Nell und ihr Zwillingsbruder Mustafa werden schlagartig aus ihrem bisher normalen Leben gerissen, als Nell von einem der fünf Juwelen im Rücken eines Buches ausgewählt wird. Auf der Knight Academy gerät sie dank ihres Nachnamens jedoch in Verdacht, zu den Rebellen zu gehören, und muss die Missgunst ihrer Mitschüler über sich ergehen lassen. Nur zwei Jungen stehen ihr bei, während ihr Bruder sich auf der anderen Seite der weißen Mauer bei den Rebellen befindet...
Irgendwann zwischenzeitig musste ich wohl tatsächlich eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal bewusst meine Umgebung betrachtete, hatte ich keine Ahnung mehr, wo wir waren. Um uns herum befand sich ein dichter Wald mit dick belaubten Bäumen und wir ritten gerade über eine Art Trampelpfad, auf dem es bereits ein Kleintransporter ziemlich schwer gehabt hätte. Außerdem musste ich feststellen, dass es mittlerweile Morgen war. Die Sonne stand östlich von uns und ihre Strahlen vermochten zwar nicht vollkommen das dichte Blätterdach der Bäume zu durchdringen, doch gerade im seichten Wind war auf dem Weg ein geheimnisvolles Schattenspiel zu beobachten.
Als ich die warmen Strahlen teilweise auch auf meiner Haut spürte, fühlte ich mich gleich sonderbar wohl und ausgeschlafen. Fast als würde die Sonne mich direkt mit Energie versorgen und mich wie einen Akku aufladen. Es war ein angenehmes Gefühl, richtig erfrischend, auch wenn meine Glieder sich etwas steif anfühlten. Von daher streckte ich mich erstmal ausgiebig und versuchte vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken. Mann hatte ich gut geschlafen.
„Na, aufgewacht, Dornröschen?“, erklang direkt neben meinem Ohr die neckische Stimme meines Bruders und ich zuckte überrascht zusammen.
Ou Backe, ich hatte ganz vergessen, dass Mustafa dank meinem netten Nickerchen die ganze Nacht hatte durchmachen müssen. Augenblicklich machte sich das schlechte Gewissen in mir breit.
„Wie schön“, stellte Muu dann in so richtig schön provozierendem Tonfall fest, „Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, dich schlafend auf dem Pferd zu halten, wenn du in irgendwelchen wilden Träumen um dich schlägst? Raikun hast du auch ein paarmal ziemlich unsanft getreten und ich musste ihn förmlich anflehen, dich nicht abzuwerfen.“
„Gar nicht wahr, ich schlaf immer ganz ruhig“, erwiderte ich ein wenig beleidigt und vergaß meine Schuldgefühle gleich wieder. Dann beugte ich mich aber ein Stück nach vorne und tätschelte dem Wallach den Hals. „Aber für den Fall, dass ich dir doch wehgetan haben sollte, entschuldige ich mich hiermit aufrichtig. Verzeihst du mir?“
Die Ohren des Pferdes drehten sich mir zu und er schnaubte kurz leise, was ich als ‚angenommen‘ interpretierte.
„Und was ist mit mir?“, fragte mein verehrtes Brüderchen vorwurfsvoll.
„Du bist ein Mann, das musst du abkönnen“, gab ich unbeeindruckt zurück, „Außerdem hab ich dir doch gesagt, dass ich einen ruhigen Schlaf habe.“
„Davon hab ich nicht viel mitbekommen.“
„Blödmann.“
„Wie bitte? Du nennst deinen großen Bruder einen Blödmann? Was fällt dir ein, törichtes Weib?!“
„Aus welchem Theaterstück hast du das denn geklaut?“
„Verrate ich nicht.“ Er schmunzelte.
„Ich glaub, ich übergeb mich gleich“, murmelte unser allseits beliebter Damon, der eine Pferdelänge vor uns auf Buster saß und sich unser geschwisterliches Gekappel bisher schweigend angehört hatte. Selbstverständlich konnte er nicht einfach weiter seine unfreundliche Klappe halten und musste die schön entspannte Stimmung versauen. Was für ein Miesepeter. Wenn ich eines in dieser neuen Geschichte, durch die ich gerade noch reichlich verwirrt stolperte, wusste, dann dass ich diesen Typen absolut nicht leiden konnte.
„Aber bitte geh dafür in die Büsche“, konterte Mustafa jedoch kühn und völlig ungerührt. Manchmal würde ich ihn echt am liebsten küssen. Genauso oft wie ich ihm für seine eigenen, dämlichen Kommentare den Hals umdrehen würde.
„Pass auf, dass du nicht gleich-“ Damon – alias Dämon, wie ich ihn insgeheim zu nennen begann – stockte abrupt und sein auch im Tageslicht vollkommen nachtschwarzer Buster blieb im selben Augenblick stehen. Das Pferd hob witternd den Kopf und seine Ohren zuckten, genau wie auch Damon plötzlich todernst wirkte und sich mit misstrauischem Blick umsah.
Raikun hatte ebenfalls angehalten und Mustafa und ich blickten unwillkürlich ebenfalls umher, aber zumindest ich konnte beim besten Willen nichts entdecken. Wir standen etwa eine volle Minute lang so unbeweglich auf dem Waldweg, dann konnte ich selbst von hier aus erkennen, wie Damons Augen schmal wurden. Ohne dass er etwas tat ging Buster langsam rückwärts, bis er schließlich direkt neben uns stand.
Mit dem Blick immer noch auf den Wald um uns gerichtet, wühlte unser Führer kurz in der Satteltasche seines Pferdes und zog dann auf einmal das schwarze Buch mit den silbernen Verzierungen heraus, das er gestern Abend – oder besser heute Morgen um eins rum etwa – eingesteckt hatte.
„Pass gut darauf auf und lass es auf keinen Fall los, Mädchen“, sagte er ernst und hielt uns das Buch hin. Nur kurz wandte er den Blick von dem Wald ab und sah uns an, wobei er jedoch für einen Sekundenbruchteil in offensichtlicher Irritation die Stirn runzelte. Vermutlich, da ihm gerade aufgefallen war, dass Mustafa sein Zopfgummi abhandengekommen war und wir uns nun mit den offenen Haaren wie Spiegelbilder glichen. Sehr wahrscheinlich war er nicht mehr in der Lage, uns auseinander zu halten – eine gewisse Schadenfreude nistete sich bei mir ein. Geschah ihm nur recht.
Dann hörte ich einen Ast knacken und Damon drückte Muu das Buch in die Hand. „Reitet einfach weiter den Pfad entlang. Es gibt genau zwei Gabelungen, beide Male nehmt ihr den rechten Weg. Am Ende befindet sich das Hauptgebäude der Akademie, dort seid ihr sicher.“
„Hä?“ Ich sah ihn irritiert an, wobei mich jedoch allmählich das Gefühl beschlich, dass wir beobachtet wurden. „Wovon redest du?“
„Das Buch mit den Juwelen gehört uns!!“, schrie in dem Moment jedoch eine Stimme und plötzlich tauchten überall um uns herum Leute auf. Von einem zum nächsten Moment sprangen sie wie Beute jagende Füchse aus den umliegenden, dichten Büschen, schossen wie Falken im Sturzflug von den Bäumen und innerhalb von weniger als drei Sekunden waren wir völlig umzingelt. Wie drei arme Rehe, die von einem Rudel Wölfe in die Enge getrieben worden waren.
„Reitet!“, rief Damon in dem Moment und gab Raikun einen heftigen Klapps auf sein Hinterteil, woraufhin der Wallach erschrocken losgaloppierte. Einige der für mich relativ jung aussehenden Männer und Frauen in eigentlich recht normal aussehender Kleidung mussten überrascht zur Seite springen, aber so weit ich sehen konnte, gab es keine Verletzten.
Während Mustafa versuchte, die Kontrolle über das erschrockene Tier zurückzugewinnen, das Buch hatte er zwischen uns beide geklemmt, reckte ich den Hals und blickte über seine Schulter. Dort hatten die Leute Damon und seinen Buster mittlerweile umzingelt und – wie ich entsetzt feststellte – hielten altertümliche Waffen in den Händen. Allerdings hielt auch der Junge in dem Augenblick zwei lange Dolche in den Händen, von denen ich einen schon von vor ein paar Stunden kannte, als er noch uns damit bedroht hatte. Was sollte denn der Schwachsinn?
Gerade als ich wieder nach vorne blickte, tauchten urplötzlich zwei Männer vor uns auf dem Weg auf und Raikun legte erschrocken eine Vollbremsung hin und stieg dann mit lautem Wiehern auf die Hinterbeine. Die Überraschung kam zu plötzlich, als dass Mustafa und ich uns noch irgendwie festhalten konnten, und so purzelten wir beide hinten von dem Pferd runter. Unsanft landeten wir auf dem sandigen Weg mit gelegentlichen Grasbüscheln und Unkraut dazwischen.
Ich schrammte mir bei der Landung den linken Oberarm auf und da ich voll auf dem Rücken gelandet war, blieb mir die Luft weg. Kurz wurde ich panisch, doch als ich wild nach Luft schnappte und nach etwa zwei Sekunden der Sauerstoff wie gewohnt in meine Lungen strömte, ebbte die Panik wieder ab. Allerdings brauchte ich noch zusätzliche drei Sekunden, bis ich es schaffte meine von dem Aufprall noch benommenen Glieder zum Bewegen zu zwingen.
In der Zwischenzeit waren die beiden Männer von eben bereits neben uns. Beide hatten kurze Haare und durch die etwas verdreckten Tops waren gut trainierte Armmuskeln zu sehen, genau wie auch knallharte Bauchmuskeln zu erahnen waren. Bevor ich mehr erkennen konnte, hatte der eine bereits Mustafa gepackt und rang mit diesem um das Buch.
„Muu!“, rief ich und wollte mich aufrappeln, doch da hatte mich der andere Mann bereits an den Armen gepackt und zerrte mich unsanft auf die Füße. Er nahm mich in den Schwitzkasten und hielt mich grob fest, woraufhin die Panik in mir hochstieg. Augenblicklich ging ein Pochen durch das Juwel und der Mann flog mit einem überraschten Schrei nach hinten gegen einen der Baumstämme, wo er belämmert liegen blieb.
Lange schenkte ich ihm meinen Blick nicht und sah stattdessen wieder zu Mustafa, der jedoch immer noch mit dem anderen Mann am Ringen war. Als Muu bemerkte, wie ich unsicher ein Stück neben ihm stand, schob er den Angreifer mit einer Hand so weit wie möglich von sich weg und entriss dem Kerl mit der anderen das Buch, das dieser gerade zu fassen bekommen hatte.
„Nimm es!“, rief mein Bruder und warf den Wälzer einfach blindlings in meine Richtung, bevor er den Mann packte und den Spieß nun so rum drehte, dass er oben war und ihn am Aufstehen hindern konnte.
Das Buch war direkt vor meinen Füßen gelandet und mit leicht zitternden Händen hob ich es auf. Ich wollte meinem Bruder zur Hilfe kommen, hatte aber keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte – ich hatte noch nie in meinem Leben gekämpft! Alles, wozu ich in der Lage war, war hilflos daneben zu stehen. Außerdem bemerkte ich, dass nun noch ein paar mehr von diesen unbekannten Leuten in unsere Richtung unterwegs waren, während die restlichen hinten dabei waren, Damon zu beschäftigen.
„Lauf!“, rief Mustafa mir zu, ehe er eine satte Backpfeife kassierte und nach einer kurzen Drehung des anderen wieder unten lag.
Hektisch blickte ich zwischen den beiden und den immer näher kommenden Angreifern hin und her und versuchte mein auf Überlebensinstinkt umgeschaltetes Gehirn wieder zum Nachdenken zu zwingen. Was sollte ich tun? Wie konnte ich meinen Bruder da befreien, bevor die anderen uns erwischten?
Mir stand der Schweiß auf der Stirn und die aufgeschürften Stellen von dem Sturz brannten, aber von beidem merkte ich nicht viel. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander als wütete ein Tornado durch meinen Schädel. Mir wollte jedoch einfach kein Einfall kommen, es war als hätte jemand auf einmal einen Korken auf das Glas mit meinen sonst immer so zahlreichen Ideen gesetzt. Das war doch wie verhext!
Jetzt hatten sie uns fast erreicht und wie von fern drangen ihre Rufe wie „Bleib stehen!“ und „Ergebt euch!“ an meine Ohren. Ich starrte einzig Mustafa an. Vor Angst, was mit uns passieren würde, war ich wie gelähmt. Mein Bruder hatte schon zahlreiche Schläge und Tritte einstecken müssen, war aber tapfer darum bemüht den Typen in Schach zu halten – damit ich fliehen konnte. Aber ich konnte und wollte ihn nicht zurücklassen!
Dann hörte ich plötzlich das Donnern von Hufen und sah die schwarze Nacht heranbrausen, auf ihr ein düsterer Schatten mit verbissenem Gesichtsausdruck.
„Nimm sie mit!“, brüllte Mustafa in dem Moment und verpasste dem Kerl über sich einen Hieb in den Magen, „Bring sie weg von hier!“
Die Leute sprangen fluchend zur Seite, denn im Gegensatz zu Raikun, der am Wegrand stand, schien Buster genau zu wissen, dass er stärker war als die Männer und paar Frauen, die sich ihm in den Weg stellten und dann doch in letzter Sekunde lieber zur Seite hechteten, als sich von seinen Hufen zermalmen zu lassen. Im nächsten Augenblick war er schon da und während ich meinen Bruder noch entgeistert anstarrte, wurde ich aus vollem Galopp mit eisernem Griff gepackt und auf Buster gezogen.
„MUUUUU!“, schrie ich, als ich bäuchlings vor dem Sattel auf dem Hengst lag und eine Hand mich unerbittlich auf den Halsansatz des Pferdes drückte, damit ich in meiner Querlage nicht verrutschte. Mit der einen Hand umklammerte ich immer noch das Buch, das irgendwie – wahrscheinlich wegen der Juwelen – so wichtig zu sein schien, und versuchte mich mit der anderen abzustützen, damit ich nach hinten sehen konnte. Nach hinten zu meinem Bruder, den wir drauf und dran waren zurückzulassen! Diese Leute waren gerade dabei ihn zu umzingeln, zwischen ihnen konnte ich ihn gar nicht mehr erkennen, so schnell entfernten wir uns von ihm. „MUUUU! NEIN!“
Vehementer versuchte ich mich an der Schulter des Pferdes abzustützen, doch mitten im Galopp war diese ständig in Bewegung und es war praktisch unmöglich, Halt zu finden. Irgendwie gelang es mir jedoch trotzdem und daran, dass es mir im Augenblick egal war, ob ich dem Tier wehtat oder nicht, konnte man den Ernst meines psychischen Zustandes erkennen.
„HALT AN!“, brüllte ich den Jungen im Sattel an, „Halt an! Wir müssen zurück! Wir müssen Muu helfen!“
„Das geht nicht!“, erwiderte Damon, der aufgebracht und zugleich aber auch irgendwie frustriert klang, wofür ich im Moment jedoch kein Ohr hatte, „Sie wollen die Juwelen und nur zu dritt kommen wir nicht gegen sie an! Wir würden das Buch verlieren und das kann ich nicht zulassen!“
„Und was ist bitteschön mit meinem Bruder?!“, schrie ich ihn mit Tränen der Wut in den Augen an, „Willst du ihn einfach zurücklassen?!“
„Ich habe keine Wahl!“, rief er, „Es ist nicht mehr allzu weit bis zur Akademie, dort kann ich die anderen bitten, mit mir zurückzureiten und nach ihm zu suchen.“
„Und was, wenn er bis dahin tot ist?!“ Ich konnte es nicht fassen. Dieser Unmensch wollte meinen Bruder nur wegen dieser dämlichen Juwelen einfach im Stich lassen! Das konnte doch nicht wahr sein!
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Damon und blickte kurz über seine Schulter, „Wenn sie merken, dass er keines der Juwelen hat, werden sie ihn mit Glück laufen lassen. In den letzten Jahren hat es in diesem Gerangel um die Juwelen keine Toten gegeben und ich gehe einfach mal davon aus, dass sie auch deinen Bruder nicht mehr als leicht verletzen werden.“
„Wir müssen ihn da rausholen!“, beharrte ich und schlug in der Verzweiflung mit dem Buch nach Damon, „Kehr auf der Stelle um!“
„Das kann ich nicht!“
„KEHR UM!“
„Nein verdammt!“, schrie er zurück und entriss mir das Buch, das ich ihm bei jedem Wort gegen den Arm und Brust geschlagen hatte, „Beruhig dich endlich!“
„Werde ich bestimmt nicht!“, keifte ich wutentbrannt zurück und schaffte es mit Mühe und Not mich gegen seine Hand auf meinem Rücken aufzustemmen, „Lass mich los, du verdammter Dämon!“
„Mit Sicherheit nicht!“ Nachdem er das Buch kurz wieder in der Satteltasche verstaut hatte, versuchte er mich mit einer Hand wieder runterzudrücken, ohne dabei mit der anderen unsanft an Busters Zügeln zu ziehen.
Mir standen vor lauter Zorn Tränen in den Augen, sodass ich alles nur verschwommen sah, doch entschlossen drehte ich den Kopf und biss den Kerl wie ein tollwütiger Hund in den Arm, woraufhin er einen schmerzerfüllten Laut von sich gab – zeigt deutlich, dass ich mit wirklich aller Kraft meines Kiefers zubiss. Dann richtete ich mich richtig auf und ließ mich einfach auf der anderen Seite von Buster fallen. Ein Sturz mehr oder weniger würde mir nun auch nicht mehr schaden. Allerdings packte Damon mich gerade noch rechtzeitig am Oberarm, doch bei meinem Schwung konnte er mich nicht mehr halten und da er auch sturerweise nicht einfach losließ, wurde er aus dem Sattel gezogen und wir krachten beide aus vollem Galopp zu Boden.
Ich spürte noch eine weitere, offene Schramme an meiner Wade und meinem linken Unterarm und wusste, dass ich die Tage noch so einige blaue Flecken haben würde, doch im Augenblick war mir alles egal. Benommen von der zweiten, wesentlich härteren Bruchlandung richtete ich mich schwankend auf und wollte den Weg zurücklaufen, den wir gekommen waren, doch ich wurde am Handgelenk gepackt. Im nächsten Moment landete ich wieder auf dem Boden und als ich aufblickte, sah ich Damon über mich gebeugt. Mit seinen Armen und Beinen auf dem sandigen Weg abgestützt umrahmte er mich genau und erwiderte leicht keuchend meinen Blick.
„Reiß dich endlich zusammen!“, rief er aufgebracht, „Es würde gar nichts bringen, wenn wir jetzt zurückreiten! Die würden uns höchstens ebenfalls gefangen nehmen und du hast keine Ahnung, was passiert, wenn sie die Juwelen in die Hände bekommen! Wir werden deinen Bruder retten, aber erst, wenn wir bei der Akademie waren und Hilfe geholt haben. Bis dahin wird er alleine klarkommen müssen, aber er ist schließlich kein Kind mehr und wird das ja wohl-“
„DÄMON!“, schrie ich einfach hysterisch und jetzt, wo ich mich von der Überraschung erholt hatte, fing ich auch an mich mit Händen und Füßen wieder gegen ihn zu wehren, „Ich will zu meinem Bruder! Lass mich los! Ich muss ihm helfen! WEGEN MIR ist er erst schon verletzt worden und wenn sie ihm noch mehr antun…!“
Ich unterdrückte ein Schluchzen und konzentrierte mich ganz auf meine Wut, die wie glühende Magma in mir brodelte, während das Juwel in meiner Brust schon seit einigen Sekunden bedrohlich pochte. „Ich bring DICH um, wenn ihm was zustößt! Hörst du?! Also lass mich endlich los! Lass mich zu ihm!“
Nachdem ich ihn geschlagen und versucht hatte, ihn von mir runter zu kriegen, hatte er meine Handgelenke gepackt und drückte sie neben meinem Kopf auf den Boden. Meine Beine aber waren noch frei und auch wenn ich ihm das eigentlich nicht hatte antun wollen, ließ er mir keine andere Wahl, als ihm mein Knie kräftig zwischen die Beine zu rammen. Er gab einen erstickten Laut von sich und sank über mir zusammen. Ich wollte ihn sofort von mir runter schieben, doch er hielt meine Handgelenke immer noch fest im Griff und ich hörte ihn neben meinem Ohr mit den Zähnen knirschen, als er sich trotz der bestimmt wahnsinnigen Schmerzen wieder aufrichtete und mich auch weiterhin am Zurücklaufen hinderte.
Einen Moment lang sahen wir uns an und durch die Tränen hindurch sah ich seinen verbissenen Gesichtsausdruck, wie er den Schmerzen trotzte und nicht nachgab. Ich zollte ihm Respekt dafür, noch nie hatte ich einen Jungen gesehen, der das aushielt, ohne sich zu krümmen.
„Beruhige dich“, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und stöhnte leise, auch wenn er das scheinbar eigentlich hatte unterdrücken wollen.
Mich holte aber die Verzweiflung wieder ein und ich schrie: „Dir ist er vielleicht egal, aber mir nicht! Er ist mein Bruder! Ich habe Angst um ihn! Hör endlich auf, mich aufhalten zu wollen! Ich werde zu ihm gehen! Nimm doch dieses verdammte Buch und geh damit zurück zur Akademie und schick deine komischen Leute! Bis dahin helfe ich Muu und-!“
Das Juwel auf meiner Brust hatte angefangen warm zu werden und sogar durch die Abdeckcreme hindurch zu leuchten, wie ich an Damons dunklem Shirt sehen konnte. Der Junge hatte eindeutig die Zähne zusammengebissen und mich halb wütend und halb verzweifelt angesehen, während er fieberhaft nachdachte. Im nächsten Augenblick aber, als das Leuchten noch stärker wurde, beugte er sich völlig unvermittelt herunter und ehe ich überhaupt begriff, drückte er schon seine Lippen auf meine, um mir mit einem groben Kuss den Mund zu verschließen.
Komplett überrumpelt starrte ich ihn bestimmt zwei Sekunden lang einfach nur an, ehe ich entsetzt die Augen zukniff und verzweifelt versuchte, mich von ihm loszumachen. Er drückte mich jedoch mit seinem Körper zu Boden und seine Hände hielten meine Handgelenke immer noch wie eiserne Schaubstöcke fest und meine Beine konnte ich nicht ausreichend bewegen, um ihm erneut seine empfindlichste Stelle zu demolieren. Egal wie sehr ich mich sträubte und gegen ihn auflehnte, er presste mich unerbittlich auf den Grund. Mir liefen die Tränen über die Wangen und ich zitterte am ganzen Körper, doch er gab immer noch nicht nach.
Schließlich konnte ich nicht mehr. Ich hatte keine Kraft mehr übrig und lag einfach da flach auf den Boden gepresst unter Damon. Das Feuer meiner Wut war langsam verraucht und nun senkten sich Trauer und Verzweiflung wie ein schwerer Regenguss über mich.
In dem Moment löste sich Damon langsam wieder von mir und richtete sich so weit auf, dass er nicht mehr auf mir lag. Er atmete schwer und zu meiner Überraschung sah ich fast so etwas wie Mitgefühl und das schlechte Gewissen in seinen Augen, ehe der Ernst beide Gefühle wieder überbot.
„Dein Bruder ist kein Idiot, er wird es schon ohne große Verletzungen überleben“, sagte Damon eindringlich, „Und so wie ich ihn einschätze, ist es ihm tausendmal lieber, dass er selbst gefangen ist, als wenn sie dich bekommen hätten. Also bitte komm mit mir. Umso schneller wir bei der Akademie sind, umso schneller kann ich unsere Leute losschicken, um nach ihn zu suchen und ihn zu befreien.“
Buster, der nach unserem Abgang sofort gebremst hatte und inzwischen zu uns getrottet war, wieherte leise und sah mich mit seinen dunklen, wissenden Augen an.
Mittlerweile hatte ich angefangen zu schluchzen und versuchte verzweifelt, mir die Tränen aus den Augen zu wischen, doch es kamen immer wieder Neue und meine Sicht wollte sich einfach nicht klären. Ich konnte nur wimmernd nicken, um Damon zu zeigen, dass seine Worte zu mir durchgedrungen waren und ich verstanden hatte. Meinem Bruder konnte ich nicht helfen, obwohl es meine Schuld war, dass er in dieser Lage war.
Bei der Verzweiflung über diese Tatsache begann ich laut zu weinen. Heulend lag ich da, völlig zerschunden und verdreckt auf dem Boden, während Damon neben mir hockte und mich lediglich ansah. Er versuchte nicht mal, mich zu trösten oder mir gut zuzureden. Er und sein Hengst sahen mich einfach nur an, wie ich meine gesamte Verzweiflung über diese verdammte Lage hier herausschrie.
Mustafa
„Verflixt, jetzt sind sie doch glatt mit dem Buch entkommen“, stellte einer der Männer resigniert fest und klopfte seine staubige Hose ab, ehe er Mustafa ansah, „Sind ja sehr nett, dich einfach hier zurückzulassen.“
Mustafa sagte kein Wort, sondern starrte die Leute um sich misstrauisch an. Die meisten hielten noch Schwerter oder Dolche in der Hand und sahen auf ihn herab, der im Schneidersitz auf dem Boden saß und das Versprechen hatte, augenblicklich aufgeschlitzt zu werden, sollte er irgendetwas Dummes versuchen. Er war bloß froh, dass seine Schwester nicht in seiner Haut steckte. Dieser verfluchte Damon würde sie zusammen mit dem Buch und den Juwelen zu seiner geliebten Akademie bringen und dort wäre sie in Sicherheit.
Hoffentlich machte Nell sich nur keinen allzu großen Kopf um ihn selbst, Mustafa hatte sich bereits vorgenommen, bei nächster Gelegenheit zu verschwinden. Vielleicht würde er eine ganze Weile warten müssen, aber im Gegensatz zu seinem Schwesterchen besaß er Geduld und konnte warten. Bis dahin würde er so gut es ging mitspielen und diese Leute nicht gegen sich aufhetzen.
„Meine Güte“, stöhnte ein anderer Mann mit schwarzen Haaren, die eine starke Natur zu haben schienen und sich um sein von mehreren Narben gezeichnetes Gesicht lockten. Mustafa schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig und irgendetwas an ihm kam ihn anders vor. Er hatte eine gewisse Ausstrahlung, die Mustafa nicht zu beschreiben wusste, aber dieser Mann kam ihm wie der Anführer dieser Truppe vor. „Bist du eigentlich ein Junge oder ein Mädchen, Kind? Du und der mit dem Sonnenstein seht euch ja verflixt ähnlich, seid ihr Zwillinge oder was?“
Mustafa konnte nicht verhindern, dass eine seiner Augenbrauen nach oben wanderten. Jetzt wo Damon und seine Schwester weg waren und das Kampfgewusel sich gelegt hatte, wirkten die Leute trotz ihrer Waffen gar nicht mehr so gefährlich. „Junge“, antwortete er knapp, „Und ja.“
„Sehr schlau von euch, das Juwel zu überdecken“, stellte eine Frau mit langen, blonden Locken fest und hielt ihm ihr Schwert, das oben am Griff von einem grünen Edelstein geziert wurde, der Mustafa plötzlich an die Juwelen in dem Buch erinnerte, direkt vor die Stirn, „So haben wir prompt den falschen von euch geschnappt. Vielleicht sollten wir dir eine Lektion verpassen, dass wir keineswegs nur eine harmlose kleine Gruppe sind, die gegen die Akademie rebelliert. Wir…“
„Gegen die Akademie rebelliert?“, rutschte es Mustafa heraus, bevor er seinen Mund daran hindern konnte. Nun war es aber sowieso zu spät. Außerdem brauchte er Zeit, um herauszufinden, ob das in seiner linken Hand einfach nur ein glatter Stein oder tatsächlich eines der Juwelen aus dem Buch war, den er plötzlich in der Hand gehabt hatte, als er das Buch seiner Schwester zugeworfen hatte. „Was ist diese Akademie eigentlich und inwiefern rebelliert ihr gegen sie? Was genau sind diese Juwelen, um die sich hier alles zu drehen scheint?“
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen und die Männer und Frauen um ihn wirkten teils überrascht und teils misstrauisch. Sie überlegten eindeutig, ob er wirklich keine Ahnung hatte oder ihnen nur etwas vorspielte. Ihm selbst wäre es lieber gewesen, er wüsste alles und müsste von seinen Schauspielkünsten Gebrauch machen, doch so war es leider nicht. Er hatte keine Ahnung und wenn er Nell helfen wollte, musste er herausfinden, was hier los war. Und wenn er die Antworten von diesen Leuten bekommen konnte, wollte er es versuchen.
„Du hast also ernsthaft keine Ahnung, was genau hier passiert?“ Der Mann, den Mustafa für den Anführer hielt, trat ein Stück vor und warf der Frau einen kurzen Blick zu, woraufhin sie ihr Schwert sinken ließ. Dann sah er wieder den Jungen auf dem Boden an und ging schließlich in die Hocke, um mit ihm direkt auf einer Höhe zu sein. „Na schön, Bursche. Da ich nicht das Gefühl habe, dass du uns etwas vormachst, machen wir einen Deal. Wir erzählen dir, was hier vor sich geht, und du berichtest aus deiner Sicht, was da bei euch genau passiert ist und unser Späher von draußen nicht sehen und hören konnte. Danach entscheiden wir, was wir mit dir machen werden. In Ordnung?“
Mustafa sah ihn einige Sekunden lang misstrauisch an, aber auch ihm kam es nicht so vor, als würde sein Gegenüber nur mit ihm spielen. Der Mann hatte auch keine falschen Versprechungen gemacht, wie dass sie Mustafa auf jeden Fall freilassen würden, wenn sie sich über sein Unwissen und seine Absichten sicher waren, was sein Vertrauen in die Worte des Anführers ein wenig ansteigen ließ.
„In Ordnung“, sagte Mustafa ernst, „Aber ich will alles wissen. Auch, was mit meiner Schwester jetzt passieren wird. Im Gegenzug erzähle ich euch detailgenau, was auf dem Dachboden bei uns zu Hause geschehen ist.“
Der Mann lächelte und hielt ihm die Hand hin. „Abgemacht. Mein Name ist Lorren Cameron, Anführer der Rebellen gegen die Knight Academy. Und du bist?“
„Mustafa.“ Er schlug ein. „Mustafa Phantom.“