Der Grundbesitzer
Seinen Gaul bringt Felix zum Scheunenhof hinter dem Laden und sattelt ihn ab. Dort stehen bereits mehrere Pferde, welche zu anderen mitreisenden Gästen gehören. Felix schließt die Pforte hinter sich. Er geht schweren Schrittes zur Bushaltestelle, während er sein schweißgebadetes Gesicht mit einem großen, dunklen Taschentuch abtrocknet. Als er an dem Laden vorbeigeht, hört er wie der Ladenbesitzer ihm laut zuruft:
„Hallo Felix, wie lange wirst du denn weg sein?”
„Du, das hängt leider nicht von mir ab”,
antwortet Felix und geht seinen Weg weiter.
Der Bus fährt einmal wöchentlich beim Dorf vorbei. Frühmorgens ist Felix aufgestanden, um es rechtzeitig zu schaffen. Kaum an der Haltestelle biegt der Bus um die Ecke. Dort warten bereits mehrere Kleinbauern und Landarbeiter, einige mit Bananenstauden, andere mit Säcken voller getrockneter Kakaobohnen, Maniok oder tropischer Früchte wie Mangos, Papayas, Guanabanas, Nisperos, Tamarinde, Pejibayes. Andere haben wiederum mit an den Beinen zusammengebundenen Hühnern und Ferkeln. Sie wollen ihre Produkte auf dem Wochenmarkt in der Provinzstadt
verkaufen. Der Busfahrer steigt aufs Dach, um den Passagieren zu helfen, ihre Last dort zu verstauen.
Der voll beladene Bus, der seine Dienstfähigkeit im Herkunftsland bereits hinter sich hatte, fährt los. Felix döst etwas ein. Trotz Erschöpfung kann er aber nicht einschlafen, die Landstraße ist holprig und der Bus schwingt hin und her. Die Straße wurde offensichtlich mit Geröllsteinen vom nahe fließenden Strom gebaut. Es stört niemanden, dass ein leicht ranzig-öliger Geruch, der von den Kakaobohnen stammt, in der Luft hängt.
Felix will zur Provinzstadt, um einen Behördengang zu erledigen. Er will nämlich sein Äckerchen ins Grundbuch
eintragen lassen. Lange Jahre hat er darauf warten müssen, um diesen Traum zu verwirklichen. Die gesetzliche Mindestzahl an Jahren, bevor er das besetzte Land als eigen in Anspruch nehmen darf.
Fast alle Passagiere kennen sich bei Namen, es ist nicht das erste Mal, dass sie zusammen im gleichen Bus fahren. Felix wird von einem seiner beiden Sitznachbarn angesprochen und beide geraten ins Gespräch.
„Das Alltägliche nimmt man als selbstverständlich hin, dann kommen Stück für Stück kleine Änderungen und dann eines guten Tages ist alles ganz anders. Man guckt zurück und fragt,
wann ist das geschehen?” behauptet Felix.
„Das ist ganz meine Meinung, ich kann mir aber nicht vorstellen, dass wir eines Tages auf die Pferde und Esel als Lasttiere verzichten können. Unsereiner könnte sich niemals ein Auto leisten”, gibt sein Gesprächspartner zu bedenken.
Nach stundenlangen schnurgeraden Landstraßen im Flachland fängt der Bus an, die Serpentinen der Bergstraße hochzukriechen. Dunkle Rauchwolken kommen aus dem Auspuffrohr.
Die Unterhaltungen werden abrupt unterbrochen, der Fahrer hält das Fahrzeug plötzlich an und macht eine Durchsage.
„Hört mal, Leute, wir können nicht weiter fahren”, verkündet er. „Da vorne liegt eine unpassierbare Wand aus Schlamm. Es ist ein Erdrutsch. Schaut mal links da oben, man sieht, wie die Bergwand mehrere hundert Meter heruntergefallen ist. Nur die Räumungsfahrzeuge aus der Provinzstadt können es wegräumen und bis sie hierher sind, werden sie mindestens einen halben Tag benötigen.”
Die Gesichter der Fahrgäste sind auf einmal grimmig. Daraufhin schaltet der Fahrer das Autoradio an, um die muffige Stimmung aufzuheitern. Mexikanische Ranchero Musik klingt aus den
Lautsprechern. Das Prasseln der Regentropfen gegen die Fensterscheiben ist jedoch lauter als das Radio.
Die Fahrgäste sind an derartige Naturereignisse gewöhnt und nehmen sie gottergeben hin.
Felix physiologische Bedürfnisse sind stärker als der Regen. Er steigt aus. Kurz darauf steigt er wieder ein, klatschnass, mit Schuhen und beiden Hosenbeinen voller Schlamm. Andere Fahrgäste folgen seinem Beispiel, bevor die dunkle Nacht aufkommt.
Jedem ist bewusst, dass bei weiteren Bergrutschen der Bus keinen sicheren Schutz bietet. Die Erschöpfung im Allgemeinen ist so groß, dass sie sehr
bald in tiefsten Schlaf fallen. Die Meisten mit dem Kopf gegen den Arm des Nachbarn gestützt.
Gegen fünf Uhr morgens sind die ersten Fahrgäste wach, alle verkrampft, kalt und gähnend vor Hunger. Ausgeschlafen ist keiner. Über Nacht hat der Regen aufgehört. Die morgendlichen Sonnenstrahlen, die das Innere des Busses hell erleuchten, sind nicht genug, um die Leute fröhlich zu stimmen.
Während des Vormittags laufen die Passagiere in der Gegend herum. Einige Bauern können vor Ort ihre Früchte verkaufen. Sie überlegen, ob sie nicht besser umkehren sollen, da sie ihre Geschäfte bereits gemacht
haben.
Gegen Mittag hören die Fahrgäste in weiter Ferne, wie die Räumungsfahrzeuge anfangen zu arbeiten. Auf einer langen Straßentrasse liegen riesige Schlammmassen, die früher die darüber liegende Bergwand darstellten. Große Baumstämme und Felsbrocken dazwischen erschweren die Räumung. Die Räumungsarbeit dauert weit in die Abendstunden hinein. Bis die Straße wieder frei gegeben wird, ist der dunkle Mantel der Nacht über die Landschaft gezogen.
Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen springt der Motor des Busses wieder an. Die Weiterfahrt bis zum Ziel dauert
nochmal fünf Stunden.
Frühmorgens treffen sie in Provinzstadt ein. Wann genau weiß keiner, denn niemand im Bus trägt eine Uhr mit sich. Der Fahrer hält an der Endstation am Marktplatz an und alle steigen aus. Der Wochenmarkt war aber am Vortag vorüber. Die Bauern sind ratlos, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer halbverdorbenen Ernte. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Früchte auf dem leeren Marktplatz an Passanten zu verhökern.
Felix kann erst nachmittags halb verschlafen zum Grundamt gehen. Nach der Fahrt hat er sich eine Bleibe suchen müssen, um sich aufzufrischen. Am
Auskunftsschalter erfährt er, dass seine Urkunden vom Notar beglaubigt werden müssen.
Mit verwundertem Ausdruck im Gesicht, fragt der Notar, „Wo bleiben Ihre zwei Zeugen.”
„Warten Sie bitte einen Moment, Herr Notar, ich bin gleich wieder da”, murmelt Felix.
Er rast aus dem Büro und nimmt ein Taxi zum Marktplatz, wo er hofft, seine beiden Nachbarn noch anzutreffen. Der Marktplatz ist verlassen. Es fällt ihm aber ein, die anliegenden Kneipen zu durchsuchen. Zum Glück sieht er seine Nachbarn am Tresen. Jeder mit einem Glas Bier in einer Hand und einer Frau in
der Anderen.
„Jungs, lasst das Saufen sein, ich brauche euch unbedingt als Zeugen, bitte, bitte. Komm mit, mein Hof und meine Frau stehen auf dem Spiel.”
Zurück beim Notar wird der betrunkene Zustand der beiden Zeugen beanstandet.
„Eine Beglaubigung unter solchen Umständen geht auf gar keinen Fall”, gibt der Herr Notar zu verstehen.
Felix erzählt die durchgemachten Strapazen seit Verlassen seines Hauses vor einigen Tagen.
„Ich kann ein Auge zudrücken aber nicht beide”, erklärt der Notar. “Kommen Sie morgen wieder.”
Erst am vierten Tag nach seiner Abreise
steht Felix endlich am richtigen Schalter. Dort wird er wieder zurückgewiesen.
„Ihre Urkunden müssen vom Vermessungsamt abgestempelt werden“, erfährt er am Schalter.
„Wo liegt dieses Amt überhaupt?”
„Im gleichen Stadtviertel, aber zehn Blöcke westwärts.”
„Kann man einen Bus dorthin nehmen?”
„Ja, aber über Umwege, am besten nehmen Sie ein Taxi.”
„Himmel, Arsch und Zwirn, bei diesem verdammten Stadtbesuch gebe ich fast den ganzen Inhalt meines Portemonnaies für Taxis aus.”
Im Vermessungsamt steht er wieder stundenlang in der Schlange, um den
fehlenden Stempel zu erhalten.
Am frühen Nachmittag ist er wieder vor dem Schalter im Grundbuchamt mit seinen Urkunden richtig abgestempelt und beglaubigt.
„Ihre Papiere sind jetzt in Ordnung, Herr Felix”, sagt ihm die junge Dame am Auskunftsschalter. „Am Schalter Vierundzwanzig bitte einen Termin holen.”
Spätabends am Freitag der zweiten Woche fährt der frischgebackene Grundeigentümer zu einem Außenbezirk der Stadt. Er will seinen Cousin einen Besuch abstatten und ihm die gute Nachricht geben.
„Er ist vor zwei Jahren ausgezogen”,
erfährt er von einem Nachbarn. „Leider hat er keine Adresse hinterlassen.”
Felix kann seine Enttäuschung nicht verbergen. Traurigkeit überzieht sein Gesicht auf einmal, für seine Rückfahrt hat er gehofft, er könne sich Geld von seinem Cousin leihen.
„Na ja, muss ich zusehen, wie ich nach Hause gelangen kann” sagt Felix zu sich und macht sich auf den langen Gang zurück in die Stadt.