„Schatz, aufwachen! Wir wollen gleich abreisen“, weckte Daniel seine Freundin.
„Was ist? Wohin wollen wir abreisen und wo sind wir eigentlich?“ fragte Samarin, als sie sich im Raum umgesehen hatte. Ihr kam hier alles so fremd vor, war sie schon jemals in diesem Zimmer gewesen?
„Du bist wohl noch nicht ganz wach. Wir sind im Gutshof von Sir Ivani, dem Onkel von Pali. Wir wollen nun durch einen Geheimgang verschwinden und zur nächsten Stadt reisen. Deine Schwester hat sie schon bei deiner Tante erfragt, sie heißt Nurimar“, erklärte Daniel.
“Behandle mich nicht wie ein kleines Kind! Ich war nur noch etwas verschlafen. Natürlich weiß ich wo wir sind und wohin wir gehen wollen“, versetzte das Mädchen und stand auf um sich anzukleiden.
„Bitte beeile dich ein bisschen! Ich habe dich zu lange schlafen lassen, denn wir wollen gleich abreisen“, meinte der junge Mann und nahm schon die beiden Rucksäcke, in denen ihr weniges Hab und Gut war.
„Geh doch schon einmal vor. Ich werde gleich nachkommen.“
„In Ordnung Samarin. Die anderen fragen sich bestimmt schon, wo wir bleiben. Also dann bis nachher“, sagte der Junge und ging.
Unten im Aufenthaltsraum fragten sich wirklich alle, wo das Pärchen blieb.
„Ich glaube, dass ich noch einmal nach den beiden sehe“, meinte Ciran dann nach weniger Zeit.
„Das brauchst du nicht. Ich bin schon da und Samarin kommt auch gleich“, polterte Daniel los, als er das Zimmer betrat.
„Es wird ja auch langsam Zeit. Wir haben die Pferde schon in den Gang gebracht. Michael und Kira warten dort auf uns“, erwähnte der Prinz.
„Wie wollt ihr nun die Mönche vertreiben? Ich glaube nicht, dass ihr das Gebäude noch anzünden wollt, nachdem Linga euch so davor gewarnt hat“, versetzte Daniel.
„Wir haben einen Spitzel bei ihnen und dieser hat nun das ganze Essen und Trinken der Männer vergiftet. Es ist nur ein harmloses Schlafmittel, das er hinein getan hat, aber es verfehlt garantiert nicht seine Wirkung. Wenn die Mönche schlafen, werden die Soldaten in ihren Konvent eindringen und alle gefangen nehmen. So müssen nur noch wir von hier fort. Mein Onkel und seine Bediensteten können bleiben“, erklärte Pali.
„Aber warum müssen wir dann durch den Geheimgang, wenn von den Mönchen keine Gefahr mehr ausgeht und warum habt ihr diese Lösung nicht schon vorher in Betracht gezogen?“ fragte Daniel logischerweise.
„Damit uns keine Wachen meiner Mutter finden. Mein Onkel hat mir berichtet, dass ein Schreiben von ihr eingegangen ist und sie mich schon seit langem sucht. Ihre „Jäger“ wollen hier eine Weile Pause machen und sie können jederzeit eintreffen. Wegen der Sache mit dem Schlafmittel hast du natürlich recht, aber es hat bis jetzt gedauert, um diese Menge zusammen zu bekommen, die wir brauchten um die Mönche auszuschalten.“
„Ja, natürlich, jetzt verstehe ich warum.“
In diesem Augeblick kam Samarin in den Raum. Alle starrten sie an. Sie war in weiße Hosen und in ein weißes Hemd gehüllt. Darin sah man ihr noch mehr an, wie schlecht es ihr ging. Ihr Gesicht schien eingefallen und ihre Wangen waren bleich wie Schnee. Das Haar war stumpf geworden und auch ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Daniel war es vorher gar nicht aufgefallen, dass seine Freundin so schlecht aussah. Doch nun blieb es niemandem mehr verborgen. Es schien als hätte sie sich innerhalb weniger Minuten zu einem fremdartigen Wesen verändert.
„Samarin, was ist nur mit dir?“ fragte Asyet leise, sie hatte die Stimme zuerst wieder gefunden.
„Was stiert ihr mich alle so an? Mir geht es eigentlich ganz gut“, antwortete sie mit leiser Stimme.
„Du siehst sehr krank aus. Meinst du, dass du noch ein wenig durchhältst?“ wollte Pali wissen.
„Ich sagte doch schon, mir geht es gut. Lasst uns nun endlich gehen“, sagte das Mädchen und war schon durch die Tür verschwunden.
Als die anderen gingen, blieb Asmielle noch wie angewurzelt stehen.
„Was ist denn mit dir? Wir wollen gehen“, sagte Linga zu dem Mädchen. Der Heilerin ging es wieder gut und sie sah richtig gesund aus, nachdem Sir Ivani das Gut nicht mehr niederbrennen wollte.
„Ich habe etwas gesehen. Etwas, das ich nicht glauben kann“, flüsterte die Gefragte.
„Was hast du denn gesehen? Sprich endlich!“
„Samarin hatte Flügel. Ich habe es nur für einen kurzen Moment gesehen, aber ich sah es. In einer winzigen Sekunde leuchteten ein Paar große Engelsflügel auf. Auch als sie in das Zimmer kam, hatte ich schon das Gefühl, dass sie einem Engel so ähnlich sieht. Genauso kränklich sah Laweran aus, die mir im Traum über unser Abenteuer berichtete. Sie hatte genau dieselbe Ausstrahlung. Weißt du, Engel sehen immer so zart und zerbrechlich aus, genauso wie Samarin eben. Die anderen und du sahen es als krank an, doch für mich war es etwas anderes. Ich kann es nicht beschreiben. Aber genug geredet, wir müssen endlich gehen“, erzählte das Argo-Mädchen und schon war sie mit Linga aus dem Raum.
„Da seid ihr ja endlich. Erst müssen wir auf Daniel und Samarin warten und jetzt auf euch. Ist das heute normal?“ keifte Asyet.
Langsam machte sich die Truppe auf den Weg durch den geduckten Gang. Michael und Kira liefen voraus und leuchteten den Fremden, die ihre Pferde hinter sich herführten.
„Wir kommen gleich ans Ende des Tunnels“, sagte Kira plötzlich. Sie sprach das erste Mal zu den Fremden, vorher hatte sie sich immer hinter ihrem Bruder versteckt.
„Dort werden wir gleich in den Wald gehen. Wir können euch nur ein Stück begleiten, dann müssen wir umkehren. Ihr müsst dann euren eigenen Weg finden“, erklärte sie weiter.
Nach diesen zwei Sätzen erfüllte wieder Stille den Gang. Jeder war zu aufgeregt, um zu sprechen. Samarin hatte sich sowieso abgekapselt. Sie lief ganz am Ende der Karawane und hielt noch dazu einen kleinen Abstand zu Daniel, der vor ihr ging. Ihre weißen Gewänder leuchteten in der Dunkelheit. Eigentlich wusste Samarin selbst nicht, warum sie nicht bei den anderen sein wollte. Sie fand, dass ihre Freunde sich komisch verhielten und dauernd sagten, dass sie krank aussehe. Dabei fühlte sie sich, seit sie geschlafen hatte wieder wie neu geboren. Doch ihre Freunde sahen sie ständig besorgt an und das bereitete ihr Unbehagen.
Genau andersherum dachten Samarins Kameraden. Sie fanden, dass ihre Freundin sich von ihnen fern hielt und wirklich krank aussah. Sie machten sich nur Sorgen um das Mädchen, doch Samarin fand diese Sorge unnütz, da sie ja wusste, dass ihr nichts fehlte.
„Hier müssen wir euch Leider verlassen“, sagte Michael, als er die Gruppe ein kleines Stück in die Wälder geführt hatte.
„Meinst du, dass wir im Inneren des Waldes eine zeitlang unser Lager aufschlagen können?“ fragte Ciran den Küchenjungen.
„Wenn ihr weit ins Innere geht, könnt ihr das machen. Hierher kommt eigentlich niemand. Der Wald ist vielen zu dicht und so reiten Fremde lieber darum herum. In etwa zwei Stundenritten liegt eine schöne Lichtung, dort habe ich früher oft mit meinen Freunden gespielt. Sie ist leicht zu finden. Ihr müsst nur immer dem Fluss an eurer linken folgen. Er heißt Kuliha, wenn euch das interessiert. Also ich wünsche euch viel Glück und sei Firga mit euch“, rief Michael noch und schon waren er und seine Schwester im Gewirr der Bäume und Büsche verschwunden.
„Dann werden wir wohl den Rat unseres neuen Freundes befolgen. Lasst uns dem Lauf des Kuliha folgen“, meinte der Prinz und stieg auf sein Pferd. Die anderen taten es ihm gleich. Nun hielt sich Samarin noch weiter von den anderen fern. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben, aber ihre Freunde sahen es als Abkapselung an.
Sie ritten gerade eine halbe Stunde, als sie ein leises Wimmern vernahmen. Asmielle stieg ab und suchte mit ihrer Kraft nach dem Wesen, das da so weinte. Schon nach kurzer Zeit fand sie den Ursprung der Laute. Es war ein kleines Mädchen. Es sah abgemagert aus und lag bestimmt schon eine Weile dort, es war eigentlich schon ein Wunder, dass es überhaupt noch lebte. Asmielle hob es hoch und hielt es weit von sich weg. Sie mochte keine Menschen und auch keine kleinen Kinder. Sie blieb nur wegen ihrer Mission bei den Freunden ihrer Schwester.
„Was hast du denn da gefunden?“ fragte Daniel Asmielle.
„Es ist ein Mädchen. Kann es bitte jemand nehmen? Ich hasse Menschenkinder“, rutsche ihr es zum Schluss noch hinaus. So etwas wollte sie eigentlich nicht sagen. Was dachten jetzt die anderen von ihr? Doch Asmielle meinte, dass sie es nur wissen sollten, dass sie Menschen verabscheute.
Samarin war schnell von ihrem Pferd Mariga gestiegen und nahm das kleine Wesen vorsichtig aus den Armen ihrer Schwester. Dabei zischte sie: „Du abartiges Geschöpf! Wie kann man nur so kalt sein. Ich sage dir nun, dass ich dich abgrundtief hasse. Meinst du ich sehe ohne Grund so krank aus, wie ihr alle sagt? Du bist an allem Schuld, du Monster!“
Samarin tat es noch nicht einmal Leid, was sie zu Asmielle gesagt hatte. Sie fand, dass es die Wahrheit war und das auch das Argo-Mädchen wissen sollte, was ihre Schwester über sie dachte. Daniels Freundin drückte das halbverhungerte und halberfrorene Kind an sich, dann suchte sie in ihren Taschen nach ein wenig Milch. Das Kind konnte schon aus einer Tasse trinken. Es war vielleicht ein oder zwei Jahre alt, überlegte Samarin. Es musste gut erzogen worden sein, denn es trank anständig aus dem Becher, den das Mädchen ihm hinhielt.
Asmielle stand immer noch am gleichen Fleck und konnte nicht fassen, was ihre Schwester gesagt hatte. Wie konnte Samarin sie Monster nennen? Ihre Schwester war doch das Monster und nicht sie. Wer hatte sich denn mehr zum Menschen entwickelt als zum Argo? Jetzt kümmerte sie sich auch noch so rührend um dieses Kind. Was war bei ihrer Schwester nur falsch gelaufen? Sie benahm sich viel zu fremdartig.
„Starr keine Löcher in die Luft, wir müssen weiter“, sagte Linga zu Asmielle, die erst jetzt auf ihr Pferd steigen konnte. Erst Lingas Ausruf hatte sie in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Samarin behielt das Kind bei sich und wickelte es mit in ihren weißen Umhang ein.
„Was machen wir nun mit dem Mädchen?“ fragte Daniel seine Freundin, als er es einmal schaffte so weit zurückzufallen, um mit ihr zu sprechen.
„Wir nehmen es natürlich mit. Wenn wir in die nächste Stadt kommen, können wir ja sehen, ob wir jemand geeignetes finden, der sich um das Kind kümmern kann“, versetzte Samarin.
„Soll ich es vielleicht für eine Weile nehmen? Welchen Namen geben wir ihm überhaupt?“
„Ich nenne sie Filia. Es wäre sehr nett, wenn du sie für eine Weile mit auf den Pferd nehmen würdest. Sie wird langsam schwer in meinen Armen“, erwiderte Samarin und reichte Daniel das Mädchen hinüber. Zuerst quengelte sie bei Daniel, doch nachdem Samarin in shami auf sie einredete, wurde Filia ruhiger. Nach einiger Zeit schlief sie sogar ein.
Asmielle ritt nach Samarins Beschimpfung ganz an der Spitze der Gruppe und überlegte, wie sie das ihrer Schwester heimzahlen konnte. Sie war so wütend, am liebsten hätte sie Samarin in den Fluss geworfen und ertrinken lassen. Doch wäre das die richtige Lösung? Asmielle wusste nicht, dass ihre Schwester selbst mit dem Gedanken gespielt hatte sich das Leben zu nehmen.
Nach den besagten zwei Stunden kamen sie wirklich an einer wunderschönen Lichtung an.
„Ich glaube, dass wir hier für eine längere Zeit Pause machen. Samarin, hier kannst du dich hervorragend erholen“, meinte Daniel.
„Warum soll ich mich erholen? Verstehe doch endlich, dass ich nicht krank bin. Na gut, ich gebe zu, dass ich mit den Nerven fertig bin, aber ihr seht mich alle an, als wäre ich ein Gespenst. Was habt ihr bloß?“ fragte das Mädchen ganz entrüstet. Was bildeten sich ihre Freunde nur ein? Warum bevormundeten sie sie so?
„Samarin, du bist nicht krank, wie deine Freunde denken, aber du durchlebst gerade eine Wandlung und sie sehen dich deswegen als krank an. Uns sagen auch alle Menschen nach, dass wir krank sind“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Sofort drehten sich die Köpfe der Jugendlichen um und sie sahen einen Engel. Er war in ein grellrotes Gewand gehüllt und hielt einen Stab in seiner Hand, das Erkennungszeichen, wie es auch Audin getragen hatte.
„Das halte ich nicht aus! Zwei Engel an einem Tag. Wollt ihr mich verrückt machen? Wer bist du eigentlich?“ stieß Samarin hervor. Ihr war richtig schwindelig geworden, als sie den Engel gesehen hatte. Beinahe wäre sie von ihrem Pferd gefallen.
„Du stellst gerne Fragen, wie mir meine Freunde schon verraten haben. Ich bin Lagannya, der Engel des Wandels und wir wollen dich nicht verrückt machen, aber auf dein, bald neues Leben vorbereiten“, sprach das Wesen, dessen Flügel vorne um den Körper gelegt waren.
„Auf welches neue Leben?“ fragte die junge Frau verwirrt.
„Natürlich auf dein Leben als Engel“, antwortete Lagannya gelassen.
„Ich soll ein Engel werden? Ich will aber nicht, ich will so bleiben wie ich jetzt bin.“
„Du kannst dir das nicht aussuchen. Aber beruhige dich, du wirst kein normaler Engel, so wie ich es zum Beispiel bin.“
“Was werde ich dann?“
„Du wirst ein Menschenengel. Es gibt viele davon bei euch. Sie behalten ihre normale Gestalt und nur einige können ihre Flügel und ihre Fähigkeiten sehen. Hab keine Angst! Das Einzige, was sich verändern wird ist, dass du Befehle unseres obersten Engels ausführen musst, dass ist der Erzengel Damarius. Du wirst dich viel um das Schicksal anderer Menschen kümmern und ihnen so weit es geht helfen. Die erste Prüfung hast du schon bestanden. Du hast das Mädchen bei euch aufgenommen und es in dein Herz geschlossen. Es heißt Binita.“
„Ich werde aber mein eigenes Leben behalten?“ fragte Samarin und sah dabei auf das kleine Mädchen, dass in Daniels Armen lag.
„Ja, das wirst. Du wirst nur für eine Weile eine Engelsschule besuchen, aber erst nachdem euer Abenteuer überstanden ist.“
„Ich kann das noch nicht glauben, warum gerade ich? Das ist einfach alles zu viel für mich“, seufzte Samarin und wäre durch eine plötzlich auftretenden Ohnmacht vom Pferd gestürzt, wenn Daniel nicht so schnell reagiert hätte. Er streckte sofort die Arme aus und fing seine Freundin auf. Daniel gab Binita zu Asyet und stieg vom Pferd ab. Er hob Samarin aus dem Sattel und legte sie auf den Mantel, den Ciran auf dem Boden ausgebreitet hatte.
„Lagannya, ich habe eine Frage an Euch“, sagte Asmielle überraschend.
„Ich werde sie dir beantworten, soweit ich kann. Sprich!“ erwiderte der Engel, der sich in der Zwischenzeit auf einem Stein in der Nähe des Flusses niedergelassen hatte.
„Wie wird Samarin als Engel heißen?“
„Sie wird den Namen Deina tragen und sie wird der Engel der Liebe sein. Sie ist genau die Richtige dafür, da sie allen Wesen ihre Liebe entgegenbringt. Doch vor allem hat uns ihre tiefe Liebe zu dir beeindruckt. Ich bewundere Samarin und bitte bringe jetzt nicht euer Gespräch vor wenigen Augenblicken auf den Tisch. Sie hat verstanden, nur dir mangelt es immer noch an Verständnis und an Liebe. Tief in dir trägst auch du sie und sie wird eines Tages auch an die Oberfläche kommen“, erläuterte Lagannya.
„Ich habe gesehen, dass sie Flügel hat, aber nur für einen kleinen Moment. Warum kann ich es nicht die ganze Zeit sehen?“ fragte das Argo-Mädchen und erwähnte nicht das Gespräch, so wie es der Engel gewünscht hatte.
„Ich habe dir dafür nur kurz die Möglichkeit gegeben. Darum siehst du sie jetzt wieder als normalen Menschen. Eigentlich wollte ich deine Meinung zu ihr ändern, aber ich wusste nicht, dass Samarin solch einen Hass empfinden kann, wie sie ihn zur Zeit verspürt. Sie hasst dich im Moment abgrundtief und ich kann euch beiden Leider nicht helfen. Asmielle, warum kannst du deiner Schwester nicht die Liebe entgegenbringen, die sie dir geben will?“
„Weil sie ein Mensch und ein Monster ist. Ich sehe sie nur als Feind und daran wird sich auch nichts ändern. Warum muss ich meine Schwester unbedingt lieben? Ich kann doch lieben, wen ich möchte“, schrie das Mädchen los und lief davon. Sie schämte sich ihrer Tränen wegen und wollte nicht, dass jemand sie weinen sah. Warum mussten alle auf ihr herumhacken? Sie wollte doch nur ihre Ruhe haben.
„Kannst du den beiden tatsächlich nicht helfen, oder willst du, dass sie ihre Probleme selbst lösen?“ hakte Ciran nach.
„Du hast zum Teil recht und zum anderen nicht. Ich könnte schon etwas nachhelfen, möchte es aber nicht. Aber auf der anderen Seite habe ich auch nicht das Recht ihnen meine Meinung aufzuzwingen“, erklärte das zarte Wesen.
Samarin kam gerade in Daniels Armen wieder zu sich und sah sich fragend um. Wo war sie nur und wer war dieses Geschöpf, das auf dem Stein in ihrer Nähe saß?
„Nun bist du endlich wieder unter uns. Ich wollte nicht gehen bevor ich mich nicht auch von dir verabschiedet habe. Also, ich wünsche euch, dass ihr gut durch dieses Abenteuer kommt und wir uns bald wiedersehen. Dich, Samarin, sehe ich in spätestens zwei Jahren in der Engelsschule. Ich werde einer deiner Lehrer sein. Ich werde für euch beten“, sagte der Engel noch und war verschwunden.
„Samarin, du ziehst überirdische Wesen magisch an. Wie viele Engel haben wir nun schon gesehen?“ meinte Asyet und lächelte zu ihrer Freundin.
„Zu viele, würde ich sagen“, brachte das Mädchen nur lachend heraus.
Auf einmal brachen alle in ein lautes Gelächter aus. Es war einfach alles so unglaubwürdig. Es war das erste Mal seit Wochen, sogar Monaten, dass die Freunde wieder einmal so herzlich gelacht hatten.
Doch Asmielle tauchte nicht mehr auf, als es zu dämmern begann machte sich die Gruppe große Sorgen, um ihr jüngstes Mitglied, wenn man von Binita absah.
„Wo kann sie nur sein?“ meinte Linga und sah sich suchend in der Gegend um.
„Sie wird schon wieder kommen. Außerdem ist es mir ziemlich egal, ob sie hier ist oder nicht“, fauchte Samarin, die noch immer sehr wütend auf ihre Schwester war.
„Ist dir das wirklich egal?“ fragte Ciran nach.
„Im Moment ist es mit total egal. Ich hasse meine Schwester und von mir aus kann sie für immer wegbleiben. Warum steht ihr alle meiner Schwester bei? Ich komme mir vor, als wäre ich an allem Schuld. Wer ist denn hier so gefühllos?“ schrie Samarin und verschwand weinend im Wald.
Samarin ging lange durch die Baumgassen, bis sie plötzlich vor einigen Häusern stand. Was war das für eine Siedlung? Michael sagte doch, dass in den Tiefen des Waldes niemand lebte. Wo war sie nur hingeraten?
Das Mädchen ging langsam auf die kleinen Häuschen zu und überlegte, ob sie sich ihnen noch mehr nähern sollte. Diese Entscheidung wurde ihr abgenommen, denn ganz überraschend hielt eine Hand sie von hinten an der Schulter fest. Samarin fuhr erschrocken herum und blickte in das Gesicht eines wunderschönen Wesens. Es war kein Mensch, aber es hatte auch keine Ähnlichkeit mit einem anderen Geschöpf, das Samarin jemals gesehen hatte.
„Wer seid Ihr?“ fragte sie vorsichtig.
„Diese Frage sollte ich wohl eher Euch stellen“, antwortete das Wesen. Es war in viele seidene Tücher gehüllt, die übereinandergeschichtet die schönsten Farben ergaben. Samarin konnte den Blick nicht von diesem Wesen wenden. Seine Schönheit war überwältigend.
„Nun sagt, wer seid Ihr?“ sagte Samarins Gegenüber nach einer Weile.
„Ich heiße Samarin Somaril.“
„Woher kommt Ihr?“ fragte das Geschöpf weiter.
„Ich lagere mit ein paar Freunden hier in der Nähe auf einer Lichtung“, antwortete das Mädchen bereitwillig.
Die beiden starrten sich lange an bis Samarin endlich den Mut zu einer Frage fand: „Wo bin ich hier und wer seid Ihr?“
„Ich bin Jendara und Ihr seid in unserem Dorf. Sein Name lautet Dunikani.“
„Entschuldigt, aber was seid Ihr?“
„Ich bin ein Suki“, sagte das Wesen knapp.
„Ein Suki?“ konnte Samarin nur noch sagen und dann wurde ihr schwindelig. Warum machte ihr Kreislauf in der letzten Zeit nur immer so schnell schlapp? Das waren ihre letzten Gedanken, bevor sie in ein großes schwarzes Loch fiel.
Der Suki, dessen Gesicht tiefe Bestürzung zeigte, hob das Mädchen vom Boden auf, denn er hatte sie nicht so schnell auffangen können.
Um auf das Aussehen des Suki zurück zu kommen. Er trug einmal diese seltsame Kleidung und sein Gesicht war dem des Menschen ähnlich, doch strahlte es eine besondere Macht aus. Außerdem wurde der Körper der Sukis nicht älter als zwanzig Jahre. Sie hatten eine ebene Haut und keine einzige Falte. Die Farbe ihres Haares reichte von helllila bis dunkelblau und schwarz. Sie hatten alle eine schmale aber kräftige Gestalt und waren groß gewachsen. Ihre Haut hatte eine perlmuttähnliche Tönung und ihre Augen veränderten im Laufe ihres Lebens mehrmals ihre Farbe, je nachdem in welchem geistigen Alter sie sich gerade befanden. Niemand der Menschen in Schamanah glaubte daran, dass noch Sukis lebten und taten sie als Sagengestalten ab. Doch nur weil man niemanden dieser schönen Wesen sah, hieß das nicht, dass es keine Sukis mehr gab. Sie hatten sich nur an Orte zurückgezogen, die kein Mensch betreten würde, wenn er nicht gezwungen wurde. Ihre Städte und Siedlungen lagen an Orten, die für die Menschen verwunschen waren und deswegen gemieden wurden. Es gab zwar wirklich nicht mehr viele dieser Urrasse von Schamanah, aber es gab sie noch.
„Wo bin ich?“ sagte Samarin, als sie die Augen aufschlug und in einem dunklen Raum lag.
„Ihr seid in meinem Haus und liegt auf meinem Bett“, sagte eine angenehme Stimme, die von einer Person kam, die ganz am Ende des Zimmers stand.
„Wer seid Ihr?“
„Ich bin Jendara. Könnt Ihr Euch nicht mehr an unsere Begegnung erinnern? Seid ihr Menschen denn so vergesslich?“
„Wir sind nicht vergesslich, ich habe es nur für einen Moment nicht mehr in meiner Erinnerung gefunden. Ihr seid der Suki, nicht wahr?“
„Ja der bin ich, aber das tut nichts zur Sache. Du musst erst einmal wieder gesund werden.“
„Wieso gesund werden? Ich hatte doch nur einen kleinen Schwächeanfall“, meinte das Mädchen.
„Das sagt ihr Menschen dazu, aber es steckt viel mehr dahinter. Ihr meint, wenn ihr wieder aufwacht sei alles wieder gut. Es wird jedoch immer wieder kommen, wenn man nichts dagegen unternimmt, denn bei Euch hat es einen anderen Grund. Habt Ihr diese Anfälle oft, kleiner Engel?“
„Kleiner Engel?“ fragte die junge Frau verwirrt.
„Ich glaube Ihr habt nicht viel Ahnung von uns Sukis, woher auch. Wir können sehen, wenn ein verborgener Engel vor uns steht.“
„Ein verborgener Engel?“
„So nennen wir Wesen, die nur im Verborgenen ein Engel sind, so wie Ihr es seid. Ich glaube ihr nennt es Menschenengel. Eure Flügel spürt Ihr nicht und könnt sie auch nicht sehen, doch ich sehe alles. Egal wie gut versteckt es ist. Außerdem bezeugt Euer Aussehen meine Vermutungen. Nun sagt aber, ob Ihr diese Anfälle öfter habt!“
„Ich bekomme sie fast jedes Mal, wenn ich mich aufrege oder etwas seltsames geschieht. Wieso wollt Ihr das wissen?“
„Ich glaube, dass ich eine Krankheit bei Euch entdeckt habe“, sagte Jendara.
„Könnt Ihr mir das näher erklären?“ fragte Samarin den Suki und zog die Decken enger um sich. Im Haus des Jendara war es eigenartig kalt, fand das Mädchen. Vielleicht war es aber auch wirklich kalt geworden, dachte Samarin.
„Es ist üblich, dass verborgene Engel daran erkranken, wenn sie sich verwandeln. Ihr habt die Krankheit, die in Eurer Sprache Gamit heißt. Für Menschen ist sie meist tödlich, doch Engel überstehen sie, wenn auch nicht ganz einfach. Ich werde Euch helfen schnell gesund zu werden.“
„Wie lange wird es dauern? Außerdem muss ich zu meinen Freunden zurück, sie suchen mich bestimmt schon.“
„Eure Freunde?“
„Ja, meine Freunde. Wir lagern auf einer Lichtung in einiger Entfernung, das sagte ich aber schon. Sie machen sich bestimmt alle große Sorgen um mich“, erwiderte Samarin.
„Dann werden wir sie holen, denn Ihr müsst noch einige Zeit in meiner Obhut bleiben, sonst werdet Ihr Euch nie richtig von dieser Krankheit erholen. Was glaubt Ihr, warum alle Engel so blass und krank aussehen? Keinem von ihnen wurde richtig geholfen. Wir Sukis kennen noch die alten Heilmittel und können helfen. Doch nicht einmal die Engel beachten uns noch, sondern glauben an das, was die Menschen sagen. Wisst Ihr, dass die Menschen uns nur als Sagengestalten abtun?“
„Ja, das weiß ich. Jendara dürfte ich Euch eine Frage stellen?“
„Fragt nur“, forderte der Suki das Mädchen auf.
„Woher könnt Ihr so gut meine Sprache und was bedeutet diese Krankheit für mich?“
„Das waren aber zwei Fragen. Ich werde versuchen sie Euch zu beantworten. Also ich spreche noridisch, weil ich es mir gelehrt habe. Wir sprechen viele Sprachen, doch haben wir auch unsere Eigene. Sie heißt Jilikisch und wir sprechen untereinander nur diese. Doch jeder Suki und jede Suka hat eine bestimmte Sprache dieser Welt ausgesucht, um sie zu lernen. Ich zum Beispiel habe mir mehrere Sprachen beigebracht. Ich spreche noridisch, shami und thalisch, wie es in Thallieren gesprochen wird. Um zu Eurer Krankheit zu kommen, kennt Ihr Gamit wirklich nicht? In Schamanah sind schon sehr viele Menschen daran gestorben, oder gibt es sie nicht in Azieren?“
„Ich kenne keine Krankheit, die Gamit heißt. Aber vielleicht sprecht Ihr es auch falsch aus. Es gibt eine Seuche in unserem Land, die man Gamal nennt. Sie befällt den ganzen Körper und schwächt ihn so lange, bis der Mensch stirbt. Viele Kinder sterben bei uns daran“, erklärte die junge Frau.
„Das ist genau das, was ich meinte. Entschuldigt, dass ich es nicht richtig ausgesprochen habe. Aber sorgt Euch nicht um den Verlauf der Krankheit bei Menschen. Ihr würdet auch nicht daran sterben, wenn ich nicht da wäre. Alle Engel Leiden daran, bis sie einen von uns treffen. Ich bin froh, dass Ihr schon am Anfang geheilt werden könnt. Aber nun genug gesprochen, Ihr werdet nun schlafen und ich werde mit König Hija und Königin Tunikaji sprechen. Sie werden bestimmen, ob Eure Freunde ebenfalls in unser Dorf kommen dürfen“, sagte der Suki und wollte das Zimmer verlassen.
„Leben Euer König und Eure Königin in diesem Dorf?“ fragte Samarin ungläubig. Dieser Ort sah so einfach aus, wie konnten die höchsten Personen des Stammes hier leben?
„Wundert Euch nicht. Ihr habt bis jetzt nur den Vorort gesehen. Wenn es Euch besser geht, werde ich Euch unsere prächtige Stadt zeigen. Ihr werdet Euch wundern, kleiner Engel.“
„Noch eine Frage, wie heißt Eure Stadt?“
„Wir nennen sie Dunikani, wie ich aber schon bei unserem ersten Gespräch erwähnt habe. In Eurer Sprache würde sie Blühende Verbannungsstadt heißen. Um Eure wahrscheinlich nun auftretenden Fragen zu beantworten, erkläre ich Euch, dass unsere ganze Stadt, wie ein Blumenteppich aussieht. Sie heißt Verbannungsstadt, weil wir hier Zuflucht gefunden haben, nachdem wir aus unseren Palästen in Schamanah vertrieben wurden, weil die Menschen sich dort einnisteten. Ich möchte nicht abwertend klingen und allen Menschen die Schuld daran geben, aber wir sind immer noch gekränkt über diese Ungerechtigkeit. Eigentlich sind wir die Einwohner dieses Landes, aber wir können nun nur noch im Verborgenen leben, weil wir Verbannte sind“, sagte Jendara und in seinen Augen blitzten Tränen auf. Sein Gesicht war zwar jung, aber in seinem Blick sah man ihm an, dass er schon sehr alt sein musste.
„Jendara, wie alt seid Ihr eigentlich und sterben die Sukis wirklich nie?“ fragte Samarin und hoffte, dass es nicht unhöflich war.
„Wir sterben nicht, wie Ihr durch das Alter, aber durch Verletzungen können auch wir sterben. Die Frage nach meinem Alter ist schwer zu beantworten. In Eurer Zeitrechnung wäre ich wahrscheinlich etwa vierhundert Jahre alt. Für die Sukis bin ich gerade einmal aus dem Jugendlichenalter heraus. In menschlichen Zeiträumen gesehen, wäre ich ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt. Nun muss ich aber gehen, wenn Eure Freunde noch vor Sonnenuntergang hier sein sollen“, meinte der Suki und verließ nun das Haus. Samarin lag noch einige Zeit grübelnd da, aber irgendwann übermannte sie doch die Müdigkeit und sie fiel in einen festen Schlaf.
„Was machen wir nur? Was ist, wenn Samarin und Asmia nicht mehr auftauchen?“ fragte Asyet verzweifelt.
„Das wäre ein großes Problem. Wir brauchen sie für unseren Auftrag“, meinte Ciran.
„Du denkst wohl nur an unseren Auftrag? Daran zu denken, dass den beiden etwas passiert sein könnte interessiert dich wohl gar nicht?“ brüllte Daniel los. Er war so verzweifelt über das Verschwinden seiner geliebten Freundin, dass er nicht anders konnte. Er hatte solche Angst um Samarin.
„Daniel beruhige dich! Wir werden die beiden schon finden und Samarin ist bestimmt nichts passiert“, sagte Linga besänftigend.
„Aber Samarin ging es doch so schlecht, sie war in keiner guten Verfassung um eine Nacht ungeschützt im Wald zu verbringen. Sie wird sterben, wenn wir sie nicht endlich suchen gehen“, versetzte der junge Mann und entfernte sich von der Gruppe. Ihm liefen die Tränen über das Gesicht. Er versuchte sie zwar zu unterdrücken, doch er war zu schwach. Wo war Samarin nur?
„Samarin, wacht auf!“ sagte eine leise Stimme und eine Hand rüttelte sanft an ihr.
„Ich bin wach, was möchtet Ihr denn?“ erwiderte das Mädchen.
„Ich habe mit König Hija und Königin Tunikaji gesprochen. Sie haben erlaubt Euch und Eure Freunde in unsere Stadt aufzunehmen. Ihr dürft so lange hier bleiben, bis Ihr gesund seid. Ich werde nun Eure Freunde holen und sie in unseren Gästehäusern unterbringen. Möchtet Ihr mit einer bestimmten Person Eurer Freunde in eines der Häuser?“ fragte Jendara.
„Ja, ich möchte mit Daniel Muskera zusammen sein“, sagte die junge Frau und wurde leicht rot dabei.
„Ihr habt einen Geliebten?“ fragte der Suki überrascht.
„Ja, ist das so ungewöhnlich?“
„Nein, bei Eurer Schönheit ganz und gar nicht. Aber nun muss ich gehen, wir haben später noch lange Zeit, um uns zu unterhalten, wenn Ihr möchtet. Ich werde meine Schwester schicken. Sie wird Euch dann in Euer neues Quartier bringen.“
Jendara verließ leise das Haus und Samarin stand auf, um sich anzukleiden. Zu ihrer Verwunderung trug sie ein ziemlich seltsames Nachthemd, wenn es überhaupt eines war. Es ging nur knapp bis zu den Knien und bestand aus vielen dünnen Stoffen. Es hatte eine kleine Ähnlichkeit mit dem Gewand von Jendara, doch war es viel kürzer und anders geschnitten. Es strahlte außerdem einen seltsamen Glanz aus, was Samarin noch nie zuvor gesehen hatte. Das Mädchen wollte gerade nach seinen Sachen greifen, als sie bemerkte, dass sie jemand beobachtete.
„Wer seid Ihr und warum starrt Ihr mich so an?“ wollte Samarin von dem oder der Fremden wissen.
„Entschuldigt, aber ich bin hier, um Euch zu Eurem Haus zu begleiten.“
„Seid Ihr Jendaras Schwester?“
„Nein, ich bin sein Bruder. Unsere Schwester konnte nicht kommen, sie musste zur Königin. Mein Name ist übrigens Ajagu“, stellte sich der Suki vor. Er schien jünger als sein Bruder zu sein. Nicht nur seine Augen strahlten eine wesentlich jüngere Aura aus, als Jendaras. Das Aussehen des Suki war auch noch nicht soweit, wie das von seinem Bruder. Aber er war um einiges attraktiver. Er zog Samarin wortwörtlich an. Ajagu hatte leuchtend dunkelblaues Haar und er trug ein Gewand passend zu seinen seltsamen violetten Augen. Gerade seine Augen beeindruckten das Mädchen. Für einen Moment vergaß sie sogar Daniel. Doch ihre Liebe war auch nicht mehr so stark, wie am Anfang ihrer Beziehung. Es hatte sich schon alles so sehr normalisiert. Dadurch mochte dieser eigenartige junge Suki eine noch größere Anziehungskraft haben.
„Mein Name lautet Samarin“, antworte sie nach einiger Zeit.
Der Suki betrachtete sie genauso intensiv, wie sie ihn. Er fand sie ebenfalls schön und durch ihre Eigenartigkeit als Mensch genauso seltsam.
„Ich werde draußen auf Euch warten, bis Ihr angekleidet seid“, sagte Ajagu und verließ schnell den Raum.
Samarin suchte nun ihre Kleidung, doch sie fand sie nicht. Auf einem Stuhl lagen ein paar Kleidungsstücke, die aber nicht ihr gehörten. Sollte sie vielleicht diese Sachen tragen? Sie war sich erst unschlüssig darüber, was sie machen sollte, zog aber dann doch die Sukikleider an. Sie bestanden aus dem selben Material, wie ihr Nachthemd. Es waren ein bodenlanges Kleid in vielen Gelbtönen und leichte Laufschuhe in der selben Farbe. Dann lag dort noch ein großes Tuch, das in blau gehalten war. Was sollte sie nur damit anfangen.
Samarin trat heraus und stand gleich neben Ajagu.
„Ajagu, für was ist dieses Tuch?“ fragte das Mädchen.
„Oh, seht Ihr bezaubernd aus“, war alles, was der Junge heraus brachte.
„Vielen Dank. Ich freue mich, dass Euch die Kleidung Eures Volkes an mir gefällt.“
„Entschuldigt mich für dieses unsittliche Verhalten. Soll ich Euch das Tuch umlegen, wie es unsere Frauen tragen?“
„Ich würde mich freuen. Ajagu, können wir nicht du zu einander sagen? Wir sind doch beide noch nicht so alt. Ihr seid es jedenfalls in Eurem Volk nicht.“
„Ich danke Euch für dieses Vertrauensangebot und nehme es gerne an“, entgegnete der Suki und fing an Samarin das Tuch umzulegen. Dabei berührten sich ihre Hände kurz und beide durchlief ein heißkalter Schauer.
Was mache ich hier bloß? Ich bin doch mit Daniel zusammen, warum macht mich Ajagu nur so verrückt? Samarin wusste keine Antwort darauf.
Der Junge vollendete die kunstvollen Windungen des Tuches um Samarins Körper. Er berührte, wie durch Zufall ihre Wange. Dann sah er ihr lange in die Augen und das Mädchen erwiderte seinen Blick. Plötzlich umschloss Ajagu sie mit seinen Armen und küsste sie leicht auf den Mund. Danach löste er sofort seinen Griff und ging ein paar Schritte zurück.
„Verzeiht mir diese Ausschweifung meiner Gefühle. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Wahrscheinlich hast du ja einen Freund. Ich habe dich und mich in Unehre gebracht, was ist nur in mich gefahren!“ flüsterte der junge Suki und seine blasse Gesichtsfarbe wurde zunehmend dunkler.
„Entschuldige dich nicht! Ich habe dich auch nicht daran gehindert, oder? Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich habe wirklich einen Freund. Aber mit unserer Liebe kann es nicht so weit her sein, wenn ich ihn so schnell vergessen kann. Der Engel Audin hat mir auch gesagt, dass er nicht als Geliebter sein Leben mit mir teilen würde. Du ziehst mich an wie ein Magnet und ich kann mich nicht dagegen wehren“, erwiderte Samarin und wusste nicht, wie das nur passieren konnte. Warum fühlte sie für Ajagu viel mehr, als für ihren Freund Daniel? Sie kannte den jungen Suki immerhin gerade mal eine viertel Stunde.
„Lass uns zu deinem Haus gehen. Du wirst dort mit deinem Freund wohnen?“ fragte Ajagu unvermittelt.
„Ich glaube nicht. Ich wollte eigentlich, aber ich kann nicht. Nicht nachdem, was gerade geschehen ist. Ich muss wirklich einmal genau über unsere Liebe nachdenken. Vielleicht ist es einfach nur Gewohnheit geworden, dabei sind wir gerade einmal etwas mehr als ein Jahr zusammen. Ich werde wohl mit meiner Freundin Asyet wohnen. Können wir vor der Tür warten, bis Jendara mit meinen Freunden kommt? Ich möchte es Daniel gleich sagen.“
„Was möchtest du ihm sagen?“ hakte der Junge nach und wurde noch blasser, als es seine gewöhnliche Hautfarbe schon war.
„Nicht das, was du denkst. Ich möchte ihm sagen, dass ich mit Asyet in ein Haus ziehe“, erklärte Samarin.
Jendara war gerade beim Lager von Samarins Freunden angekommen. Er sah sich erst alles aus der Ferne an, bis er den Mut fand zu den Menschen zu gehen. Bei Samarin war es etwas anderes gewesen, da sie nicht mehr ganz so menschlich war. Aber Jendara war noch nie auf richtige Sterbliche getroffen. Er kannte sie nur aus den Geschichten der Alten in der Stadt. Wie würden sie ihn wohl empfangen? Er sah ja für sie ziemlich sonderbar aus. Die Sukis unterschieden sich nicht nur darin, dass ihre Körper nicht alterten, sondern sie hatten auch einen etwas anderen Körperbau. Zum größten Teil sahen sie den Menschen schon ähnlich, also sie waren keine Monster oder so etwas. Sie waren nur sehr groß und sehr feingliedrig.
Nach einiger Zeit trat Jendara endlich aus den schützenden Büschen. Ein kleines Mädchen entdeckte ihn zuerst. Es starrte ihn nur an, schrie aber nicht los, wie es der Suki erwartet hatte.
„Binita, bitte komm wieder ans Feuer zurück“, sagte ein junger Mann, der dem Mädchen hinterher gelaufen war.
„Wer, wer seid Ihr denn?“ stotterte der Mann los, als er plötzlich Jendara entdeckte.
„Mein Name ist Jendara und ich komme im Auftrag Eurer Freundin Samarin. Sie befindet sich in unserer Stadt und ich bin gekommen, um Euch und Eure Begleiter zu ihr zu bringen“, antwortete der Gefragte.
„Wieso ist Samarin bei Euch und habt Ihr auch Asmia gefunden?“ fragte der Mann, der Daniel war, etwas verstört.
„Das Mädchen kam durch einen Zufall in unsere Stadt und weil sie krank ist, haben wir sie aufgenommen. Von einer Asmia weiß ich Leider nichts.“
„Warum sollte ich Euch glauben?“
„Weil ich die Wahrheit spreche! Warum seid ihr Menschen nur immer so misstrauisch? Entweder kommt Ihr und Eure Freunde jetzt mit oder ich muss Samarin eine traurige Nachricht überbringen“, meinte der junge Suki und wollte sich schon zum Gehen umwenden.
„Wartet! Ich werde meine Freunde holen und wir werden mit Euch kommen. Lasst uns bitte noch Zeit zum Packen und um die Pferde zu beladen“, forderte Daniel.
„Das wird sich einrichten lassen. Lasst doch bitte das Kind bei mir. Ich werde auf es aufpassen, bis Ihr soweit seid.“
Daniel sah Jendara erst prüfend an, nickte aber dann zur Zustimmung und ging ins Lager zurück.
„Beeilt euch, wir müssen schnell packen! Da ist ein seltsames Wesen, dass uns zu Samarin bringen wird“, sagte der junge Mann und fing schon an, ihre Habseligkeiten zusammenzuräumen.
„Aber was ist mit Asmia?“ wollte Linga wissen.
„Wir werden ihr eine Nachricht an einen der Bäume heften und ihr sagen, dass sie hier in der Nähe einen Ort findet an dem eigenartige Wesen leben und das sie dort nach uns fragen soll. Sie kann doch unsere Gedanken lesen und so auch herausfinden, wie sie dort hin gelangt“, meinte Daniel.
„Sehr einfallsreich, aber ich werde einen Zettel schreiben“, versetzte Linga, seltsamerweise fragte sie Daniel nicht einmal genauer nach diesem fremden Wesen, sondern schrieb den Zettel und packte dann eifrig ihre Sachen zusammen.
So gingen sie also mit dem Suki durch verwirrende Waldwege und kamen nach kurzer Zeit an einem Dorf an.
„Sagtet Ihr nicht, dass Ihr in einer Stadt lebt?“ fragte Daniel.
„Das tue ich auch, was ihr hier seht sind nur die Vorhäuser. Ihr werdet euch noch wundern, was unsere Stadt zu bieten hat“, erklärte der Suki.
Als sie zu vier Häuser kamen, die eng beieinander lagen, hielt Jendara an.
„Hier sind unsere Gästehäuser, Leider bisher sehr selten in Gebrauch. Dort hinten sitzen auch schon Samarin und mein Bruder Ajagu.“
„Guten Tag lieber Bruder, warum hast du unsere neue Freundin nicht schon ins Haus gebracht?“ wollte Jendara wissen, als die Gruppe bei den beiden ankam.
„Ich wollte nicht, weil ich noch etwas mit meinen Freunden besprechen möchte“, warf Samarin ein, bevor Ajagu antworten konnte.
„Nun gut, wir werden euch nun alleine lassen. Ajagu wird euch später zum Abendessen abholen“, sagte Jendara noch und ging mit seinem Bruder von den Freunden fort, tiefer in den Wald hinein.
„Samarin, da bist du ja wieder. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht“, rief Daniel und wollte seine Freundin umarmen. Doch diese wand sich schnell ab und ließ den jungen Mann ins Leere greifen.
„Was ist denn los mit dir?“ fragte dieser entsetzt.
„Ich möchte es nicht und ich möchte außerdem mit Asyet in einem der Häuser schlafen. Bitte frag jetzt nicht so viel und lass mich einfach in Ruhe. Ich brauche Zeit, um über einige Dinge nachzudenken“, erwiderte Samarin und zog ihre Freundin mit sich in ihr vorrübergehendes Zuhause. Dann ließ sie die Tür krachend ins Schloss fallen. Daniel wusste nicht, was er machen sollte und starrte nur noch die Tür an.
„Daniel, komm, wir gehen in unser Quartier gehen. Du kannst nichts daran ändern, im Moment jedenfalls nicht“, tröstete Ciran seinen Freund. Daniel hörte nicht auf ihn, sondern blieb immer noch wie angewurzelt stehen.
„Das kann sie doch nicht machen! Ich liebe sie doch, sie ist doch alles was ich habe“, jammerte der Junge. Ciran zog ihn nun mit aller Kraft in das eine Gästehaus. Pali und Linga sahen sich schulterzuckend an und gingen mit Binita in eine der anderen Wohnungen.
„Was soll das bloß? Das passt ganz und gar nicht zu Samarin“, meinte der Prinz zu der Heilerin, als sie es sich in dem ungewohnten Haus bequem gemacht hatten.
„Ich weiß es nicht, Pali. Aber vielleicht hat Samarin über die Liebe zu Daniel nachzudenken. Vielleicht sollten sie eine Weile nicht mehr zusammen sein. Ich habe sowieso schon gedacht, dass es nicht mehr lange halten wird. Samarin braucht ihre Freiheit und Daniel engte sie viel zu sehr ein“, sann Linga nach.
„Meinst du wirklich?“
„Ja, dass meine ich. Ich habe ihre Gedanken gelesen. Ich mache das eigentlich nicht, weil ich es unhöflich finde, aber ich wollte wissen, was mit ihr los ist. Du hast doch den Bruder von Jendara gesehen, diesen Ajagu?“
„Ja, den habe ich gesehen. Wieso fragst du?“ hakte Pali nach.
„Samarin empfindet mehr für ihn, als sie eigentlich sollte. Er muss sie mit seiner Fremdartigkeit bezaubert haben. Sie haben sich geküsst, was aber beiden danach sehr unangenehm war.
Sie möchte ihre Zeit lieber mit Ajagu verbringen, als mit Daniel. Für Daniel wird es sehr schwer werden, denn soweit ich sehen konnte, wird Samarin sich noch öfters mit diesem Ajagu treffen. Ajagu wird ihr das geben, was sie bei Daniel vermisst, denn der Suki braucht seine Freiheit genauso sehr, wie Samarin. Aber wie der Engel Audin schon sagte, ihre Liebe ist nicht für die Ewigkeit bestimmt, nur ihre Freundschaft. Hier in der Sukistadt ist eben alles anders und nun wird die Zeit kommen, da es soweit ist, dass Daniel und Samarin nicht mehr zusammen sind.“
„Du sprichst in Rätseln. Ihre Liebe ist nicht für die Ewigkeit, aber ihre Freundschaft soll das sein? Was meinst du damit?“ fragte Pali verwirrt.
„Beides...beides Pali“, sagte sie nur noch und verließ dann den Raum, um sich um Binita zu kümmern, die es dringend nötig hatte einen Eimer Wasser zu sehen. Sie ließ einen vor sich hin glotzenden Prinzen zurück, der nicht wusste, was er von diesen letzten Worten denken sollte.
„Samarin, was sollte das eben?“ wollte Asyet von ihrer Freundin wissen, die sich auf einen der Hocker gesetzt hatte und die Hände vor ihr Gesicht hielt.
„Ich kann es dir nicht erklären, aber ich weiß, dass es das einzig Richtige war. Daniel erdrückt mich mit seiner Liebe und ich habe nicht die Kraft dazu es auszuhalten. Ich brauche Abstand und jetzt lass mich in Ruhe! Ich werde zu Jendara gehen, dort stellt mir wenigstens niemand solche Fragen“, schrie das Mädchen und rannte aus der Wohnung ins Freie. Asyet lief ihr hinterher und wollte Samarin aufhalten, aber sie erwischte sie nicht mehr.
Im Haus von Daniel und Ciran spielten sich ganz andere Szenen ab. Ciran hatte seinen Freund mit großer Mühe auf eines der Betten setzen können. Daniel hatte kurz Ruhe gegeben, aber nun lag er auf dem Bett und weinte verzweifelt vor sich hin. Ciran war noch nie sehr groß im Trösten gewesen und wusste nicht, wie er seinem Freund helfen konnte. Vielleicht beruhigte er sich ja bald wieder. Er war zum Kämpfer ausgebildet worden und nicht zum Seelentröster, dachte er noch und ließ Daniel alleine.
„Samarin, was machst du denn hier?“ fragte eine weiche Stimme. Es war Ajagu, der auf dem Weg zu den Fremden war, um sie zum Essen abzuholen.
Das Mädchen antwortete nicht. Der Suki ließ sich neben ihr nieder und legte vorsichtig den Arm um sie. Plötzlich brach Samarin weinend zusammen und drückte ihren Kopf fest an die schmale Brust von Ajagu. Er strich ihr sanft über das lange dunkle Haar und hielt sie fest. Es war ein seltsames Gefühl für den Suki, denn bis auf den kleinen Kuss mit Samarin, war er nie mit Menschen zusammen und nun eine Sterbliche so nah an sich zu halten, war doch etwas eigenartig. Auch Samarin fühlte, wie die Fremdartigkeit von Ajagu fast greifbar in der Luft hing, aber sie genoss es, denn es war etwas Neues, Aufregendes und Schönes. Sollte Ajagu ihr vielleicht das geben können, was sie schon so lange suchte?
„Samarin nun müssen wir aber deine Freunde holen, sonst wird Jendara noch nach uns suchen lassen“, meinte Ajagu nach einer Weile und half dem Mädchen auf die Beine.
„Ich werde hier auf dich warten. Ich möchte Daniel nicht so schnell über den Weg laufen“, sagte Samarin und lehnte sich gegen einen Baum.
„Wie du möchtest, menschliche Freundin.“
Der Suki ging mit schnellen sicheren Schritten davon, nach wenigen Augenblicken war er im Dickicht der Bäume verschwunden.
„Herein“, sagte Asyet, nachdem es an der Tür geklopft hatte.
„Guten Abend, ich möchte Euch zum Abendmahl holen“, sagte Ajagu höflich zu dem Mädchen, das ihn unverholend anglotzte.
„Ich, ich komme“, stotterte Asyet. Sie hatte immer noch ein komisches Gefühl, wenn sie einem dieser Sukis gegenüberstand. Sie hatten eine anziehende und gleichzeitig abstoßende Aura.
„Kommt Ihr nun mit mir?“ fragte der Suki noch einmal, weil Asyet sich nicht von der Stelle bewegt hatte.
„Natürlich“, meinte das Mädchen nun und folgte dem Jungen. Draußen standen bereits Ciran, Daniel, Linga und der Prinz mit der kleinen Binita an der Hand.
Die Gruppe ging in leise Gespräche vertieft hinter Ajagu her und als sie an dem Baum ankamen, an dem Samarin wartete, wurde es plötzlich totenstill. Ajagu ging zu ihr und holte sie zu der Gruppe. Jeder konnte den liebevollen Blick sehen, den sich die beiden zuwarfen. Warum mache ich das nur, dachte Samarin, ich will Daniel doch nicht weh tun, aber ich kann nicht anders.
Asyet ging auf ihre Freundin zu, nachdem der Suki weiter gelaufen war. Sie ging bewusst langsam, um ungestört mit Samarin zu sprechen.
„Was sollte das eben? Warum hast du diesen Suki so seltsam angesehen?“ fragte Asyet empört nach.
„Ich weiß es nicht. Er hat etwas bezauberndes an sich und ich kann ihm nicht widerstehen. Ajagu engt mich nicht ein, er will sich einfach nur mit mir unterhalten. Aber Daniel erdrückt mich und deswegen werde ich mich von ihm eine Weile trennen“, antwortete das Mädchen entschlossen.
„Das kannst du ihm nicht antun! Daniel wird daran kaputt gehen.“
„Das muss ich in Kauf nehmen. Entweder geht er daran kaputt oder ich. Ich muss auch einmal an mich denken, ich kann nicht immer nur an die anderen denken. Daniel wird damit schon fertig werden.“
„Also trennst du dich von ihm, solange wir hier sind und wenn wir weggehen dann ist Daniel wieder gut genug, um mit ihm zusammenzusein, was?“
„Nein, du verstehst mich falsch! Ich werde mich von ihm für längere Zeit trennen, denn ich werde hier bleiben, wenn ihr geht.“
„Was wirst du?“
„Ich bleibe für einige Zeit in dieser Stadt. Ich muss meine Krankheit auskurieren und ihr habt nicht so viel Zeit, um auf mich zu warten. Ihr werdet in einer Woche abreisen müssen, doch ich werde so schnell es geht folgen.“
„Aber wie soll das gehen? Du kennst die Städte, durch die wir reisen müssen, doch gar nicht. Wie willst du die Kristallstadt erreichen?“
„Asmia wird bald hier eintreffen und wir haben vereinbart, dass sie mir durch eine weiße Taube Nachrichten übermittelt.“
„Woher willst du wissen, dass Asmia wieder auftaucht?“ fragte Asyet ungläubig.
„Weil ich sie im Wald getroffen habe. Wir haben uns zwar gestritten, aber sie wird in den nächsten Tagen kommen und mit euch weiterreisen. Ich verspreche dir, dass ich bald nachkommen werde, spätestens in der Kristallstadt werden wir uns wiedersehen“, versprach Samarin.
„Das hoffe ich sehr, ich werde es nur schmerzlich verkraften, dass du nicht bei mir bist. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich ohne dich als Freundin leben konnte.“
„Du wirst es können, immerhin bist du ja nicht abhängig von mir. Nun lass uns zum Essen gehen, die anderen warten bestimmt schon auf uns“, meinte Samarin und hakte sich bei ihrer Freundin unter.
„Da seid ihr ja endlich“, begrüßte Jendara die beiden Freundinnen.
„Entschuldigt, dass wir erst so spät kommen, aber wir hatten noch etwas zu bereden“, erläuterte Samarin. Dabei setzten sich die Mädchen auf die einzigen noch freien Plätze.
Samarin hatte Glück, denn einer dieser Plätze befand sich neben Ajagu. Asyet setzte sich auf die andere Seite und ihr Nachbar war, wie konnte es auch anders sein, Daniel.
Er starrte wütend auf die Tischdecke, die aus genau dem selben Sukistoff war, wie die Gewänder, die Samarin trug. Linga, Pali und Binita hatten ebenfalls die Kleidung ihrer Gastgeber angenommen. Nur Daniel und Ciran trugen ihre alte Reisekleidung. Asyet trug einen Teil der Sukigewänder und einen Teil ihrer eigenen, da sie meinte, dass sie sonst total dämlich aussehen würde.
„Erhebt euch nun alle, um König Hija und seine Gemahlin Tunikaji zu begrüßen“, sagte Jendara mit ehrfürchtig geneigtem Haupt. Alle im Speisesaal standen auf und sahen zu der kleinen Tür, die im hinteren Teil des Raumes lag; daraus kamen zwei großgewachsene Gestalten hervor. Die eine, eindeutig eine Frau, trug viele weichfallende Gewänder und selbst ihre Hände und ihre Haare waren bedeckt mit den Stoffen der Sukis. Ihr Kleid reichte bis zum Boden und führte eine lange Schleppe hinter sich her.
Ihr Begleiter, König Hija, trug als einziger Sukimann, einen langen Rock und ein kurzes Hemd darüber. Die normalen Stammesmänner trugen lange, weite Hosen und ein langes Hemd dazu, das bis zu den Knien reichte. Hija war ein wunderschöner Mann, doch in seinen Augen zeigte sich sein Alter,.
Die Untertanen des Königspaares verneigten sich kurz, dann machte die Königin eine Gebärde,
die zeigte, dass sich alle setzen sollten.
Samarin wunderte sich, dass Jendara neben den Herrschern der Sukis saß. Er saß neben Hija und ein Mädchen saß neben Tunikaji.
„Ich wünsche euch allen einen schönen Abend und begrüße euch, die Sterblichen, die unsere Tafel heute mit uns teilen“, sagte der König feierlich. Die Freunde nickten ihm kurz zu.
„Mein Sohn Jendara hat seit langer Zeit wieder einen Engel zu heilen, wenn es sich auch nur um einen verborgenen Engel handelt. Ich freue mich dich, Samarin, hier zu sehen“, sprach Hija weiter.
Samarin fiel die Kinnlade fast herunter. Jendara war ein Prinz, oder wie das bei den Sukis hieß? Dann war Ajagu ebenfalls höherer Geburt, wie konnten sie ihr das nur nicht sagen? Warum nahm sie das nun so ernst? Eigentlich könnte es ihr doch egal sein, oder?
„Du musst ihm sagen, dass du dich auch freust hier zu sein“, wisperte Ajagu ihr zu.
„Ich freue mich ebenfalls, dass ich Eure Tafel mit Euch teilen darf“, sagte Samarin, wie ihr es der Suki zugeflüstert hatte. Dann drückte sie sanft seine Hand zum Dank. Ajagu sah sie verstört an, was sollte diese Gebärde? Er konnte damit nichts anfangen. Die Sukis zeigten meist keine Gefühle in der Öffentlichkeit und ein Händedruck war bei ihnen sowieso unbekannt. Sie gaben sich nie die Hand, ob zur Begrüßung, Verabschiedung oder zum Dank. Er musste mit Samarin noch viele Gespräche führen, dachte er. Er wusste so wenig über das Verhalten der Menschen und war neugierig, wie sie sich noch von den Sukis unterschieden.
Nach diesen paar Sätzen wurde sofort gegessen. Es war kaum ein Laut zu hören, so geräuschlos aßen die Unsterblichen. Sie machten auch so nicht viel Lärm. Bei ihnen verlief alles leise und gemütlich. Sie sind noch nicht so hektisch wie wir Menschen, dachte Samarin und bewunderte die Sukis noch mehr.
„Der König und die Königin werden sich nun vom Volk verabschieden und sich in ihre Schlafgemächer begeben. Sie wünschen ihrem Volk eine gute und ruhige Nacht“, verabschiedete Jendara seine Eltern. Sie verließen schnell, aber geräuschlos, den Saal. Auch die anderen Sukis schwärmten aus dem Raum und nur die Sterblichen und die Kinder des Herrscherpaares blieben zurück. Nun war auch Jendaras Schwester anwesend.
„Guten Abend, mein Name ist Catagia und ich bin die Schwester von Jendara und Ajagu“, stellte sich das Sukimädchen vor. Sie war etwas älter als Jendara, wie es in ihren Augen zu lesen war.
„Wir freuen uns Euch kennen zu lernen“, erwiderte Samarin im Namen aller.
„Wer sagt, dass wir uns alle freuen?“ schrie Daniel auf einmal los.
„Daniel, was soll das?“ fragte Samarin überrascht über diesen Wutausbruch.
„Warum fragst du mich das? Ich sollte dich fragen, was das soll. Ich freue mich auf jeden Fall nicht, dass wir hier sind und auch nicht, dass wir diese Wesen kennen gelernt haben“, brüllte er weiter und dann rannte er weg von seinen Freunden. Ciran entschuldigte sich für ihn und folgte ihm.
„Aber Ihr braucht Euch doch nicht entschuldigen. Es hat wohl jeder einmal einen schlechten Tag, ob das nun Menschen sind oder wir Sukis. Euer junger Freund scheint mit den Nerven etwas fertig zu sein“, tat Catagia die Sache leichtfällig ab.
„Samarin, wollen wir noch ein bisschen spazieren gehen? Ich möchte dir gerne unsere Stadt zeigen. Bis jetzt hast du ja nur das Vordorf und den Speisesaal gesehen“, meinte Ajagu plötzlich und reichte Samarin seine Hand. Das hatte er bei Linga und Binita gesehen. Die Heilerin hatte das Mädchen auch an der Hand genommen und war mit ihr weggegangen, um sie zu Bett zu bringen.
„Oh, sehr gerne“, erwiderte die junge Frau und nahm Ajagus Hand an.
„Wenn mein Bruder eure Freundin durch die Stadt führt, werden meine Schwester und ich euch herumführen“, meinte Jendara und in diesem Augenblick kam auch Linga wieder zu der Gruppe zurück und die kleine Schar verließ den Speiseraum und machte sich auf Entdeckungsreise.
„Daniel, du kannst vor deinen Problemen nicht immer davon laufen und du kannst andere nicht deswegen beleidigen“, schimpfte Ciran auf den jungen Mann ein, der sich hoch in einen Baum verkrochen hatte.
„Lass mich doch endlich in Ruhe! Ich brauche dein Mitleid nicht und ich kann so viel Beleidigungen sagen, wie ich will. Verschwinde endlich!“ schrie Daniel herunter und verfiel wieder in einen Heulkrampf. Der junge Mann war noch nie so verletzt worden von einer Frau und konnte nun überhaupt nicht damit umgehen.
„Daniel, bist du nun ein Mann und ein Ausgebildeter des Roten Hauses oder nicht? Höre auf dich selbst zu bemitleiden und komm wieder runter. Du kannst nicht auf Bäume klettern nur weil du Probleme hast und meinst dort oben würden sie sich dann irgendwann in Luft auflösen. Wir sind keine Kinder mehr, Daniel. Wir haben nicht mehr solche Probleme vor denen wir auf einen Baum flüchten können. Es jagt uns kein Meister mehr, weil wir eine Untat begangen haben, sondern du hast ein inneres Problem und dem musst du dich stellen und darüber reden. Nun komm endlich, ich krieg schon eine Genickstarre vom ständigen Hochsehen.“
„Ich will aber nicht! Hast du nicht verstanden, dass du gehen sollst?“
„Na gut, ich werde gehen, aber ich werde nicht wiederkommen. Du bist an der Reihe zu verzeihen und mit Samarin zu sprechen. Glaube nicht, dass ich dir helfen werde und Samarin wird ganz bestimmt nicht hier her kommen. Du benimmst dich wirklich wie ein kleines Kind oder vielleicht doch eher wie ein Affe, die steigen auch auf Bäume, wenn sie Angst haben“, wetterte Ciran weiter. Er wusste, dass Daniel keine Kritik vertrug und so am schnellsten wieder herunterkommen würde. Er hatte sich kaum verändert. Er benahm sich immer noch wie ein kleines Kind, wenn es um solche Sachen ging.
„Ich werde jetzt gehen und du kommst am besten schleunigst runter und sprichst mit Samarin, sonst werdet ihr euch nur im Streit trennen. Du musst verstehen, wenn sie ihre Freiheit braucht und du sie aber mit Liebe erdrückst, wird sie dich für immer verlassen.“
Ciran ging nun wirklich und er wusste, dass sein Freund ihm bald folgen würde. Auf dem Weg zum Gästehaus begegnete er Samarin und Ajagu. Sie hielten sich bei den Händen und sprachen leise miteinander.
„Samarin“, rief der junge Mann dem Mädchen zu, das ihn gar nicht bemerkte.
„Oh, Ciran ich habe dich nicht gesehen“, sagte sie überrascht.
„Das habe ich mir schon gedacht. Du hast dich ja schnell abgefunden oder willst du wegen ihm nichts mehr mit Daniel zu tun haben“, polterte der temperamentvolle Ciran los.
„Was soll das? Ajagu hat keine Schuld an meinem Entschluss. Ciran, du musst verstehen, dass mich Daniel zu sehr einengt. Ich hätte nicht länger so leben können. Ich habe zwar nie gezeigt, dass mich das stört, aber ich wäre daran kaputt gegangen, wenn es nicht so gekommen wäre. Ich werde dir später alles erklären.“
„Wenn ihr sprechen wollt, dann kann ich auch gehen“, meinte Ajagu entschuldigend.
„Nein, bleib nur. Ich werde später mit meinem Freund sprechen. Nun mach es gut Ciran“, verabschiedete sich das Mädchen.
„Gut, dann bis später. Ich habe noch eine Bitte. Geht nicht dort entlang! Daniel ist dort und er ist schon verzweifelt genug. Er braucht euch beide nicht auch noch sehen“, damit ging der junge Mann und die beiden, die Sterbliche und der Suki, gingen in Richtung der Stadt. Ajagu hatte Samarin erst die Bauten außerhalb der Palaststadt gezeigt. Sie wollten Jendara und den anderen nicht über den Weg laufen. Ajagu führte Samarin durch eine wundervolle Baumallee und am Ende davon erblickte Samarin das Schönste, was sie je gesehen hatte. Sie sah Dunikani, die blühende Verbannungsstadt, wie Jendara gesagt hatte.
„Das ist... das ist einfach wundervoll. Ich habe noch nie so etwas gesehen“, schwärmte Samarin.
„Ich liebe Dunikani auch. Es ist so schön bunt und es duftet immer nach frischen Blumen“, stimmte Ajagu ihr zu.
Die Gebäude der Stadt hatten große Ähnlichkeit mit dem Gutshof von Sir Ivani. Man sah, dass beides von ein und demselben Volk geschaffen worden war. Die Häuser bestanden ebenfalls fast nur aus Glas und schillerten in allen Farben des Regenbogens. Samarin sah, warum das der Fall war. Hinter den Gläsern hatten die Bewohner der Häuser viele bunte Tücher aufgehängt, die vor neugierigen Blicken schützen sollten. Doch der Stadt gaben sie dadurch ein einmaliges Aussehen. In einiger Entfernung, genau in der Mitte der kleinen Stadt, lag der Palast des Königspaares. Er bestand wirklich nur aus Glas und den Einfassungen davon. Bei den normalen Häusern hingegen, waren noch einige Wände aus Stein gebaut. Der Palast musste das einmaligste Gebäude sein, das es gab. So etwas konnte man kein zweites Mal bauen.
„Ajagu, erlaubst du mir eine Frage?“ wollte das Mädchen wissen.
„Frage alles, was du möchtest.“
„Warum lebt Jendara in einer kleinen Hütte vor der Stadt, wenn eure Eltern doch solch ein Prachtgebäude besitzen?“
„Das ist eine schlaue Frage. Ich weiß es aber selbst nicht. Meine Schwester und ich leben aus freien Stücken mit unseren Eltern im Panikanum. Ich könnte auch mein eigenes Haus haben, habe mich aber dagegen entschieden, da ich gerne im Palast lebe. Wahrscheinlich hat mein Bruder sich diese Freiheit genommen und lebt deswegen alleine. Aber warum er gerade in eine der armseligen Hütten der Vorstadt gezogen ist, kann ich auch nicht begreifen. Ich werde ihn bei Gelegenheit einmal danach fragen“, meinte der junge Suki.
„Das wäre schön. Warum habt ihr vor der Stadt eigentlich Häuser stehen, die unserem Baustil entsprechen? Wieso habt ihr dort nicht die selben Glasbauten errichtet? Noch eine einzige Frage, was bedeutet Panikanum?“
„Das sind ziemlich viele Frage, wo findest du diese nur alle? Also werde ich einmal mit dem erklären anfangen. Setzen wir uns aber auf diese Bank dort vorne, ich bin müde vom vielen Gehen“, forderte der Suki Samarin auf.
„Gut, dann fangen wir mit dem Einfachsten an. Panikanum bedeutet in eurer Sprache Palast der weinenden Kinder. Er trägt diesen Namen, weil unsere Vorfahren, als sie aus Schamanah vertrieben wurden, lange Jahre geweint haben, um ihr verlorenes Land und die Sturheit der Menschen. Aus diesem Grund ist er auch ganz aus Glas gebaut, weil Tränen genauso durchsichtig sind, wie es das Glas ist, wenn man es lässt. Wir haben nun schon seit langer Zeit alles mit Vorhängen verdeckt, damit wir in Ruhe leben können, auch wenn man hier nie von anderen beobachtet werden würde. Ihr fühlt euch doch auch besser, wenn niemand in euer Haus sehen kann, oder?“
Samarin nickte zustimmend.
„Nun gut, kommen wir zur nächste Frage. Vor der Stadt stehen eigentlich nicht unsere Bauten, denn sie sind nicht von uns geschaffen. Wir bauen niemals nur Stein- oder Holzhäuser, wie ihr es tut. Unser Volk ist viel zu sehr mit der Geschichte und Bedeutung des Glases verbunden. Sie stammen noch von den Menschen, die einmal hier gelebt haben. Weißt du, früher lebten die Menschen in diesem Land in der Verbannung und nicht wir Sukis. Sie lebten, wie wir nun, in diesem Wald. Aber sie vermehrten sich sehr schnell und so waren wir ihnen gegenüber machtlos. Wir sind kein besonders großes Volk, heute nicht und damals nicht. Es dauert lange, bis es bei uns Nachwuchs gibt. Viele Paare sind schon Jahrhunderte verheiratet und haben noch immer keine Kinder. Bei uns ist es einmal schwierig Kinder zu zeugen und zweitens dauert es viel länger. So vermehren sich die Menschen sehr schnell, leben aber dafür auch nicht so lange. Doch irgendwann wollten sie uns als Herrscher nicht mehr dulden und führten Krieg gegen uns. Mein Volk ist sehr friedliebend und daher auch sehr unbedarft in der Kriegsführung. Also besiegten uns die Menschen und viele meiner Rasse starben. Außer dieses Stadt gibt es noch zwei kleinere Siedlungen versteckt in den Wäldern“, erklärte Ajagu mit Tränen in den Augen.
„Das ist ja schrecklich! Ihr müsst sehr gelitten haben. Wie viele Städte hattet ihr im Land?“
„Es waren vierhundert Siedlungen, aber der größte Teil davon Dörfer. Wir waren noch nie viele, wie ich schon sagte.“
„Dann müsst ihr doch einige gewesen sein, bei vierhundert Siedlungen. Wie konnten sie euch das nur antun? Aber manche Menschen kämpfen heute noch gerne, obwohl es doch weitaus weniger Kriege gibt als früher.“
„Für dich hört sich die Zahl vierhundert viel an, aber wir waren nur sehr wenige. Wir hätten das Land auch gerne mit den Sterblichen geteilt, aber sie wollten alles. Sie wollten uns nicht einmal einen Teil unserer Dörfer lassen. Ich möchte mich jetzt nicht so anhören, als würde ich alle Menschen hassen, bitte glaub das nicht!“ meinte Ajagu und sah dabei auf die zauberhaften Gebäude der Stadt.
„Das weiß ich doch“, sagte Samarin und nahm den Unsterblichen in den Arm. Ajagu genoss diese fremde Zärtlichkeit und so saßen die beiden eine ganze Weile da.
„Da bist du ja endlich. Ich dachte schon du kommst gar nicht mehr“, begrüßte Asyet ihre Freundin, als diese spät in der Nacht zur Tür herein kam.
„Hast du etwa die ganze Zeit auf mich gewartet?“ fragte Samarin müde.
„Nicht nur ich. Ciran ist auch noch da.“
„Oh Ciran. Ich wollte mich ja noch mit dir unterhalten.“
„Das ist nicht mehr nötig. Asyet hat mir alles erklärt und ich verstehe dich. Ich komme wegen Daniel. Er sitzt seit nach dem Abendessen auf einem Baum und weigert sich herunter zu kommen. Du musst mir helfen“, bat der Mann.
„Wie soll ich denn das machen? Meinst du er will mich überhaupt noch einmal sehen?“ erwiderte Samarin ungläubig.
„Eigentlich nicht, aber das sagt er nur. Du musst einfach mitkommen. Stell dir vor Daniel schläft ein und fällt von dort oben herunter.“
„Natürlich komme ich mit, wenn du meinst, dass es das Richtige ist“, meinte das Mädchen und zog die Eingangstür wieder auf. So gingen die beiden davon.
„Daniel, komm endlich runter!“ schrie Ciran zu seinem Freund, der noch höher gestiegen war.
„Wieso sollte ich?“ jammerte dieser.
„Samarin ist hier und möchte mit dir sprechen.“
„Das ist mir egal.“
„Du bist ein richtiges Kind. Ich dachte eigentlich, dass du erwachsen bist“, mischte sich nun Samarin mit in das Gespräch ein.
„Ich will gar nicht mehr erwachsen sein, wenn man sowieso nur Probleme hat.“
„Ich versteh dich nicht. Du bist doch kein kleines Kind mehr, warum sitzt du dann da oben und jammerst rum? Ich glaube, ich gehe lieber wieder. Ich wollte mich eigentlich mit Daniel unterhalten, aber nicht mit einem Baby. Bist du in so kurzer Zeit wieder ins Säuglingsalter zurückgefallen?“ meinte Samarin und wollte schon den Platz verlassen.
„Warte Samarin. Ich komme ja schon. Entschuldigt bitte beide, dass ich mich so aufgeführt habe“, sagte Daniel geknickt. Ciran und Samarin sahen sich kurz an und man konnte in ihren Augen lesen, dass es für ihren Freund vielleicht doch noch Hoffnung gab. Wie konnte sich ein Zwanzigjähriger nur so verhalten? Ciran verließ die beiden nun und ging zurück zu den Quartieren.
Daniel und Samarin unterhielten sich noch sehr lange und das Mädchen konnte den total verwirrten Mann endlich davon überzeugen, dass ihre Trennung das Einzig beste war. Es dämmerte schon, als die zwei sich schlafen legten. Samarin erzählte sofort ihrer Freundin Asyet alles. Das Mädchen war extra wach geblieben, um auf ihre Freundin zu warten.
„Samarin, wach bitte auf!“ rief eine Stimme.
Das Mädchen reckte den Kopf und sah Ajagu direkt in die Augen. Sie hatten einen seltsamen Glanz, einen traurigen vielleicht. Dadurch war Samarin gleich hellwach, auch Asyet war aufgestanden.
„Was hast du denn?“ fragte Samarin verstört.
„Du musst mitkommen. Jendara und ich haben jemanden gefunden“, sagte der Suki schwerfällig.
Samarin stand schnell auf und zog sich einen langen Mantel ihrer alten Reisekleidung über das Sukinachthemd. Die beiden jungen Leute liefen mit langen Schritten aus dem Haus.
„Nun sag doch endlich, was passiert ist“, wollte Samarin wissen.
„Wir haben ein Mädchen gefunden und sie sagt, dass sie deine Schwester sei. Aber dem Mädchen geht es sehr schlecht. Sie muss schon seit langem nichts gegessen und getrunken haben. Außerdem hat sie viele Schnittwunden am Körper“, erklärte Ajagu.
„Oh nein, ich habe ihr gleich gesagt, dass sie mit mir kommen soll. Ihr Leben ist doch nicht in Gefahr, oder?“
„Ich glaube nicht. Du musst Jendara fragen. Er weiß besser darüber Bescheid.“
„Ich werde zuerst Linga holen. Sie ist eine Argo-Heilerin. Sie hat Asmia schon einmal geholfen“, sagte Samarin und wirbelte herum in Richtung Gästehäuser.
„Soll ich warten?“ fragte der junge Suki.
„Ja, ich werde mich beeilen“, erwiderte die junge Frau noch.
Daniel lag in dem Sukihaus auf dem Boden und grübelte vor sich hin.
„Willst du dich nicht endlich in dein Bett legen?“ fragte sein Freund Ciran.
Der junge Mann gab ihm keine Antwort, sondern starrte nur noch mehr den Boden an.
„Daniel, du kannst nicht dein Leben deswegen wegwerfen. Samarin möchte nun einmal Abstand von dir und dann musst du das verstehen. Ihr beide werdet schon wieder miteinander klar kommen“, führte Ciran seinen Monolog fort.
„Halt doch den Mund! Du verstehst meine Schmerzen nicht. Ich leide und du quasselst mir die Ohren zu. Schlaf doch endlich und lass mich mit meinem Schmerz alleine“, keifte Daniel.
Ciran war nun entgültig genervt von seinem Freund und blies die Kerzen aus. Das Zimmer lag nun in völliger Dunkelheit. Bevor Ciran einschlief hörte er noch, wie Daniel sein Bett doch aufsuchte.
Samarin war an der Hütte von Linga, Pali und Binita angekommen. Sie klopfte heftig gegen die Tür.
„Wer ist denn da?“ kam leise die Stimme von Linga. Sie öffnete die Tür und zog sich dabei gerade einen Mantel über.
„Linga, du musst sofort mit kommen. Asmia ist aufgetaucht und ihr geht es sehr schlecht“, rief Samarin.
Linga kam ohne etwas zu sagen mit. Sie rannten zu Ajagu und dann zu der Wohnung von Jendara.
„Was ist mit ihr?“ fragte die Heilerin Jendara, als sie das Zimmer betrat.
Samarin und Ajagu waren auf Lingas Bitte draußen geblieben.
„Sie hat kaum noch Kraft in ihrem Körper. Du bist doch eine Argo-Heilerin, du musst ihr ja am besten helfen können“, antwortete er.
„Wir werden sehen, was ich machen kann“, versetzte Linga.
„Hoffentlich können sie meiner Schwester helfen“, flüsterte Samarin und lehnte sich an Ajagu. Die beiden hatten sich an einen Baum in der Nähe des Hauses gesetzt und der Suki versuchte das Mädchen zu trösten.
„Sie werden es schon schaffen. Mach dir nun nicht so viele Gedanken darüber“, meinte Ajagu.
„Du hast recht, damit kann ich Asmia auch nicht helfen. Ajagu, ich wollte dich schon lange etwas fragen. Linga hat einmal im Fieberwahn von euch Sukis gesprochen. Sie wollte auch nicht, dass wir das Anwesen von Sir Ivani anzünden, weil es ein Bauwerk von euch ist und dann hat sie immer wieder Lulika gerufen. Kennst du diesen Namen? Ich glaube nämlich, dass es eine Person war, die sie gerufen hat.“
„Du sagtest Lulika? Ich kenne den Namen sehr gut. Meine Cousine heißt so, aber woher sollte Linga sie kennen? In unseren Familien dürfen Namen nur einmal vergeben werden, also kann es nur meine Cousine sein, denn niemand sonst trägt ihren Namen noch.“
„Das ist wirklich seltsam. Lebt deine Cousine auch hier in der Stadt?“
„Ja, sie wohnt ganz am Ende von Dunikani. Sollen wir zu ihr gehen und du fragst sie selbst danach?“
„Meinst du jetzt gleich? Aber sie schläft doch bestimmt noch“, fragte das Mädchen überrascht.
„Nein, sie dürfte schon wach sein. Es ist bald sieben Uhr, länger schlafen wir Sukis eigentlich nicht.“
„Gut dann gehen wir“, versetzte Samarin und zog Ajagu mit sich nach oben.
„Habt Ihr schon eine Idee, wie wir dem Mädchen helfen können? Ich glaube nicht, dass die Wickel viel Heilung verschaffen“, fragte Jendara bei Linga nach, die gerade einige Umschläge für Asmielles Wunden vorbereitete.
„Vertraut auf mich, ich weiß am besten, was einem Argo hilft. Asmia wird es morgen schon wieder blendend gehen. Sie ist nicht wie ein Mensch und daher kann ich ihr sehr schnell helfen. Ich möchte Euch nun bitten zu gehen, denn ich werde meine Kraft nun auf ihren Körper übertragen und dabei bin ich lieber alleine mit ihr“, meinte die Heilerin.
„Wie Ihr möchtet, Argo-Frau“, verabschiedete sich der Suki und verließ in seiner leisen Art das Haus.
„Wie weit ist es denn noch? Wir haben schon euren Palast hinter uns. Ist eure Stadt denn so riesig?“ wollte Samarin wissen. Sie war schon ganz erschöpft, denn sie hatte nicht viel geschlafen. Ajagu zog sie hinter sich her und zeigte keine Anzeichen von Müdigkeit.
„Seid ihr Menschen denn so schwach? Wir sind noch nicht einmal viel gelaufen, aber wir sind gleich da. Unsere Stadt ist nun einmal nicht so klein. Wir haben nicht viele Häuser, aber sind weit von einander entfernt. Eure Hauptstädte sind doch sehr groß, bist du dann nicht daran gewöhnt?“ erwiderte der Suki.
„Ich habe bis jetzt sehr wenige große Städte gesehen. Ich hätte nicht gedacht, dass in einem Wald eine so riesige Stadt sein kann.“
„Man sollte sich nicht von Vermutungen täuschen lassen, kleiner Engel.“
„Ajagu, bitte nenne mich nicht so! Ich mag es nicht, wenn man mich dauernd daran erinnert, dass ich ein Engel bin. Ich will einfach ich sein und nicht ein Wesen, das mir so fremd ist. In meinem Inneren bin ich immer noch ein Mensch. Die Argos sind mir genauso fremd wie die Engel. Ich verstehe immer noch nicht, wie ich so viel in einem sein kann.“
Warum so viel in einem, das verstehe ich nicht?“
„Ich bin von der Geburt her eine Argo, also eine halber Mensch und ein halber Argochont. Nun bin ich aber auch noch ein verborgener Engel, wie soll das ein einziges Wesen nur verstehen?“
„Du sprichst sehr kompliziert. Sei doch froh, nicht eine von vielen zu sein. Ich bin einfach nur ein Suki unter vielen. Na ja, ich habe noch eine etwas höhere Stellung. Zum Teil verstehe ich dich aber, denn ich werde auch nicht gerne daran erinnert, dass ich ein Prinz bin. Manchmal wäre ich sehr froh, ein einfacher Bürger dieser Stadt zu sein.“
„Genau dasselbe wünsche ich mir auch. Also behandeln wir uns doch auch so und sehen von unseren Eigenarten ab, in Ordnung?“
„Einverstanden“, sagte Ajagu und die beiden gaben sich die Hand zum Versprechen.
Samarin und Ajagu liefen noch ein Stück und standen nun vor einem Gebäude, das nur aus Glas bestand und durch gelbe Vorhänge von der Außenwelt abgeschirmt war.
„Das ist das Haus meiner Cousine. Ich hoffe, dass sie da ist. Du musst wissen, dass sie sich sehr von meiner Familie abschirmt. Sie lebt wie eine Einsiedlerin und möchte mit niemandem Kontakt haben. Sie hält sich auch sehr oft alleine im Wald auf. Keiner von uns weiß, was sie dort eigentlich tut. Ich darf sie aber besuchen, ich bin der Einzige, den sie sehen möchte. Sie meint, dass ich noch normal in unserer Familie wäre“, erklärte der junge Suki und klopfte dabei an die gläserne Tür.
Etwas huschte am Vorhang der Tür vorbei und dann sah man für einen Augenblick einen Kopf hinausblicken.
„Lulika, ich bin es, dein Cousin Ajagu. Würdest du bitte die Tür öffnen? Ich habe noch eine Freundin mitgebracht und wir möchten gerne mit dir sprechen“, rief Samarins Begleiter, als sich nach einer Weile die Tür immer noch nicht geöffnet hatte.
„Ich bin ja schon da. Ich werde mir wohl noch etwas anziehen dürfen, bevor ich öffne. Ich kann ja nicht in meinen Hauskleidern deiner Freundin gegenübertreten. Ich habe euch schon erwartet und mich gewundert, dass ihr jetzt erst kommt“, begrüßte Lulika ihre Gäste. Die junge Sukifrau hatte sich in orange und gelbe Tücher gehüllt. Anscheinend waren die Sonnenfarben ihre Lieblingsfarben, denn als Samarin in das Innere des Hauses kam, leuchtete alles in diesen Farbtönen. Es sah aus, als würde die Sonne selbst in diesem Gebäude leben.
„Du bist also Samarin. Kommt, setzen wir uns doch in meinen Salon“, meinte die Frau. Sie mochte ungefähr im Alter von Jendara sein, vielleicht auch etwas älter. Lulika führte die beiden in einen Raum, der ebenfalls in gelb leuchtete, aber als Kontrast lagen noch einige blaue und schwarze Teppiche auf dem Boden. Als Sitzgelegenheiten dienten viele Kissen in Regenbogenfarben auf dem Boden und als Tisch ein großer Baumstumpf. Lulika hatte Gläser und eine Kanne mit Tinua bereitgestellt. Tinua war ein beliebtes Getränk bei den Sukis. Es bestand aus Waldhonig, Nussmehl, Vogeleiern und warmer Schokolade. Samarin fand es etwas zu süß, aber man konnte es trinken. Es hatte eine wärmende Wirkung und war besonders bei den Sukikindern beliebt.
„Setzt euch und erzählt mir von eurem Problem“, versetzte Lulika und nahm, nachdem sich Ajagu und Samarin gesetzt hatten, ebenfalls Platz.
„Also eine Freundin von mir hat im Fieberwahn Euren Namen gerufen und gesagt, dass wir eines eurer alten Häuser nicht zerstören dürften, da wir sonst alle sterben werden“, erklärte Samarin.
„Wie lautet der Name deiner Freundin?“ fragte die Cousine von Ajagu nach.
„Sie heißt Linga.“
„Linga? Sie ist hier in der Stadt? Ich muss sie sehen! Wir sind alte Freunde. Ich traf sie, als sie im Wald in der Nähe von Hujikana nach Heilkräutern suchte. Ich hatte mich weit ins Land der Menschen vorgewagt und war ihr eigentlich aus Unvorsichtigkeit begegnet. Ich freue mich wirklich sehr, dass sie hier ist. Was die Sache mit unseren Bauten betrifft hat sie recht. Hättet ihr das Anwesen von Sir Ivani zerstört, dann würdet ihr nun nicht mehr leben. Unsere Vorfahren haben auf alle unsere Häuser so etwas wie einen Schutzzauber gelegt. Ihr wäret in den Flammen gestorben, sie hätten aber dem Gebäude nichts angetan. Jeder hätte geglaubt, dass ihr verschwunden seid, aber niemand würde denken, dass ihr verbrannt wäret. Ich kenne mich mit diesen Schutzzaubern nicht sehr gut aus, aber so viel weiß ich davon.“
„Woher wisst Ihr, dass es das Haus von Sir Ivani war?“ fragte Samarin verwirrt über das Wissen von Lulika.
„Du bist nicht sehr gut im Verbergen deiner Gedanken, Argomädchen. Ich habe sie gleich lesen können. Du bist für Fachkundige ein offenes Buch. Ich sollte dir einiges beibringen, dass kann nämlich öfters gefährlich werden. Ich bin dir wohlgesonnen, aber ein Feind könnte genauso einfach in deine Gedanken eindringen, wie ich. Hat dir denn niemand beigebracht, wie man seine Gedanken verschließt?“
„Nein, ich bin bei Menschen aufgewachsen und habe erst vor kurzem erfahren, dass ich eine Argo bin. Könntet Ihr mir wirklich beibringen, wie man seine Gedanken abschottet?“
„Ja, dass kann ich. Du wirst ja noch etwas bei uns bleiben. Deine Krankheit braucht nämlich noch Zeit zum Ausheilen. Wann werden deine Freunde gehen?“ fragte die Frau nach.
„Sie werden in etwa einer Woche aufbrechen und ich werde noch zwei Monate hier bleiben“, beantwortete Samarin bereitwillig die Frage.
„Zwei Monate sind gut; bis dahin werde ich dir alle Grundkenntnisse beibringen können. Wo ist nun eigentlich Linga?“
„Sie kümmert sich um meine Schwester.“
„Deine Schwester ist also wieder da. Ich habe in deinen Gedanken keine Spur von Freude entdeckt, warum nicht?“
„Ich habe keine Gefühle für meine Schwester. Ich möchte sie gerne lieben, aber sie weißt mich ab und nun kann ich nicht mehr. Ich kann für sie einfach keine Gefühle mehr aufbringen, nicht nachdem sie so kalt zu mir war.“
„Das sind keine schönen Worte. Es ist deine Sache, ich kann nicht helfen und darf mich auch nicht einmischen. Aber ich habe eine andere Bitte, sie mag dir seltsam erscheinen aber erfülle sie ohne nachzufragen. Sende deiner Freundin Mariet einen Vogel und übermittle ihr, dass sie sich sofort auf den Weg zu dir machen soll. Deine Freunde sind in Forgus nicht mehr sicher. Gehen wir nun zu Linga!“ sagte Lulika und stand auf.
Samarin sah die junge Suka verstört an, versprach ihr aber, so schnell wie möglich ihrer Freundin zu schreiben.
„Wo ist nur mein Sohn?“ jammerte die Königin von Schamanah.
„Liebste, wir werden ihn noch finden. Er kann nicht verschwunden sein, irgendwo wird er wieder auftauchen“, tröstete der König seine Frau.
„Aber unsere Reiter haben überall nach ihm gesucht und auch nach den vier anderen. Ich kann nicht verstehen, warum Pali uns verlassen hat. Er hat es hier doch so gut.“
„Vielleicht hat er es zu gut gehabt, Euer Hoheit. Ich glaube, dass er etwas Freiheit gebraucht hat. Euer Sohn wir zurück kommen, aber nicht, wenn Ihr in einfangen lasst, wie ein Tier“, erläuterte der Priester Jikika. Er war gerade erst in den Thronsaal getreten und stand nun vor der Königin.
„Er muss aber schnellstens zurück. In einem Jahr muss er doch heiraten und er hat immer noch keine Auserwählte, geschweige denn eine Braut. Wie soll denn das alles in dieser kurzen Zeit noch geschehen?“ jammerte Dalakei weiter.
„Vielleicht bringt er eine Braut mit nach Hause, wenn er von seinem Abenteuer zurück kommt“, meinte der Priester.
„Warum sprecht Ihr von einem Abenteuer? Wisst Ihr vielleicht sogar, wo mein Sohn ist?“
„Ich weiß es nicht genau und ich bin nicht befugt Euch etwas darüber zu sagen. Ich hatte mich mit Samarin Somaril unterhalten und so einiges erfahren, aber sie sagte mir, dass ich stillschweigen muss über diese Sache. Ich werde Euch sobald ich kann mehr darüber sagen, aber erst muss ich mich mit dem Mädchen noch in Verbindung setzen und das hat bis jetzt nicht funktioniert“, sprach Jikika.
„Ich bitte Euch Jikika, Ihr müsst mir Auskunft geben. Ich bin die Königin und verlange es von Euch!“ versetzte die Frau, die auf ihrem großen goldenen Thron saß.
„Ihr werdet so schnell wie möglich Auskunft bekommen, aber nicht jetzt. Ich werde mich nun zurückziehen und an meinen Studien weiterarbeiten“, sagte Jikika und verbeugte sich kurz. Dann war er auch schon durch den Vorhang verschwunden.
„Jikika, kommt zurück! Ich befehle Euch zurück zu kommen!“ schrie Dalakei hinterher.
„Gemahlin, lasst das Schreien. Er kann uns nun einmal nichts sagen und nun lasst uns zu Bett gehen. Es ist schon sehr spät und wir wollen doch morgen zu meinem Bruder Iva fahren. Du wirst in der Kutsche wohl kaum schlafen können“, meinte der König und half seiner Frau aus ihrem Sitz. So gingen die beiden in ihr Schlafgemach.
Mariet spielte mit der Spange, die ihr Samarin geschenkt hatte. Ihr liefen die Tränen über das Gesicht, als sie an ihre Freundin dachte. Wo mochte sie nur sein? Mariet wartete schon seit Monaten auf eine Nachricht von ihr. Sie lief gerade durch die verwilderten Gärten des Gasthauses. Marigus war ein netter Mann und auch sein Frau Zirta war sehr freundlich, doch vom Gartenbau verstanden beide nichts. Wie vermisste Mariet die gepflegten Gärten des Guts auf dem sie aufgewachsen war. Sie sehnte sich so nach ihrer Heimat, nach ihren Eltern und nach dem Leben von früher. Warum hatte sich die Welt nur so verändert?
Ein Mädchen kam auf Mariet zugelaufen, es war Sylathi ihre Cousine. Sie hatte sich in den Monaten, die sie nun hier waren, sehr verändert. Aus dem kleinen Mädchen war eine junge Frau geworden, der die Männer hinterher sahen. Marigus hatte sie nicht im Keller versteckt, wie er zu Anfang gemeint hatte, sondern Sylathi und Tamir für seine Nichte und seinen Neffen ausgegeben. Mariet und Anel waren die Kinder der Schwester seiner Frau. Sie war gestorben und so konnte man gut sagen, dass man die beiden deswegen aufgenommen hatte. Das Leben war erträglich, aber nicht sehr leicht. Marigus hatte ihnen auch andere Namen gegeben. Sylathi hieß Dara und Tamir wurde Lasko genannt. Mariet bekam den Namen Tiara und Anel hieß Hoki.
„Tiara, du musst kommen!“ rief Sylathi ihr zu. Es war seltsam den fremden Namen aus dem Mund ihrer Cousine zu hören. Zuerst fühlte sich das Mädchen gar nicht angesprochen, drehte sich dann aber doch um.
„Was hast du denn?“ fragte Mariet.
„Uns ist ein Vogel zugeflogen. Er hatte zwei Zettel an seinen Füßen und auf beiden steht dein Name. Es steht aber kein Absender darauf. Kommst du nun?“
„Ja ich komme“, meinte Mariet und hoffte, dass es Nachrichten von Samarin waren.
„Da seid ihr beiden ja endlich. Ich war gerade beim Kochen, als mir der kleine Vogel direkt auf den Tisch geflogen ist. Hier sind die beiden Zettel“, sagte Zirta und übergab Mariet die Papierstreifen.
„Ich werde in meine Kammer gehen und sie lesen“, erwiderte das Mädchen und verschwand schnell.
Sie ging die wenigen Stufen zu ihrem Zimmer nach oben und setzte sich auf ihr Bett. Mariet faltete das eine Papier auseinander und erkannte die klare Schrift von Samarin. Ihr liefen Tränen der Freude über das Gesicht und sie konnte kaum lesen:
Liebe Freundin,
ich schreibe Dir nun nach langer Zeit. Entschuldige, dass ich mich nicht früher gemeldet habe, aber meine Zeit für Privates ist sehr knapp. In der letzten Zeit ist so viel passiert, dass ich gar nicht alles schreiben kann. Ich wohne mit Daniel, Asyet, Ciran, Pali, Linga, Asmia und Binita in einer Sukistadt. Hast Du schon von den Sukis gehört?
Nun ich erkläre wohl erst einmal, wer Pali, Linga, Asmia und Binita sind. Pali ist der Prinz des Landes Schamanah. Wir trafen ihn im Schloss und er hat sich uns überraschenderweise angeschlossen. Linga ist eine Heilerin aus Hujikana, eine Stadt in Schamanah. Asmia ist meine Schwester, ja Du liest richtig. Ich habe eine Schwester hier und stamme ursprünglich aus diesem Land. Eigentlich bin ich auch kein richtiger Mensch. Ich bin eine Argo, das ist ein Wesen, das halb Mensch und halb Argochont ist. Ich werde Dir später genauer darüber berichten. Nun Binita ist ein kleines Mädchen, das wir im Wald gefunden haben. Wir wissen nicht, wo sie her ist und werden sie wohl bei uns behalten.
Ich weiß gar nicht, was ich alles schreiben soll. Es ist so viel geschehen und das kann man fast nicht auf Papier bringen, man muss es erzählen.
Nun, ich bin nicht mehr mit Daniel zusammen. Er hat mich so sehr eingeengt und ich dachte ich ersticke noch. Ich habe hier in Dunikani (bedeutet blühende Verbannungsstadt) einen jungen Suki kennen gelernt, er heißt Ajagu. Ich habe mich ein wenig in ihn verliebt und er sich auch ein wenig in mich. Wir verbringen viel Zeit miteinander und ich werde auch noch einige Zeit hier bleiben müssen, da ich meine Krankheit auskurieren muss. Ich bin nämlich ein verborgener Engel geworden, dass kann ich selbst noch nicht richtig begreifen, aber es ist wahr. Engel Leiden immer an einer Krankheit, wenn sie nicht von den Sukis behandelt werden. Jendara, der Bruder von Ajagu, hilft mir. Die anderen werden schon in ein paar Tagen aufbrechen und zu den nächsten Städten reisen. Ich werde ihnen später folgen. Nun muss ich schon wieder eine Freundin verlassen. Asyet ist schon total fertig deswegen. Ich werde nun den Brief beenden, da das Blatt nicht länger ist.
Mariet, ich vermisse Dich so sehr. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.
Bis bald deine Freundin Samarin
Mariet war so froh über diesen Brief, aber er verwirrte sie auch. Was Samarin da alles schrieb konnte sie nicht verstehen. Sie faltete den Zettel zusammen und öffnete das nächste Papier:
Komm zu mir! Mariet, Du musst zu mir nach Dunikani kommen. Ihr seid in Forgus nicht mehr sicher. Sagt Marigus, dass ich euch brauche und ihr zu mir kommen müsst. Er soll euch Proviant geben und dann befolgt genau meine Anweisungen, die ich euch nun geben werde:
Ihr müsst als erstes nach Königsrial, dort werdet ihr an den Landungsstegen aus Schamanah nach einem Fährmann namens Sodifol suchen, sein Gehilfe heißt Mostria, Sagt ihnen, dass ich euch schicke und sie werden euch mit nach Schamanah nehmen. Dort reist ihr als erstes nach Darina. Von Darina aus geht es nach Hujikana. Sucht dort Tinga und Gustrael, sie haben einen Heilerladen. Geht nun von Hujikana auf der Landstraße zum Gut von Sir Ivani. Bittet um Einlass und sagt, dass ihr für kurze Zeit Arbeit in der Küche sucht. Dort werdet ihr Michael und Kira treffen. Bittet sie euch auf die Lichtung im Wald zu bringen. Michael hat auch uns dort hingebracht. Ich werde in zwei Monaten genau an dieser Stelle eine Woche lang auf euch warten. Ich hoffe, dass ihr es schafft und freue mich auf unser Wiedersehen. Nun packt und geht noch heute Nacht fort aus Forgus.
Ich wünsche euch alles Gute. Deine Samarin
Was sollte das nun? Samarin musste die beiden Briefe in unterschiedlicher Zeit verfasst haben. Sollten sie wirklich gehen? Warum waren sie hier nicht mehr sicher? Mariet musste ihrer Freundin vertrauen. Also mussten sie von hier fortgehen.
Ajagu, Samarin und Lulika waren bei Jendaras Wohnung angekommen und Ajagu klopfte nun an die Tür.
Linga kam verschwitzt und müde aus dem Haus. Ihre Augen waren blutunterlaufen. Doch als sie Lulika sah, wurde ihr Aussehen auf einmal strahlend wie zuvor.
„Geliebte Freundin. Du bist wirklich noch hier“, rief Linga und fiel Ajagus Cousine um den Hals.
„Ich freue mich sehr dich wiederzusehen, kleine Linga. Du bist erwachsen geworden, wie ich sehe“, erwiderte die junge Suka.
„Es ist ja auch schon eine Weile her seitdem wir uns gesehen haben. Ich war gerade erst nach Hujikana gekommen und nun lebe ich schon seit über zehn Jahren dort.“
„Hast du etwas Zeit für eine Plauderstunde?“
„Ja gerne. Asmia geht es wieder gut und ich bin froh, dass ich mich etwas ausruhen kann“, sagte die Heilerin und schüttelte dabei ihre langen blonden Haare.
So gingen die beiden Arm in Arm davon und ließen Samarin und Ajagu zurück.
„Gehen wir nach meiner Schwester sehen?“ fragte das Mädchen nach einer Weile. Der Suki nickte und sie betraten das Gebäude.
Im Inneren lag Asmielle auf dem selben Bett auf dem auch Samarin an ihrem ersten Tag in Dunikani gelegen hatte. Sie war sehr bleich und vor allem war sie dünn geworden. Wie sollte die Argo die lange Reise bewältigen, die die Freunde bald antraten? Aber Samarin wusste, dass sich Argos schnell erholten und machte sich nicht zu viele Gedanken darüber.
„Zirga, Marigus! Gut, dass ihr beide hier seid. Ich muss euch eine Mitteilung machen. Wir werden noch heute Nacht von hier abreisen“, sagte Mariet mit kühler Stimme. Sie wollte die beiden Leute nicht verletzen, konnte aber nicht anders sprechen, weil sie sonst die Tränen nicht hätte zurück halten können. Ihr fiel es schwer Marigus und seine Frau zu verlassen, denn Mariet hatte sie sehr lieb gewonnen.
„Aber wieso denn Mädchen?“ fragte Zirga erschrocken.
„Meine Freundin Samarin hat mir eine Nachricht gebracht, durch den Vogel, wie ihr wisst. Sie hat geschrieben, dass wir hier nicht mehr sicher sind und sofort zu ihr kommen sollen.“
„Wieso seid ihr hier nicht mehr sicher?“ fragte Zirga weiter.
„Ich weiß es nicht, Samarin hat nichts darüber geschrieben, aber ich muss ihr glauben. Meine Freundin klang sehr verzweifelt und deswegen werden wir abreisen“, erklärte das Mädchen.
„Dann werde ich euch etwas zu Essen zubereiten. Geh und hole die anderen, damit ihr packen könnt“, flüsterte die Frau von Marigus und ihr liefen die Tränen über das Gesicht.
Mariet ging zu ihr und nahm sie in den Arm.
„Es tut mir so Leid, ich möchte ja selbst nicht gehen. Wir werden euch eine Nachricht senden, wenn wir können. Ich werde euch auch besuchen, wenn alles wieder in Ordnung ist“, wisperte Mariet der Frau ins Ohr.
Zirga nickte und machte sich nun daran Proviant zuzubereiten.
Mariet ging und holte ihren Bruder, ihre Cousine und ihren Cousin.
„Wir gehen wirklich zu Samarin?“ wollte Tamir aufgeregt wissen.
„Ja, wir gehen zu ihr. Aber bis wir dort sind steht noch eine lange und schwierige Reise vor uns“, antwortete die Tochter des Grafen von Santania. Die vier gingen nun in ihre Kammern und packten ihre Sachen zusammen. Es waren zum Glück nicht sehr viele.