schien. Ohne noch einmal zurückzublicken, breitete sie ihre gigantischen Schwingen aus und folgte dem Klang.

Elisabeth klopfte. Die Unruhe fiel nur langsam von ihr ab. Vor ihrer Haustür war sie in Sicherheit. Es dauerte keine Minute, bis die Tür aufgerissen wurde - einen Spalt breit, sodass man gerade hindurch sehen konnte. Ein vertrautes Gesicht erschien. „Weißt du, wie spät es ist?“, fragte ihre Mutter. „Entschuldige, Mutter, ich hatte mich verlaufen...“, stammelte Elisabeth. Ihre Finger fühlten sich kalt an. Wahrscheinlich stand sie kurz vor dem Kältetod. Jedenfalls kam es ihr so vor. Die Stimme ihrer Mutter erhob sich. „Weißt du, was passiert, wenn man dich um diese Uhrzeit draußen erwischt? Die bringen die Kinder weg, weit weg, fort von ihren Eltern... Lisbeth, du wohnst seit Großmutters Tod seit zwei Wochen hier. Du solltest den Weg allmählich kennen.“, mahnte sie, dann öffnete sie die Tür ein Stück weiter. Sie trug ihr Nachtgewand. Ob Vater schon im Bett war? Elisabeth trat ein und zog sich die durchnässten Schuhe aus. Sie spürte den abfälligen Blick, der über ihre zerzausten, braunen Locken zu ihrer befleckten Bluse bis hin zu ihrer zerstörten Strumpfhose glitt. „Geh' ins Bett. Du bekommst heute kein Abendessen. Morgen möchte dein Vater mit dir sprechen.“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter noch sagen, ehe sie im Schlafzimmer verschwand. Elisabeth war zum Weinen zumute, aber sie riss sich zusammen. Vater mochte keine schwachen Mädchen, das würde es nur schlimmer machen. Also würde sie stark sein.

Sie trat in ihr Zimmer und schloss behutsam die Tür hinter sich. Die Nervosität, die das junge Mädchen verspürte, wenn sie an das Gespräch mit ihrem Vater dachte, schnürte ihr die Kehle zu. Was würde er sagen? In einer Ecke, direkt vor dem Fenster, stand er. Der für sie größte Schatz. Sie strich über das dunkle, glatte Holz, und ging zum Fenster, von wo aus sie den hellen Mond sehen konnte. Das einzige, was sie tröstete. Sie setzte sich an das Instrument und ließ den ihre Finger zielgenau über die Tasten streichen. All ihre Sorgen waren vergessen. Sie spielte eine leise, aber eindringliche Melodie, frei aus dem Herzen heraus, brauchte keine Noten. Dieses Lied war allein aus ihren Gedanken entstanden... Sie schloss ihre eisblauen Augen. Die Traurigkeit verflog, als wäre sie einfach von ihrer Seele abgefallen. Das Lied erklang in der Straße. Ein Hund jaulte. Der Wind hauchte zwischen den Blättern der alten Eichen vor ihrem Fenster hindurch. Es war ein Lied, das gleichzeitig beflügelte und von einem tiefen Leid erzählte. Lautlos fielen einige weiße Flocken vom Himmel. Der erste Schnee des Winters kam. Elisabeth spielte ein ruhiges, verträumtes Ende. Als sie die Finger ruhen ließ und die Augen wieder öffnete, erblickte sie vor sich etwas, das vorher nicht dort gelegen hatte, auf der Fensterbank. Wie war es dort hingekommen? Elisabeth befand sich doch im ersten Stock... Mit einer Hand hob sie die weiße Blüte, die wohl aus dünnem Seidenpapier gefaltet war, auf und betrachtete sie. Eine Rosenblüte. Sie schien förmlich von innen zu leuchten, schimmerte zart. Auch erhob sich plötzlich ein starker Wind, Elisabeth hielt ihre Kappe fest, die sie noch immer trug, seit sie so stürmisch auf ihr Zimmer geschickt worden war.  Sie legte sich ins Bett und legte das Kunstwerk neben sich ab, den Blick stur darauf gerichtet. War es möglich, dass der Wind... Aber wieso hatte er sie nicht fortgeweht? Ein Rätsel, das sie wohl niemals lösen würde.

Der dunkle Richter

Der Wasserspiegel des Sees, indem Shion saß, reichte ihr gerade mal bis zu den Knien. Es dampfte. Vollbekleidet saß sie in der grünlichen Flüssigkeit und ließ es sich gut ergehen. Diese Menschenwesen... Wozu waren ihre Kriege denn Nutze, ihre Art, andere zu peinigen? Was brachte es ihnen? Shion grübelte. Die Melodie, die sie gestern vernommen hatte, erklang noch immer in ihrem Kopf. Es war so ein wunderschönes Lied gewesen. Sie hatte das junge Mädchen gesehen, deren Fingern die Töne entsprungen waren. Es war aber nicht nur Musik an sich, sondern auch die Art, wie die Fremde sie interpretiert hatte. Ihr Spiel war einfach perfekt. So wunderbar und schön... Shion wusste nicht, wieso sie soviel darüber nachdachte. Das Wesen, das ihr diese Erinnerung geschenkt hatte, war ein Menschenkind wie jedes andere auch, gerade erst im geschlechtsreifen Alter. Was beschäftigte sie denn nur so an ihr?

Am nächsten Morgen in der  Kindertagesstätte erzählte Elisabeth ihrer Freundin Lena davon. Magdalena war eigentlich nur ihr Zweitname, aber Lisbeth nannte sie immer beim Zweitnamen, denn sie war die einzige, die das durfte. Es war etwas Besonderes zwischen ihr und Lena. Etwas, das sie beide verband. „Eine weiße Papierblume?“, lachte Lena. „Es ist wahr!“, beteurte Lisbeth und nahm einen kleinen Jungen auf den Schoß. „Na, Max, was möchtest du denn heute zeichnen?“, fragte sie den Dreijährigen. „Ein Gewehr!“, rief Max und machte Knallgeräusche mit dem Mund. Lisbeth wechselte einen Blick mit Lena, die nur fassungslos den Kopf schüttelte. „Möchtest du nicht lieber etwas anderes zeichnen, Mäxchen?“ „Nein!“, sagte der, krallte sich einen schwarzen Buntstift mit stumpfer Spitze und malte drauflos. Lisbeth seufzte. „Und es war niemand da?“, fragte Lena und versuchte, an das Gespräch von eben anzuknüpfen, während sie einem kleinen Mädchen die Windel auszog. „Ich sage es dir doch, niemand war da – die Blume war von einem auf den anderen Moment einfach da!“

„Tja, vielleicht hast du einen heimlichen Verehrer...“, witzelte Lena und kicherte leise. „Ach, du wieder...“, sagte Lisbeth, „Die Jungs interessieren sich doch ohnehin nur für dich. An mir laufen sie doch immer vorbei, als wäre ich ein hässliches Entlein.“ Lena zog dem kleinen Mädchen den Rock hoch und umarmte Lisbeth aufmunternd. „Lisbeth, du weißt doch, das hässliche Entlein wird am Ende zum Schwan.“, sagte sie lachend, „Am Ende wirst du beliebter bei allen sein als ich es je war, das verspreche ich dir.“ „Nett, dass du versuchst, mich aufzuheitern.“

Schweigend saß Shion in der Ecke des Spielzimmers und beobachtete Elisabeth. Sie hatte etwas an sich, das Shion unheimlich bekannt vorkam. Aber sie wusste einfach nicht, woher, so krampfhaft sie sich auch zu erinnern versuchte. Ein Glück, dass sie ungesehen bleiben konnte, wenn sie das wollte. Und solange sie nichts zu tun hatte, konnte sie genauso gut ihre Zeit hier mit den Mädchen totschlagen...
Es war ganz lustig hier, auch wenn die Kinder manchmal nervten. Den ganzen Tag kabbelten sie sich jetzt schon, wie konnte man das nur aushalten? Shion duckte sich instinktiv, als einige Bauklötze in ihre Richtung flogen. Sie lächelte. „Der Anblick war mir aber schon lange nicht mehr vergönnt...“, hörte sie die Stimme  Mercurius' erfreut brummen. „Welcher Anblick?“, fragte sie und sah ihn verwundert an. „Dein Lächeln.“, sagte der Bote. „Du hast es bestimmt Jahre nicht mehr gezeigt. Und jetzt bringen dich einfache Kinder dazu?“ „Lass mich doch. Ich darf lachen, wenn ich es will.“, sagte Shion und wendete den Blick ab. „Mit der Einstellung kannst du direkt hierbleiben. Ich habe übrigens Arbeit für dich.“

„Um was geht’s?“ Mercurius blätterte in seinem Block herum. „Großeinsatz im KZ. Fünf Wachmänner sollen ihr Leben einbüßen. Einzelheiten gibt es keine. Du weißt, welche?“ „Ich werde sie schon finden.“, sagte Shion bestimmt, „Aber es wundert mich, dass ich so selten in letzter Zeit Leben holen muss. Es gibt soviele schlechte Seelen in dieser Epoche, man sollte sie alle in die Hölle verbannen.“ „Wenn wir die alle in die Hölle fahren lassen würden, gäbe es bald keine mehr...“, grinste  Mercurius. Seine Augen ruhten auf den beiden Mädchen. „Obwohl es vielleicht noch Hoffnung gibt in diesem verworrenem Hort verwirrter Seelen.“ „Ich hoffe es.“, sagte Shion, dann machte sie sich auf den Weg.

Ihr Flug dauerte nicht lange. Viel schwieriger war es jedoch, die entsprechenden Personen inmitten der vielen anderen zu finden. Selten hatte der dunkle Engel soviel Elend an einem Ort gesehen. Kinder, Mütter, Väter... Allesamt waren sie hier eingepfercht wie die Schweine. Menschen, die von anderen Menschen erschossen wurden, nur, weil sie unter anderen Umständen geboren worden waren. Weil sie eine andere Religion besaßen. Eine andere Kultur. Darüber konnte man nicht einmal mehr philosophieren. Selbst ihr, dem Dämon, dem Vollstrecker von Tod und Leben, lief es an einem Ort wie diesem eiskalt den Rücken herunter. All die Monster, die Schreckensgestalten, die die Menschheit sich ausmalte, gegen diese wirkliche Grausamkeit waren sie alle Ammenmärchen.

Elisabeth kam pünklich nachhause. Die knappe Begrüßung ihrer Mutter an der Tür war das einzige, das Lisbeth zu hören bekam. Zuhause herrscht eine merkwürdige Stimmung, dachte sie, und dann fiel ihr wieder ein, warum. Ihr Vater wollte ein Gespräch mit ihr führen. Das konnte nichts Gutes heißen. Die ganze Familie saß am Tisch, selbst Julius, ihr kleiner Bruder von sieben Jahren, war hockte ausnahmsweise ruhig auf seinem Stuhl und wagte es nicht einmal, mit den Beinen zu zappeln. Zögerlich setzte Lisbeth sich schließlich langsam auf ihren Stuhl und sah unruhig von einem zum anderen.
„Elisabeth...“, fing ihr Vater an, und zu aller Überraschung lächelte er, „Es ist nun an der Zeit, dass du eine Frau wirst.“ Lisbeth schluckte. Worauf wollte ihr Vater hinaus? „Ich hoffe, du hast schon Pläne, was du mit deinem Leben anfangen willst, sobald du deine Ausbildung abgeschlossen hast?“ „Ja, Vater,“, sagte sie und war froh, dass sie sich darüber tatsächlich schon Gedanken gemacht hatte, „Ich möchte gerne nach Paris gehen. Ich habe gehört, Künstler wie ich -“ „Paris?“, fragte ihr Vater laut und fing herzlich an zu lachen. „Lisbeth...“, sagte ihre Mutter mit einem enttäuschten Tonfall und stand auf, um die Kondensmilch nachzufüllen. „Was denkst du denn, was du dann verdienst? Meine Tochter wird keine Zigeunerin, die unter den Brücken schläft und sich von den Brotkrumen anderer Leute ernähren muss.“

„Aber Vater! Fräulein Rosenbaum meinte, mein Klavierspiel wäre ganz ausgezeichnet...“ „Fräulein Rosenbaums Sohn ist ein Krüppel. Du weißt, wie ich zu diesem Thema stehe, aber denkst du, irgendjemand  anderen interessiert es, was die Mutter eines kriegsunfähigen Mannes über dien Geklimpere sagt? Als ich dich fragte, was du später tun möchtest, dachte ich mehr an ein Studium, Lisbeth. Deine Mutter und ich, wir haben etwas gespart, und München hat eine hervorragende Universität...“
Lisbeth hörte nicht mehr richtig zu. Sie fand es ungerecht. Wäre sie doch nur direkt in Paris geboren worden, dann hätte sie dieses Problem jetzt nicht... Schweigend wartete sie, bis alle zu Bett gingen, und betrat dann selbst ihr Zimmer. Ein Taubheitsgefühl umfing sie. In ihrer Welt gab es soetwas wie Meinungsfreiheit gar nicht, weder was die weltlichen Dinge anging, noch die, die ihr eigenes Leben betrafen. Es war einfach alles vorherbestimmt.

„Vorbei...“, sagte Shion und sah sich das Blutbad an, das sie veranstaltet hatte. Die Wachmänner hatten sich hier ein Zimmer zum Kartenspielen eingerichtet, und zufälligerweise hatte Shion sie in einem Moment erwischt, in dem sie alle fünf beinander gesessen hatten, unter sich. Allein. Und das hatte ihnen nicht gut getan. Rote Flüssigkeit war bis an die Decke gespritzt und bedeckten sämtliche Möbel im Raum. Leichenteile lagen in allen Ecken vertreut. Die lauten Schmerzensschreie klangen ihr noch in den Ohren. Herrlich. Shion leckte sich über die Lippen und vernichtete so ein paar Tropfen Blut, die ihre kalkweiße Haut benetzt hatten. Die Boten und Engel mochten ihre Arbeit so machen, dass man sie nicht bemerkte, aber sie war da vollkommen freigestellt. Unter all den Engeln, die plötzlichen Kindstod verursachten, Herzstillstände oder den puren Wahnsinn, war sie der Gesetzlose. Sie war der Richter. Die zwei Seiten, Gott und Teufel, Himmel und Hölle, Yin und Yang, wie immer man es nennen wollte, gaben ihr etwas zu tun, und sie tat es, ohne nachzufragen, schon seit Jahrhunderten. Und zwar auf ihre eigene Art. Das war Shions Spezialität.
Auch wenn sie nicht mehr wusste, warum sie das tat. Oder seit wann. Oder ob es überhaupt andere Engel ihrer Sorte gab. Aber das kümmerte sie auch nicht sonderlich. Was für sie heute Nacht zählte, war allein das Lied am Fenster des jungen Mädchens, das sie schon vorher vernommen hatte. Und dass sie sich heute Nacht wieder anhören würde. Als sie auf dem Fensterbrett landete, war Elisabeth gerade so sehr in die Melodie vertieft, dass sie Shion gar nicht bemerkte, selbst, als diese aus Unachtsamkeit kurz sichtbar wurde. Und auch die zweite Blume, die der dunkle Engel hinterließ, blieb bis zur Mitternacht unbemerkt.

Im Namen der Liebe

„Es ist schon wieder passiert?“ Lenas Stimme klang ebenso ungläubig wie erstaunt. „Ja.“, sagte Lisbeth und sah mit leerem Blick den Kindern zu, die im Sonnenlicht auf der grünen Wiese spielten. „Ich weiß nicht, woher sie kommen. Aber langsam beginnt es, mich zu beunruhigen.“ „Ich denke, du musst dir keine Sorgen machen...“, versuchte ihre Freundin sie aufzumuntern. „Es war eine Rose, oder nicht? Rosen bedeuten doch...“
„Liebe.“ Lisbeth sprach das Wort aus, als wäre es das absurdeste, das sie je gehört hatte. Eine lange Pause entstand, in der nur die Stimme der Kinder zu vernehmen war. Magdalena seufzte. „Bevor ich es vergesse... Wenn ich meine Ausbildung abgeschlossen habe, werde ich Medizin studieren. Hier in München.“ „Wirklich?“, fragte Lisbeth und sah ihre Freundin freudestrahlend an. „Das ist toll, dann kenne ich dort zumindest jemanden... Mein Vater will, dass ich auch etwas studiere.“ „Aber was ist mit deinem Traum?“, fragte Lena schockiert, „Du wolltest doch Künstlerin werden? Niemand in dieser Stadt kann besser Piano spielen als du!“ Lisbeths Augen füllten sich mit Tränen, und Lena verstand sofort. „Tut – tut mir leid, ich wollte dich nicht...“, sagte sie schuldbewusst. Sie schloss ihre Freundin in die Arme. „Er will es nicht. Er hat Angst, ich könne in der Gosse enden.“ „Er kennt dich eben nicht...“, flüsterte Lena und schloss seufzend die Augen. Dann sah sie Lisbeth direkt ins Gesicht, und ihr Lächeln zeugte munterte sie ein wenig auf. „Heute Abend wollen wir wieder feiern gehen. Kommst du mit?“
„So spät noch? Ich weiß nicht... Beim letzten Mal bin ich fast erwischt worden.“, sagte Lisbeth zögerlich. „Komm schon, es wird toll – viele Freunde werden dort sein.“ Elisabeth fiel das ernste Gesicht ihres Vaters ein. Es war nicht richtig, dass er sie so unter Druck behielt... „Ich werde da sein.“, sagte sie und wurde von Magdalenas Mut angesteckt. „Prima.“ Lena strahlte. „Ich freue mich. Wir treffen uns alle am Ufer der Isar, in der Nähe der Tivolibrücke.“

„Dieser Abend wird uns noch lange in Erinnerung bleiben!“, rief Schustermann und hob seinen Krug. Ein paar seiner Saufkumpanen taten es ihm gleich. Laut stimmten sie in das Gegröle mit ein. Einige junge Mädchen huschten unruhig zwischen den Tischen der schummrig beleuchteten Kneipe umher und versuchten, die Gäste zu bedienen, ohne dabei großartig ins Auge zu stechen. Allesamt erkennbar an den schwarzen, taillierten Kleidern, deren mit Bügelfalten verzierter Rockzipfel so mancher Frau noch zu kurz zu sein schienen. Einer von ihnen hatte Schustermann eben sein Getränk über die Schürze geschüttet, weil ihm die Bedienung zu lange gedauert hatte. Der  Plattenspieler gab eine leicht verzerrte, imposante Musik von sich, die vom Aufbruch und Kampfeslust erzählte. Shion saß auf einem Stuhl in einer abgelegenen Ecke des Raumes und beobachtete ihr nächstes Opfer, das begierig an am Rauch einer dicken Zigarre zog, deren Qualm bereits die ganze Spelunke erfüllte.
Shion sah trotz des Nebels das angeheiterte Gesicht des großen, kahlköpfigen Fabrikleiters, und etwas darin erfüllte sie mit purem Hass. Es war nicht die besitzergreifende Gestik dieses Menschen; es war sein Blick. Shion erblickte darin eine Habsucht und Gier, die sie nur selten so ausgeprägt gesehen hatte. Sie verfolgte seine Blicke, die direkt auf den Hintern der jungen, dunkelhaarigen Kellnerin gerichtet waren, die gerade aus einer reich verzierten Flasche die Obstbrände nachschenkte.
Der Engel wartete, bis die Stunde später wurde und die Gaststätte sich langsam leerte. Die Gäste gingen, und die Kellnerinnen machten Feierabend. Schustermann blieb, ebenso wie Shion. Erst, als das junge Mädchen zu ihm trat, schien er aus seiner Trance zu erwachen. „Wir schließen jetzt, mein Herr. Es ist schon spät.“, sagte sie freundlich und mit zu Boden gerichtetem Blick. Wahrscheinlich war sie die letzte; der Schlüssel zur Tür des Wirtshauses hing um ihren Hals. „Aber ich will noch nicht gehen...“, sagte Schustermann, und sein lüsterner Blick richtete sich auf die Dunkelhaarige. Gier. Habsucht. Er widerte Shion an. „Mein Herr, es geht nicht; mein Chef würde mich schelten, wenn ich Sie hier sitzen lasse.“ Ihre Stimme zitterte. Shion ergriff das Gefühl, ihr jetzt schon helfen zu müssen, aber es war ihr untersagt; sie musste noch warten, um das Urteil fällen zu können, so war es ihr befohlen worden.
„Aber mein Durst wurde noch nicht gestillt.“ Schustermann stand auf, und als er vor der Kellnerin stand, überragte er sie gut um zwei Köpfe. „Bitte gehen Sie jetzt!“ Das Mädchen weinte fast, als sie mit noch immer starr nach unten gerichtetem Kopf ihre Hände in die Schürze klammerte. Aber Schustermann kümmerte das nicht. Mit einem Ruck seiner großen Pranken hatte er das schreiende Mädel auf den Tisch vor sich gehievt und hob ihren Rock hoch. Sie wehrte sich, trat nach ihm aus, aber all das nützte nichts, als er ihre Beine gewaltvoll auseinander drückte und begann, ihr Höschen herunterzuziehen. Beschämt wendete sie das Gesicht ab.
Das war Shions Einsatz. Sie nahm ihre materielle Gestalt an, und als sie sich plötzlich erhob, kippte der Tisch hinter ihr. Die Gläser, die darauf gestanden hatten, zersprangen mit einem hellen Klirren. Schustermann hielt inne, und sein Antlitz erfüllte sich mit Entsetzen, als er die Flügel sah, die sich hinter ihr ausbreiteten. „Was – Was zur Hölle...?“ „Die Hölle ist genau das richtige Wort, mein Freund. Sie ruft nach dir.“ Shion trat näher, und der vom Schreck erstarrte Schustermann war nicht in der Lage, die Kellnerin länger festzuhalten, als sie – Shion wahrscheinlich gar nicht bemerkend – sich loswand und durch die Tür in die Nacht verschwand.
„Was zum Teufel bist...?“, fragte Schustermann, während er zu Boden stolperte und nun auf allen Vieren rückwärts vor Shion zurückwich. „Teufel? Nein, ich bin kein Teufel. Ich bin dein Schicksal.“, sagte sie, und das Licht der staubigen Lampen begann zu flackern, als ihre grünen Augen sich direkt auf ihren Angeklagten richteten. Wie von Geisterhand klackte das Schloss, die Fensterläden schlossen sich, und Schustermann spürte, dass es für ihn kein Entrinnen mehr gab. Es gab keinen Ausweg mehr. Die Lampen erloschen. Seine schmerzerfüllten Schreie erfüllten die Nacht, bis sie schließlich gänzlich verstummten.

Lisbeth gefiel es auf der Feier überhaupt nicht. Sie trug ein hellbraunes, knielanges Kleid mit leicht gerafften Ärmeln, das in einer stattlichen Mischung aus blau und violett glänzte. Lena hatte befunden, dass die Farbe ganz ausgezeichnet zu ihren hellbraunen Locken passte. Man hatte unterhalb der Brücke auf einer kleinen Sandbank ein Lagerfeuer errichtet und den Platz rundherum mit kleinen, bunten Fähnchen geschmückt, die aus alten Werbepostern zusammengeschnitten waren. Es waren hautpsächlich Mädchen gekommen. Wahrscheinlich hatte irgendein Spitzel der Hitlerjugend von der Feier erzählt, und sie hatte auf denselben Termin eine Pflichtversanstaltung einberufen, zu der alle hatten kommen müssen. Deswegen waren hauptsächlich Juden und die wenigen da, die ihre Zeit außerhalb von Hitlers Jugendgruppe verbrachten. Es war schon dunkel geworden; aber das hielt ihre gleichaltrigen Kolleginnen nicht davon ab, sich mit ein paar Soldaten zu vergnügen, die wahrscheinlich ihr Vater hätten sein können. Und dann gab es noch nicht einmal Musik.
Lena stand neben Lisbeth und beobachtete die unglückliche Miene ihrer Freundin. „Was ist denn los? Du ziehst eine Schnute, als hätte man dir ins Glas gespuckt.“ „Tut mir leid... Ich fühle mich hier nur etwas fehl am Platze. Du weißt doch, dass diese Feiern nichts für mich sind. Bestimmt wird Vater mich wieder ausschimpfen... Es war eine schlechte Idee, zu kommen.“ „Du tust mir wirklich leid, Lisbeth.“ Lena klang mitfühlend, und Lisbeth glaubte es ihr auch sofort.
Lenas Vater war noch lange nicht so streng mit ihr. Im Gegenteil, er begrüßte es sogar, wenn sich seine Kinder von den Nationalsozialisten so weit wie möglich fernhielten. Es machte Lisbeth fast neidisch.
„Oh, da ist er ja...“, sagte Lena plötzlich und winkte einem etwas älterem, jungem Mann zu. „He, hier drüben...!“, rief sie, und der Fremde machte ein erfreutes Gesicht, als er zu ihnen trat. „Darf ich dir meinen Bruder Hans vorstellen?“, fragte Lena und Hans reichte Lisbeth eine Hand. „Sehr erfreut.“, sagte er, „Du musst Elisabeth Rüschgens sein?“ Lisbeth nickte etwas verschüchtert. „Wieso hast du so lange gebraucht?“, fragte Lena vorwurfsvoll und piekte ihrem Bruder in die Brust. „Wieso lange? Es ist doch erst...“ Hans zog eine silberne Taschenuhr hervor, die durch eine lange Kette an seiner Tasche befestigt war. „Halb zwölf?“
„Es ist bereits halb zwölf?“ Elisabeth packte in Windeseile ihre Tasche. „Du willst schon gehen?“, fragte Lena enttäuscht, „Es wird gerade erst lustig!“ „Mein Vater bringt mich um, er bringt mich um...“, wiederholte Lisbeth wie ein Mantra, als sie zum Abschied noch winkte und die Uferseite erklomm, um über die Brücke zu gehen.
Unter ihr feierten die Jugendlichen gemächlich weiter. Ihre Schritte wurden langsamer, als sie in der Mitte der Brücke stand und von dort einen letzten Blick hinunterwarf. Die lauten Stimmen drangen nur noch leise zu ihr durch und wurden nun von den Geräuschen der Nacht begleitet. Grillen zirpten, einige Nachtigallen und Krähen riefen in den Baumwipfeln. Sie wusste nicht, ob es tatsächlich die Angst vor ihren Eltern war oder der bloße Wille, nicht länger auf dieser Feier anwesend sein zu müssen. Lena war beliebt bei allen, wegen ihres Mutes und ihrer Einstellung, die sie immer behielt, egal, was passierte. Sie kannte das Gefühl des Alleinseins nicht. Nicht so gut wie Lisbeth. Manchmal wünschte sie sich, sie könne nur einen Tag mit ihrer besten Freundin tauschen. Nur, um einmal die Einsamkeit loszuwerden.
„Da bist du ja...“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich. „Kennen wir uns nicht?“ Erschrocken drehte sie sich um. Hinter ihr standen die beiden Polizisten, denen sie beim letzten Mal nur knapp entwischt war. Furcht stahl sich in ihr Herz. Sie schnürte ihr die Kehle zu. Ihre Beine fühlten sich zu schlabbrig an, um ein weiteres Mal vor ihnen davonzulaufen. Ein harter Lichtstrahl fiel in ihr Gesicht und blendete sie, sie kniff die Augen zu. Und dann hörte sie die beiden verblüfft aufschreien, als sie wie von Geisterhand in die Luft gehoben wurden. Ungläubig starrte Elisabeth auf das, was sich vor ihr in der Schwärze der unbeleuchteten Brücke zutrug, als eine unsichtbare Kraft die beiden Männer über das Brückengeländer warf.
Sie wich zurück, und voller Angst merkte sie selbst nicht, dass sie das Gleichgewicht verlor – und fiel. Lisbeth wartete darauf, dass sie auf dem Wasser aufprallen würde, doch das tat sie vergebens, bevor sie ihr Bewusstsein verlor.

Aufeinandertreffen

 

Stille. Als Elisabeth die Augen öffnete, lag sie in ihrem Bett, zugedeckt und in derselben Kleidung, in der sie vorher auf der Feier verweilt hatte. Benommen schüttelte sie den Kopf und vertrieb den Schleier aus ihren Gedanken. Sie war gefallen. Wie kam sie hierher?

Suchend blickte sie sich um. Dann sah sie die Gestalt, die vor dem geöffnetem Fenster stand. Sie hatte schwarzgefiederte Flügel, wie ein Rabe, die lautlos und langsam hin- und herwiegten, und ihr Haar glänzte wie Mondlicht, so rein. Als sie sich vorsichtig umdrehte, erkannte Lisbeth den elegischen Blick ihrer mandelförmigen Augen. Erst, als sich ihre Gedanken von dem Anblick dieses sonderlichen Wesens lösen konnten, merkte Lisbeth, dass sie eigentlich hätte Angst haben sollen. Aber die Fremde musste sie doch gerettet haben, nicht wahr? Dann konnte es sich doch nicht um eine boshafte Kreatur handeln... „Wer bist du?“, fragte Lisbeth und unterdrückte das Zittern in ihrer Stimme. „Ich bin die, die dich fing, als du fielst.“, sagte die Unbekannte mit ruhigem Tonfall, kam hinüber zu Lisbeth und setzte sich auf eine Ecke ihres Bettes. Lisbeth wollte die Beine zurückziehen, aber vielleicht hätte ihr Gast diese Bewegung als unhöflich oder Furcht interpretiert; also blieb sie einfach sitzen. „Bist du ein Mensch?“ Lisbeths Neugier war ungebrochen, als sie eine erneute Frage stellte. Das fremde Mädchen lächelte. „Nein; nein, ich bin kein Mensch. Ich gehöre zu den schwarzen Engeln, die jenen abholen, den die Allmächtigen zu sich rufen.“ „Dann kommst du also, um mich zu holen?“ Die angehende Studentin schluckte über ihren Schreck, wich leicht zurück, um sich vor der Kreatur in Sicherheit zu bringen, aber ihre kalten Finger griffen nach Lisbeths Hand. „Nein, auch das nicht. Habe bitte keine Furcht vor mir.“ Ein Zucken durchfuhr den Körper der jungen Pianistin, als sie das Wesen so plötzlich berührte. Lisbeths Augen suchten in dem Gesicht des Engels nach einem Anzeichen dafür, dass sie nicht die Wahrheit sprach, fanden jedoch keine. Anscheinend bemerkte ihr Gegenüber dies auch. „Du kannst mir vertrauen.“ Lisbeth zog die Beine an und legte die Arme um sie, bevor sie ihren Kopf darauf bettete. Während sie den Engel betrachtete, legte sie ihn langsam schief. „Warst du das mit den Rosen auf meinem Fensterbrett?“ „Ja. Mein Name lautet Shion.“, gab der Engel zu, „Ich habe dich spielen gehört. Dieses traurige, leere Lied. Es hat eine seltsame Anziehungskraft auf mich gewirkt. Wie heißt es?“ „Oh, gefiel es dir? Ich habe es selbst geschrieben. Leider hat es keinen Titel.“, antwortete Lisbeth fast entschuldigend. Shion wendete ihre smaragdfarbenen Augen wieder von Lisbeth ab. „Das ist schade. Ein solch schönes Lied hat es verdient, einen Namen zu tragen.“

Sekundenlang schwiegen der Engel und das Mädchen. Sie hatten einander nicht viel zu sagen, aber das war auch unwichtig. Sie spürten, dass sie beide etwas verband – wenn sie auch nicht sagen konnten, um was es sich dabei handelte. „Wieso hast du schwarze Flügel? Man hat mir immer erzählt, Schutzengel wären weiß. Sie symbolisierten die Reinheit.“ „Wahre Schutzengel tun das vielleicht auch. Ich weiß es nicht, ich habe noch nie einen gesehen.“, antwortete der Engel ihr. „Aber die Nacht ist bald um. Ich muss gehen.“ Mit einem schwungvollem Satz ihrer Flügel sprang Shion auf das Fensterbrett und starrte nach unten, als wolle sie sich jeden Moment dort hinunterstürzen. „Bist du – wirst du in meiner Nähe bleiben?“, fragte Elisabeth und verhedderte sich vor Aufregung fast in ihrem Bettlaken. Einerseits fürchtete sie sich vor dem Gedanken, ein solches Wesen unsichtbar an ihrer Seite zu haben, wie es schien – andererseits war ihr ihre Nähe aber auch nicht unangenehm. Besonders nicht, da Shion sie vor den beiden Polizisten gerettet hatte. „Natürlich.“, sagte Shion, und ihre spitzen Zähne zeigten ein ehrliches Lächeln, als sie über die Schulter Lisbeths Gesicht noch einmal betrachtete. „Anscheinend benötigst du jemanden, der länger über dich wacht. Du hast... Übrigens sehr schöne Augen. Die Farbe des Meeres.“, schloss sie noch ab, dann sprang sie hinunter, die Arme weit ausgebreitet. Elisabeth stürzte zum Fenster und sah, wie Shion kurz vor dem Boden ihre Flügel ausstreckte – und in den Himmel davon gleitete.

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Yunavi

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